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Isabel Allende: "Der Kampf gegen das Patriarchat ist noch nicht vorbei!"

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Isabel Allende: "Der Kampf gegen das Patriarchat ist noch nicht vorbei!"
©Bild: imago images/Agencia EFE
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Zum 80. Geburtstag der Weltschriftstellerin Isabel Allende, die sich nicht nur mit dem Roman "Das Geisterhaus" in die Geschichte eingeschrieben hat: ein Gespräch über ihre jüngste Neuerscheinung "Violeta" und ein Leben im Ringen um Gleichberechtigung

Violeta ist ein verwöhntes Kind. Sie weigert sich, mit Besteck zu essen, und tyrannisiert die Familie mit ungestümen Ausbrüchen. Bis Miss Taylor, eine Erzieherin aus Europa, kommt. Von der Pandemie, die in den ersten Jahren ihrer Kindheit die Welt in Schach hält, bekommt Violeta nur wenig mit. Aber die Folgen! Der Vater kann in der Wirtschaftskrise den Wohlstand der Familie nicht aufrechterhalten und nimmt sich das Leben. Violeta lernt früh, worauf es im Leben ankommt. Sie ist die Ich-Erzählerin von Isabel Allendes aktuellem Roman "Violeta", der in diesen Tagen bei Suhrkamp erschienen ist. Das fulminante Porträt einer Frau, die sich ihre Selbstbestimmung in einer von Männern dominierten Welt erringt.

Am 2. August wurde Isabel Allende 80 Jahre alt. Ihr Romandebüt "Das Geisterhaus" machte die gebürtige Chilenin berühmt, 25 Romane und kolportierte 75 Millionen verkaufte Exemplare folgten.

Fernmündliche Interviews lehnt der Verlag in ihrem Namen ab, man einigt sich auf die Kommunikation per E-Mail.

Frau Allende, Ihr Roman "Violeta" ist ein Brief, den die Titelheldin an ihren Enkel schreibt. Ihr Romandebüt "Das Geisterhaus" haben Sie auch als Brief konzipiert. Der Adressat war Ihr Großvater. Ist das als eine Art Verbindung zu Ihren Anfängen als Schriftstellerin zu sehen?
Das hatte ich so nicht geplant. Ich war mir zunächst nicht einmal bewusst, dass die Struktur von "Violeta" jene meines ersten Romans widerspiegelt, aber darauf haben mich dann einige Leute hingewiesen. Aber es gibt andere Verbindungen, etwa den Namen del Valle und eine Tante, die bei einem Autounfall geköpft wurde, und ein seltsames Kind mit hellseherischen Qualitäten.

Das Leben Ihrer Ich-Erzählerin findet zwischen zwei Pandemien statt. Als Violeta am 8. Jänner 1920 geboren wird, bricht die Spanische Grippe aus. Im September 2020 beendet sie ihre Lebensgeschichte. Hat Sie das Coronavirus dazu inspiriert?
Ich beginne alle meine Bücher an einem 8. Jänner, und " Violeta" war keine Ausnahme. Sie wird 1920 geboren, als die Spanische Grippe, die schon 1918 in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs ausgebrochen ist, Südamerika erreicht. Ich hatte schon ein paar Kapitel geschrieben, als Corona im März 2020 zuschlug. So gesehen war es nur natürlich, den Roman mit einer Pandemie zu beginnen und zu beenden.

Darf man annehmen, dass Sie vom Virus verschont geblieben sind?
Ja, ich blieb während dieser langen Plage gesund. Auch mein Mann und der Großteil meiner Familie.

Violeta, die bald hundertjährige Ich-Erzählerin Ihres Romans, beschreibt, wie man auch im vorgerückten Alter jung und stark bleiben kann. Könnte man sie als Ihr Alter Ego sehen?
Ich bin eine glückliche betagte Person, denn ich erfreue mich guter Gesundheit, Liebe, Gemeinschaft, verfüge über die notwendigen Ressourcen und Zielstrebigkeit. Das Schreiben und meine Stiftung lassen mich aktiv bleiben und fordern mich auch intellektuell. Es fiel mir daher leicht, mir vorzustellen, dass Violeta auch das Alter genießt.

Ihre Stiftung Isabel Allende gründeten Sie als Hommage an ihre Tochter Paula, die mit 29 Jahren einer seltenen Krankheit erlegen ist. Was bedeutet Ihnen diese Stiftung heute?
Damit kann ich der Gesellschaft etwas zurückgeben, indem ich für bedürftige Frauen und Mädchen sorge. Schauen Sie doch einmal auf www.isabelallende.org nach. Ich führe ein einfaches Privatleben. Ich habe alles, was ich brauche. Der Rest meines Einkommens geht an jene, die weniger Glück haben.

Am 2. August ist Ihr 80. Geburtstag. Was bedeutet Ihnen dieses Datum?
Nichts Besonderes. Das ist doch nur eine Zahl. Aber ich setze das Datum als Ausrede ein, dass ich viele Dinge, zu denen ich mich früher verpflichtet gefühlt habe, auslassen kann, wie Dienstreisen, öffentliche Veranstaltungen, Bücher signieren.

