Olena Selenska: Die Frau, die dem Krieg ein Gesicht gibt

Die First Lady der Ukraine zeigt via Social Media täglich die grausame Realität des Krieges, der in ihrer Heimat tobt. Dabei wurde Olena Selenska zur unverzichtbaren Mitstreiterin ihres Mannes. Was sie fordert, lesen täglich 2,7 Millionen ihrer Follower. Und es werden täglich mehr

von Olena Selenska © Bild: imago images/Ukrinform

Steckbrief Olena Selenska

  • Name: Olena Wolodymyriwna Selenska
  • Geboren: am 6. Februar 1978 in Krywyj Rih, Ukrainische SSR, Sowjetunion
  • Werdegang: Studium Bauingenieurwesen, später Drehbuchschreiberin, seit 2019 First Lady der Ukraine
  • Familienstand: seit 2003 verheiratet mit Wolodymyr Selenskyj
  • Kinder: Oleksandra (*2004) und Kyrylo (*2013)

Wo die First Lady der Ukraine sich dieser Tage aufhält, ist ein streng gehütetes Geheimnis. Aus gutem Grund. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor vier Wochen gilt sie als Ziel Nummer zwei - hinter ihrem Mann -, das die Invasoren dringlichst auszulöschen vorhaben. Nicht nur, weil sie ihre Rolle als Präsidentengattin zur Zielscheibe der Angreifer macht. Olena Selenska ist weit über diese Position hinaus zur lauten, relevanten Stimme des Widerstands geworden.

Schon an dem Tag, an dem russische Truppen die Grenze ihres Landes überschritten, folgte Selenska der aufsehenerregenden Videobotschaft ihres Mannes und stellte klar, dass dieses Präsidentenpaar nicht flüchten würde, kein Asyl im sicheren Ausland aufsuchen würde. Die Selenskyjs bleiben, um zu kämpfen.

"Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit", soll der Präsident auf ein Asylangebot der USA geantwortet haben, wie die ukrainische Botschaft in London auf dem Nachrichtendienst Twitter schrieb. Olena Selenska steht ihrem Mann in Sachen prägnante Botschaften auf ihrem Instagram-Kanal um nichts nach.

Ein Insta-Account für Solidarität

Schon ihre erste Botschaft am Tag der Invasion gab den Weg vor, der vom Glauben an den Sieg der Solidarität und der Unnachgiebigkeit erzählt. "Die vielen Ukrainer sind eine Armee", ruft sie zum Widerstand auf und schwört ihre Landsleute auf Solidarität und Ruhebewahren ein: "Heute werde ich keine Panik und keine Tränen haben. Ich werde ruhig und zuversichtlich sein. Meine Kinder schauen mich an. Ich werde neben ihnen sein. Und neben meinem Mann. Und mit unserem Land."

Was sie seitdem auf ihrem Instagram- Kanal postet, lässt niemanden kalt. Regelmäßig sehen über 2,7 Millionen Follower im In-und Ausland zu, und es werden täglich mehr. Die 44-jährige blonde Frau gibt dem Kriegsleid dort auf historisch einzigartige Weise ein Gesicht.

Sie zeigt das Mädchen, das zusehen musste, wie sein Vater erschossen wurde. Da es verletzt wurde, musste ihm danach unter widrigsten Umständen der Arm amputiert werden, um sein Leben zu retten. Sie bildet auch das Mädchen ab, das zwar seine blonden Locken bei der Chemotherapie verlor, aber den Krebs fast besiegt hatte, als der Krieg begann und ihre Chance auf Heilung störte. Und viele unerträgliche grausame Geschichten mehr.

