Novak Djokovic: Ein Tennisheld im Minenfeld

Der Covid-Skandal um Tennisstar Novak Djokovic lenkt die Aufmerksamkeit plötzlich auch auf dessen serbisches Binnenmilieu: Dort nämlich hat er nun einen ähnlichen Märtyrerstatus wie sonst nur verurteilte Kriegsverbrecher.

von Novak Djokovic © Bild: Getty/Vladimir Zivojinovic

Die Fingerspitzen seiner flachen Hand berühren salutierend die Schläfe, seine starren Gesichtszüge signalisieren Entschlossenheit bis zum Äußersten: Plötzlich, in einer Julinacht des Vorjahres, ist in der Njegoševa 38 im Herzen Belgrads ein Stück völlig unreflektierter Zeitgeschichte aufgepoppt. Ein überdimensionales Graffito des verurteilten Kriegsverbrechers Ratko Mladić -des Mannes, der im bosnischen Srebrenica mehr als 7.000 Männer und Burschen in den Tod schickte -prangt da seither als Blickfang an einer Hauswand, daneben der Schriftzug "General, deiner Mutter sei Dank" und im Hintergrund ein Wappen des Fußballklubs Partizan Belgrad.

Doch es sind nicht nur dessen Hooligans, die das überdimensionale Konterfei in der serbischen Kapitale Tag und Nacht bewachen; es ist nicht nur die Belgrader Geheimpolizei, die eine neutrale Übermalung seit Monaten trickreich blockiert; es ist, das gilt in Belgrader Politkreisen als offenes Geheimnis, vor allem der amtierende serbische Präsident Aleksandar Vučić selbst, der seine schützende Hand über das Denkmal der Schande hält. In den Neunzigerjahren, als Reporter des Propagandakanals "Channel S", spielte er noch mit seinem väterlichen Vorbild Mladić Schach. Heute kämpft er, der im Westen gerne den überzeugten Proeuropäer gibt, Seite an Seite mit einem anderen Nationalhelden öffentlichkeitswirksam für seine großserbische Sache: Novak Djokovic.

Der Aufschlag des Patrioten

Immer wieder habe er in den vergangenen Tagen, als Djokovic in Australien auf den Prozess rund um seine spätere Ausweisung wartete, mit dem Tennisstar telefoniert, lässt Vučić sein Volk per Instagram wissen. Und auch die Inhalte dieser Gespräche rapportiert das Oberhaupt des wehrhaften Westbalkanlandes mit seinen knapp sieben Millionen Einwohnern pflichtschuldig: "Ich habe unserem Novak gesagt, dass ganz Serbien bei ihm ist und dass unsere Behörden alle Maßnahmen ergreifen, um die Belästigung des besten Tennisspielers der Welt aufzuhalten", hyperventiliert der Staatschef. "Serbien wird für Novak Djokovic kämpfen, für Gerechtigkeit und Wahrheit." Aber kämpfen? Es geht doch "nur" um Tennis, möchte man meinen. Doch was Vučić hier aufs Neue trainiert, ist der Aufschlag des Patrioten.

Die "Schikanen" gegen den "größten Tennisspieler aller Zeiten" - so bezeichnet das von einem engen Vučić-Freund geführte Boulevardblatt "Informer" diesen serbischen Helden einer neuen Zeit -hätten längst "beispiellose Ausmaße" angenommen, die internationalen Medien eine "Lynchstimmung" erzeugt und eine "Hexenjagd" abgehalten, ereifert sich Vučić.

"An Nowak wollte man ein Exempel statuieren, wie die Weltordnung funktioniert", smasht der Präsident volley Richtung westliche Staatengemeinschaft -um so "einen Angriff auf das serbische Volk" zunächst einmal notdürftig abzuwehren.

Eigentlich will der bei Bedarf durchaus weltläufig wirkende, in England zum Kaufmann ausgebildete Jurist Vučić sein ausgeblutetes Land ja in die EU führen. Doch in den Tagen einer neuen großen Weltverschwörung gegen das kleine Serbien hat die Diplomatie zwangsläufig Pause. Selbst Djokovics Vater Srdjan, der seinen Erstgeborenen bei Pressekonferenzen und Demoaufmärschen alternierend als neuen "Jesus", neuen "Spartacus" oder neuen "Führer und Symbol einer freien Welt" bezeichnet, lässt Vučić milde gewähren. Nicht, ohne den Clan des eigenwilligen Tennisstars auch für alle Zukunft seiner vollen Unterstützung zu versichern.