80? Das ist doch nur eine Zahl und Ausrede, vieles nicht zu tun, zu dem ich mich früher verpflichtet fühlte

Violeta ist eine der starken Frauen in Ihrem Roman, die für ihre Unabhängigkeit kämpfen. Noch vor einigen Wochen konnte man diese Geschichten wie etwas aus einer längst vergangenen Zeit lesen. Aber das ist offensichtlich auch schon wieder Vergangenheit, denn in den USA gibt es seit Anfang Juli nicht mehr das Recht auf Abtreibung. Muss man nicht ernste Bedenken haben, dass die nächsten Generationen von Frauen den Kampf für ein selbstbestimmtes Leben erneut führen müssen?
Ich halte den Feminismus für die wichtigste Revolution aller Zeiten, denn er betrifft die halbe Menschheit. Jetzt werden wir Zeuge einer Gegenreaktion, aber das hat es auch schon früher gegeben. Und dann erkennt eine neue Generation von jungen Frauen, dass der Kampf noch nicht vorbei ist und sie den Job ihrer Mütter und Großmütter fortsetzen müssen. Das ist jetzt ein sehr schlechter Moment für den Feminismus. Aber der Kampf gegen das Patriarchat ist noch nicht vorbei. Wir haben noch viel zu tun!

Kann Ihre Stiftung auch Frauen in den USA unterstützen, die vom Abtreibungsverbot betroffen sind? Etwa jene, die es sich nicht leisten können, den Eingriff in einem anderen Bundesstaat durchführen zu lassen?
Meine Stiftung arbeitet mit Organisationen, die Frauen in den republikanischen Staaten, wo Abtreibung verboten ist, unterstützen. Wir stellen Mittel zur Verfügung, dass diese Frauen in andere Staaten reisen können, Unterkünfte in Hotels und Betreuung der Kinder inklusive, die sie sonst unbeaufsichtigt zu Hause zurücklassen hätten müssen. Auch Abtreibungspillen und Verhütungsmittel. Wir arbeiten mit Rechtsanwälten zusammen, um dieses tragische Urteil des Obersten Gerichtshofs rückgängig zu machen.

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"Das Geisterhaus": ein Jahrhundertroman auf der Leinwand. Bernd Eichinger verfilmte den Welterfolg mit Jeremy Irons und Meryl Streep © imago images/United Archives

In Europa haben wir ein anderes Problem. Hier sind wir immer mehr mit patriarchalen Gesellschaften aus muslimischen Ländern konfrontiert. Ausgerechnet die Linke, die sich immer für Frauenrechte eingesetzt hat, toleriert dieses Patriarchat. Was kann man da tun?
Es gibt die Hoffnung, dass sich Migranten aus jenen Kulturkreisen, in denen Frauen unterdrückt werden, an die Gepflogenheiten und die Gesetze des Gastlandes anpassen. Sie müssen in die Gesellschaft integriert werden und dürfen nicht an den Rand gedrängt werden. Die Linke ist traditionell immer freundlicher zu Flüchtlingen und Einwanderern, aber das heißt nicht, dass der Missbrauch von Frauen toleriert werden darf.

In Ihrem Roman geben Sie einige Beispiele von häuslicher Gewalt. Violeta akzeptiert zunächst, dass sie von ihrem Partner geschlagen wird. Susana, eine andere junge Frau im Roman, muss zu Hause um ihr Leben bangen. Dabei ist ihr Mann Polizist. Im Roman wissen die Frauen, was zu tun ist. Sie geben dieser Frau und ihrem Kind ein Zuhause. Aber im wirklichen Leben, auch in Österreich, steigt die Gewalt an Frauen. Wie kann man das verhindern?
Da muss alles zusammenspielen: schon in der frühen Ausbildung. Man muss etwas gegen diese schrecklichen Einflüsse durch Pornografie und den Missbrauch in den sozialen Medien unternehmen. Dem sind doch auch Kinder ausgesetzt. Zudem eine starke feministische Information. Gesetze, die Frauen beschützen, die Behörden müssen bei Gewalt eingreifen. Man muss den Opfern Schutz bieten und die Täter verfolgen. Man muss Frauen und Mädchen durch mehr Information und ein Netzwerk stärken.

Wie ist es zu verstehen, dass die Tochter der Ich-Erzählerin Opfer ihres Drogenkonsums wird? Sie nennen diese junge Frau Nieves, auf Deutsch heißt das Schnee. Ist das eine Metapher?
Ja, Schnee symbolisiert Reinheit. Es ist eine Ironie, dass sie besudelt von Drogen und Prostitution endet.