Die grausame Wahrheit bebildern

Eindringlich erinnert Selenska an die über hundert seit Kriegsbeginn getöteten Kinder. Die, die an Militärposten mit ihren Eltern erschossen oder auf der Flucht von Granatsplittern getötet wurden. Die, die unter den Trümmern ihrer Häuser begraben liegen. Sie zeigt die Massengräber, die mitten im 21. Jahrhundert in Europa aufgrund kriegerischer Handlungen nötig wurden. Und sie wird nicht müde, die Geschichten der sinnlos Getöteten zu erzählen. Vom Fernsehmoderator, der starb, als er Leute aus Irpin retten wollte. Vom Tierschutzaktivisten, der nicht überlebte, als er sein Hundeasyl schützen wollte. Von der jungen Frau, zu der kein Kontakt besteht, seit sie nach Bucha aufbrach, um Hilfsmittel hinzubringen. Es sind Geschichten von unfassbarem Leid, doch Selenska jammert nicht. Sie konfrontiert die Welt mit der Realität der Ukraine und ruft die Landsleute auf: "Ich bitte euch: Bleibt am Leben!" Nie wird irgendjemand behaupten können, er hätte nicht im Detail gewusst, was das ukrainische Volk gerade durchmacht.

Botschaft von Doris Schmidauer

Die First Ladies vieler Staaten verneigten sich in den letzten Wochen mit Solidaritätsbotschaften in Videoform vor dem Mut und der Stärke ihrer Kollegin. Selenska teilt die Videos auf ihrem Insta-Kanal, um den Landsleuten zu zeigen, dass die Welt zusieht, um Mut zu machen.

Emine Erdoğan aus der Türkei zählt dazu, Diana Nausėdienė aus Litauen, Andra Levite aus Lettland, Albaniens First Lady Linda Rama, Polens Agata Kornhauser-Duda, Israels Michal Herzog und seit drei Tagen auch Österreichs Doris Schmidauer. "Wir bewundern ihre Standhaftigkeit im Kampf für Werte, die uns allen wichtig sind: Freiheit, Demokratie und Frieden. Wir haben alle denselben Wunsch: Dieser Krieg muss stoppen. Wir sind bei euch", so Österreichs First Lady Schmidauer.

Die Filzmaier-Analyse

Die öffentlichen Botschaften zeigen, dass Selenska die Ziele ihres Social-Media-Kanals höchst professionell und erfolgreich verfolgt. Dabei seien es zwei Ebenen, die es zu unterscheiden gelte, wie Politikwissenschaftler Peter Filzmaier erklärt. "Das ist die externe Kommunikation mit der möglichst ganzen Welt zum einen, das Zweite ist die interne Wirkung ihrer Kommunikation in der Ukraine", so Filzmaier. Das Ziel der externen Kommunikation beschreibt er klar als das Schaffen von Bewusstsein und Solidarität in der Weltöffentlichkeit für die Not und die Kriegsopfer in ihrem Land. "Sie kann das durch Kanäle tun, die ihrem Mann und der klassischen Politik nicht offenstehen. Eine Präsenz in Nachrichtensendungen wäre keine sinnvolle Ergänzung, denn dort ist ohnehin ihr Mann omnipräsent", so Filzmaier. "Sie kommt dagegen in chronikale, gesellschaftliche Berichtserstattung, wo ukrainische Politiker kaum präsent sind, und erreicht damit für die Bewusstseinsbildung neue Zielgruppen - nicht diejenigen, die sowieso jede Nachrichtensendung verfolgen." Gleichzeitig baue die First Lady die Kommunikationszeit aus, die jedem nur begrenzt zur Verfügung steht, sagt der Politikwissenschaftler. "Ihr Mann verbraucht viel von dieser Zeit für die aktuelle militärische Lage. Das muss auch so sein. Sie hat die Möglichkeit, noch mehr Zeit für die Einzelschicksale von Menschen zu generieren. Ihr Mann muss die klassischen Medien bedienen, sie kann auch Magazine bedienen."

»Sie erreicht mit ihrer Bewusstseinsbildung neue Zielgruppen - nicht diejenigen, die sowieso jede Nachrichtensendung verfolgen«

Peter Filzmaier analysiert den Stellenwert von Selenskas Insta-Kanal

Sie ist "eine von euch"