Spielball für den Nationalismus

Serbien ist Djokovic, und Djokovic ist Serbien, und westliche Beobachter können sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dem 34-jährigen Belgrader Sportler plötzlich mehr als nur gelbe Filzkugeln um die Ohren fliegen. Zu einem Spielball für einen ziemlich abgeschmackten Nationalismus ist der kantige Riese geworden. Dabei, das weiß jeder Spitzensportler, sind politische Einlassungen ganz grundsätzlich Gift für die Selbstvermarktung, kaum ein anderer Athlet seiner Preisklasse äußert sich daher gerne weltanschaulich. Doch einen wie Novak Djokovic scheint das nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil.

"Novak ist ein Nationalist, natürlich, und das bin ich auch", stellte Vater Srdjan bereits vor knapp zwei Jahren klar. Das sei, so der Vater im Namen des Sohnes, doch eigentlich keine große Sache. "Wir lieben eben unser Land und unser Volk." Nur interessierte diese Liebe damals außerhalb der serbischen Binnenwelt noch kaum jemanden. Doch nun, da der Fall Djokovic zum internationalen Politikum wurde, fällt der Lichtkegel der Aufmerksamkeit plötzlich auch auf das illustre Novak-Netzwerk.

Aber woher rührt diese politische Fraternisierung mit Djokovic ursprünglich? Und worin besteht ihr eigentliches Fundament? Weshalb, fragt man sich im Westen, hypt ein Staatschef einen seiner Staatsbürger, der ungeimpft nach Australien einreisen wollte, dabei über eine dubiose Sondergenehmigung stolperte und zu allem Überfluss seiner Umwelt tagelang seinen positiven Covid-Status vorenthielt, nun zu einer Art Märtyrer?

Allzweckwaffe Amselfeld

Weil der serbische Opfermythos, die Mär vom aufopferungsvoll kämpfenden Herrenvolk des Balkans, bereits in den jugoslawischen Zerfallskriegen in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre und im Kosovo-Krieg in deren zweiter Hälfte perfekt funktionierte und seither als innenpolitische Allzweckwaffe dient. Der Kärntner Diplomat Valentin Inzko, noch bis zum Vorjahr Hoher Repräsentant von Bosnien und Herzegowina und somit ranghöchster EU-Aufpasser in der kriegsgebeutelten Region, sagt: "Dieser Mythos wird von der Politik ganz gezielt kultiviert und geschürt." Und Djokovic schürt da gerne mit.

Vor gut 600 Jahren waren es in der Schlacht auf dem Amselfeld, dem heutigen Kosovo, die christlichen Serben, die sich den hereinbrechenden Osmanen tapfer entgegenstemmten -und blutig verloren, weil aus dem Westen keiner zur Hilfe kam. Heute ist es der beherzte Djokovic, Sohn eines serbischen Kosovaren und neues Idol der internationalen Impfgegnerschaft, der sich zur Rettung der Heimatehre mit einer feindlichen Übermacht matcht.

Erster Satz, erstes Game, Aufschlag Novak Djokovic: "Wir sind bereit, das zu verteidigen, was rechtmäßig uns gehört: Kosovo ist Serbien", proklamiert der Star bereits im Jahr 2008, als das Kosovo seine Unabhängigkeit erklärte, in einem Video.

Und so kommt, was kommen musste: In Wimbledon, unmittelbar vor einem wichtigen Spiel, seien ihr Sohn Novak und die gesamte Familie von Scotland Yard in der Unterkunft festgehalten worden, erzählt Mutter Dijana. Der Grund: Angeblich, das wisse sie von einer Nachbarin, seien albanische Gruppierungen, "wahrscheinlich Drogenabhängige", auf den Plan getreten. "Sie wollten meine Hunde entführen und für sie Lösegeld fordern", sagt Dijana Djokovic. Die Vierbeiner blieben zwar unversehrt, doch die Konzentration des Sohnes litt. So sehr, dass er letztendlich sein Match verlor.