Sie mussten selbst erleben, wie das ist, wenn ein junger Mensch durch Drogen umkommt. Die Geschichte Ihrer Stieftochter haben Sie im Roman "Mayas Tagebuch" erzählt. Was raten Sie Eltern, die mit Ähnlichem konfrontiert sind?
Bedauerlicherweise habe ich überhaupt keinen Rat für Eltern, die so eine Tragödie erleiden. Ich wusste nicht, wie ich mit meinen drei drogenabhängigen Stiefkindern umgehen sollte. Alle starben verfrüht an etwas, das mit diesen Drogen zu tun hatte. Ich habe das Gefühl, alles, was ihr Vater und ich versucht haben, war absolut unbrauchbar. Wie auch immer, es gibt viele Gründe für eine Sucht, und wenn jemand Hilfe will

Schreiben Sie schon Ihren nächsten Roman?
Nein. Ich schrieb ein Buch, aber das ist gescheitert. Das war das erste Mal in 40 Jahren, dass ich ein Projekt aufgeben musste.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Welt am Rande einer Katastrophe steht

Kommen wir auf Ihren aktuellen Roman "Violeta" zurück. Ihre Ich-Erzählerin blickt über ein Jahrhundert Weltpolitik. Warum werden dann außer Hitler und den Kubanern Batista und Fidel Castro keine Politiker beim Namen genannt? Sind die anderen etwa allesamt austauschbar?
Die Politiker in meinen Romanen sind typisch für Südamerika. Ich nenne aber keine Namen, nur Ereignisse und Umstände. Da die meisten meiner Romane in Südamerika angesiedelt sind, können sie meine südamerikanischen Leser identifizieren. Auch im "Geisterhaus" werden Sie keinen Politikernamen finden.

Sie sind seit fast 20 Jahren amerikanische Staatsbürgerin, haben Barack Obama getroffen und auch interviewt. Was halten Sie von Joe Biden?
Er ist ein guter Präsident mit seinem sehr schlechten öffentlichen Image. Die Öffentlichkeit weiß fast überhaupt nicht, was er in seiner Regierung schon alles erreicht hat. Und die Republikaner machen eine gnadenlose Oppositionspolitik mit großartigen Ergebnissen. Biden sollte 2024 nicht mehr bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren. Er ist zu alt und zu unpopulär. Wir brauchen jemanden jungen, der imstande ist, junge Wähler zu inspirieren. So jemanden wie Obama.

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Ausgezeichnet: Barack Obama verlieh Isabel Allende 2014 die Medal of Freedom, die höchste zivile Würdigung © Getty Images/Alex Wong

Was ist mit der Vizepräsidentin Harris? Wenn ich das richtig verfolgt habe, hat man von ihr in den vergangenen Monaten wenig gehört. Und das in einer Zeit, wo in ihrem Land frauenfeindliche Gesetze verabschiedet werden und Russland Krieg führt. Oder habe ich da etwas übersehen?
Kamala ist eine kluge Frau, aber die Rolle des Vizepräsidenten ist ziemlich undankbar, und beliebt ist sie auch nicht.

Wie erleben Sie diese Zeit? Befürchten Sie einen Weltkrieg?
Ich bin besorgt und verängstigt, aber ich versuche, nicht in Panik zu geraten. Ich möchte die paar Jahre, die mir noch vergönnt sind, mit Optimismus und Hoffnung erleben.

Gibt es in diesen düsteren Zeiten überhaupt einen Grund für Optimismus und Hoffnung?
Ich lebe schon so lang, und es ist nicht das erste Mal, dass die Welt am Rande einer Katastrophe steht. Ich bin mitten im Zweiten Weltkrieg geboren, in den Zeiten von Holocaust und Atombomben. Fast meine gesamte Jugend lebte ich im Kalten Krieg. Sie sind wahrscheinlich zu jung, um sich an die Kubakrise zu erinnern. Da standen die USA und die Sowjetunion an der Kippe zu einem Atomkrieg. Schreckliche Dinge können passieren. Die Zukunft der Welt ist in den Händen von einigen bösen Männern, aber es gibt auch eine junge Generation, die will Frieden, Inklusion, Gleichheit der Geschlechter, Umweltschutz und so weiter. Das können Sie alles in einem Auszug der neuen Verfassung von Chile nachlesen. Da steht alles.

ZUR PERSON
Isabel Allende wurde am 2. August 1942 in Lima, Peru, als Tochter des chilenischen Diplomaten Tomás Allende, eines Cousins von Präsident Salvador Allende, geboren. Sie arbeitete als Journalistin, setzte sich für Frauenrechte ein und gründete die feministische Zeitschrift "Paula". Nach der Machtübernahme Pinochets 1973 ging Isabel Allende mit ihrem ersten Mann und den beiden Kindern ins Exil nach Venezuela. 1982 brachte der Debütroman "Das Geisterhaus" den Durchbruch als Schriftstellerin. Isabel Allende ist seit 2003 amerikanische Staatsbürgerin und lebt in Kalifornien.

Dieser Beitrag ist ursprünglich im News-Magazin Nr. 30/2022 erschienen.

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