Eine Gratwanderung sei es, die Selenska laut dem Strategieanalysten in der internen Kommunikation schafft. Hier ortet er eine Image-Nachjustierung, die zu gelingen scheint. Trotz Präsenz in Luxusgazetten wie der "Vogue" vor dem Krieg ist Selenska nun im Narrativ glaubwürdig, dass sie trotz Leibwächtern - die sie hoffentlich hat - eine aus dem Volk ist, "eine von euch". Das schafft ein bemerkenswertes Band der Solidarität im Land. "Jeder müsste Verständnis haben, wenn sie mit den Kindern geflohen wäre wie Millionen andere. Aber natürlich sind ihre Botschaften stärker, wenn sie nicht aus einem Luxusapartment im Exil kommen", so Filzmaier. "Diesen von Russland völlig unterschätzten Zusammenhalt im Volk könnte eine Exilregierung nie aufrechterhalten. Da ist die First Lady als Ergänzung wichtig, weil sie andere Gruppen erreicht. Sie schafft es, strategische Überlegungen mit authentischen, von Gefühlen getragenen Botschaften in Verbindung zu bringen. Das ist auch wichtig", erklärt er und verweist darüber hinaus auf die hohe Glaubwürdigkeit, die die 44-Jährige schon aufgrund ihres Alters in der Social-Media-affinen Bevölkerung habe.

Und alles kam anders

Als Architektin sah die heranwachsende Olena Selenska - der Vorname ist die ukrainische Form von Helena und bedeutet "die Strahlende" - ihre Zukunft. Sie studierte Bauingenieurwesen an der Nationalen Universität Krywyj Rih in ihrer Geburtsstadt, als sie sich 1995 in ihren späteren Ehemann verliebte. Es sollte anders kommen. Wolodymyr Selenskyj war damals ein mäßig bekannter Kabarettist, der mit seiner Gruppe Auftritte im ganzen Land absolvierte. Die First Lady entdeckte ihre Liebe zum Drehbuchschreiben und arbeitete fortan auch für ihren Freund, der nach acht Jahren Beziehung 2003 ihr Mann wurde.

»Ich bin nicht der Mittelpunkt der Party. Ich erzähle nicht gerne Witze. Das liegt nicht in einem Naturell«

Olena Selenska erzählt der "Vogue" von Vorbehalten gegenüber dem Job der First Lady

Gemeinsam war man in seiner Produktionsfirma Quarter 95 tätig, mit der er die Fernsehserie "Diener des Volkes" umsetzte, die ihn später berühmt machen sollte - und völlig unerwartet zum Staatsoberhaupt wachsen ließ. Als Selenskyj im Fernsehsender 1+1 seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gab, war seine Frau nicht glücklich. "Ich bin nicht der Mittelpunkt der Party, ich erzähle nicht gerne Witze. Das liegt nicht in meinem Naturell", sagte sie der ukrainischen "Vogue". "Aber ich habe für mich selbst Gründe gefunden, die für die Öffentlichkeitsarbeit sprechen. Einer davon ist die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Menschen auf wichtige soziale Themen zu lenken."

Engagement als First Lady

Sie weiß, dass sich die Türen von Beamten nicht vor der First Lady verschließen, und engagierte sich gegen häusliche Gewalt und für gesundes Essen an Schulen. Beim G7-Gipfel 2019 veranlasste sie laut " Washington Post" den Eintritt der Ukraine in die Partnerschaft von Biarritz zur Gleichstellung der Geschlechter. Olena Selenska weiß, dass man ihr anders zuhört als anderen. Der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Ioan Sauca, kann nicht weghören, wenn sie ihn vor den Vorhang zitiert und auffordert, als Organisator von Fluchtkorridoren aktiv zu werden. Zuletzt machte ihr offener Brief Schlagzeilen, den sie vor wenigen Tagen als Antwort auf Hunderte Interview-Anfragen geschrieben hat. Die Ukraine wolle Frieden, betont sie. Aber: "Die Ukraine wird ihre Grenzen und ihre Identität schützen und wird nie kapitulieren", so die First Lady ganz klar. Und weiter: "Die Ukraine stoppt eine Macht, die schon morgen unter dem Vorwand, Zivilisten zu retten, auf aggressivste Weise auch in Ihre Städte eindringen kann. Wenn wir Putin nicht aufhalten (...), wird es auf der Welt überhaupt keinen sicheren Ort mehr geben."

Olena Selenska
© imago images/Ukrinform

Anfang der Woche wurden die Social-Media-Plattformen Facebook und Instagram in Russland als "extremistisch" verboten. Mag der Überbringer der Botschaften schweigen. Deren Quelle bleibt stark.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 12/2022 erschienen.