Doch so was kann einen echten Kämpfer nicht erschüttern. 2011 auf seine Äußerungen von vor drei Jahren angesprochen, erklärt Novak Djokovic trotzig gegenüber dem "Spiegel":"Ich bedaure nicht, was ich sagte. Wir wollen Gerechtigkeit, aber wir bekommen sie einfach nicht." Das Kosovo, so der 20-fache Grand-Slam-Sieger, sei "die ursprüngliche Heimat meiner Familie und die Wiege der gesamten serbischen Kultur".

Wiegenlied und Kampfhymne

Und kein Geringerer als Novak Djokovic singt ihr Wiegenlied: Als er mit dem serbischen Tennisnationalteam im Jahr 2020 den ATP-Cup holt, stimmen die Sieger nicht etwa "We Are the Champions" an, wie das in Stadionkatakomben nach glorreichen Siegen üblich ist -nein, in diesem Fall setzt das Testosteron ganz spezielle Töne frei: nämlich "Vidovdan", ein ehemaliges Volkslied, das in den jugoslawischen Sezessionskriegen zu einer Art Kampfhymne der berüchtigten serbischen Paramilitärs wurde: "Wie eine ewige Flamme, die in unseren Herzen brennt, bleibt die Schlacht ums Amselfeld wahrhaftig "

So leichtfüßig Novak Djokovic über die Tenniscourts dieser Welt tänzelt, so dumpf taumelt er durchs Minenfeld der Vergangenheit. "Es scheint, als habe er zwei Gesichter", sagt Herwig Straka, Österreichs profiliertester Turnierorganisator und Ex-Manager von Dominic Thiem. "Wenn er sich im Tenniszirkus bewegt, ist er komplett normal, spricht fließend mehrere Sprachen und ist überaus freundlich." Und dennoch erscheint es Straka, als gelinge es Djokovic immer wieder, gerade "aus seinem Leid Kraft zu schöpfen".

Saša Ozmo, serbischer TV-Journalist und langjähriger Wegbegleiter des Nationalhelden, sagt: "Er hat Nato-Bombardierungen erlebt, schlief im Luftschutzkeller und roch in den Nächten den Geruch des Blutes. Seine Herkunft, der Krieg, die Armut in Serbien haben ihn stark gemacht."

Unterdrückter Underdog

Auf dem Platz ist Djokovic stets der Außenseiter, der Buhmann. Weil er mehr als andere zu cholerischen Ausbrüchen neigt - könnte man meinen. Doch selbst sein Ex-Trainer Boris Becker bedient das Narrativ vom rassisch unterdrückten Underdog: "Die Tenniswelt ist seit 20 Jahren in Fans von Federer und Nadal geteilt -da kommt ein Serbe und ruiniert die Party. Er kommt nicht aus der neutralen Schweiz, nicht aus dem populären Spanien, er kommt aus einem Bürgerkriegsland namens Serbien. Das sind alles keine optimalen Vorzeichen", sagt Becker. Obwohl das durchaus auch Aleksandar Vučić gesagt haben könnte.

Und so hat auch Milorad Dodik, ultranationalistischer Führer der bosnischen Serben und hartnäckiger Völkermordleugner, längst ein Auge auf den großen Sohn aus dem Kernland geworfen: Zu seiner Hochzeit hat er ihn eingeladen und mit dem höchsten Orden seines Landesteils dekoriert. Eine Auszeichnung, die zuvor nur ausgewählten Figuren der serbischen Geschichte zuteilwurde: Radovan Karadžić, verurteilter Kriegsverbrecher, verantwortlich für die Belagerung Sarajevos. Und Ratko Mladić, verurteilter Kriegsverbrecher, verantwortlich für das Massaker von Srebrenica. Der Mann, dessen Graffito seit dem Sommer des Vorjahres die Altstadt von Belgrad ziert: Es ist ein übergroßes Symbolbild -auch für die Parallelwelt des Weltstars Novak Djokovic.

Diese Geschichte erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 03/2022.