Berufsrisiko
Justizwache

Justizwachebeamtin Claudia Gradinger arbeitet seit 18 Jahren hinter Gittern. Sie macht oft bis zu 40 Überstunden im Monat und wird dabei beschimpft, bespuckt, bedroht und attackiert. Ein Blick auf die andere Seite der Zellentür.

von Chronik - Berufsrisiko
Justizwache © Bild: Heinz Stephan Tesarek

Wie Könige schreiten die Häftlinge durch den Gefängnistrakt. Schultern zurück, Brust raus, die muskulösen Arme weit vom Körper baumelnd. Mit langen Schritten gehen sie an der Frau vorbei, die stehen geblieben ist, um die Gruppe vorbeizulassen. Die Männer tuscheln und glotzen. Einer macht die Bodybuilderpose zur Präsentation seines Bizeps.

Claudia Gradinger aber schaut nur ernst, wartet kurz und geht dann souverän weiter zur Frauenabteilung. "Angst darf man in diesem Beruf nicht haben, sonst ist man hier falsch", sagt Gradinger. Die 42-jährige Niederösterreicherin arbeitet seit 18 Jahren in der Justizanstalt Korneuburg. Scheinbar ein Vorzeigegefängnis, denn hier lässt man News rein.

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Vor fünf Jahren neu errichtet mit Einund Zweibettzellen. Darin helle Möbel, farbige Wände, ein Kühlschrank, ein Fernseher und ein separates Badezimmer. Es gibt drei Männer-und eine Frauenabteilung mit jeweils drei Unterabteilungen. Die unterscheiden sich im offenen, halboffenen und geschlossenen Vollzug. Das heißt, dass einige Insassen 23 Stunden am Tag in ihren Zellen eingesperrt sind und andere sich zumindest auf ihren Abteilungen für mehrere Stunden frei bewegen können. Je nachdem, wie umgänglich sie sind. Ein Drei-Stufen-System, das immer noch Seltenheitswert in österreichischen Gefängnissen hat.

Besonders stolz ist die Anstaltsleitung in Korneuburg auf die Beschäftigungszahlen. 66 Prozent der Häftlinge haben einen Job. Die Frauen bügeln oder machen einen Kurs zur Nageldesignerin. Die Männer waschen die Gefängniswäsche und kochen. Sie können in der Schlosserei arbeiten oder eine Ausbildung zum Tischler machen.

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Für die Insassen ist sinnvolle Beschäftigung gut. Das sagt so ziemlich jeder, der sich mit Gefängnissen auskennt. Und das zeigt auch die Statistik der Justizanstalt: 20 Prozent weniger Ordnungswidrigkeiten zählte das Gefängnis innerhalb der vergangenen zwei Jahre -und der Medikamentenkonsum der Insassen sank sogar um zwei Drittel. Aber: Für die Justizwachebeamten bedeutet das mehr Arbeit, als einen Häftling einfach nur einzusperren. Claudia Gradinger muss die Insassen genau einschätzen können, ob sie sich in den offenen oder halboffenen Abteilungen vertragen werden. Ob die Kulturen zusammenpassen, ob ein Häftling psychisch labil ist und deshalb mehr Aufmerksamkeit braucht. Nebenbei ist sie damit beschäftigt, die Insassen zu begleiten: zum Spaziergang in den Hof, zum Psychiater und zum Zahnarzt, wenn die gerade im Haus sind. Sie kümmert sich darum, dass die Häftlinge an ihre Post kommen, DVDs und Bücher aus der Bibliothek erhalten und sie immer genug Toilettenpapier und Rasierschaum in ihren Zellen haben. "Mein Beruf hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Weg vom Wegsperren, hin Richtung Betreuung", sagt Gradinger. Das findet sie gut. Theoretisch. Praktisch würden dafür Mitarbeiter fehlen. Die Konsequenzen: Claudia Gradinger macht Überstunden. Manchmal weit mehr als 40 im Monat. Und sie hat festgestellt, dass die Übergriffe von psychisch kranken Häftlingen häufiger werden, weil sie und ihre Kollegen sich nicht um alle adäquat kümmern können. "Aufgrund des akuten Personalmangels ist es schwer, Stimmungen von Insassen aufzufangen, um im Vorfeld reagieren zu können, bevor ein Insasse in eine psychische Ausnahmesituation gerät", sagt Claudia Gradinger.

Laut des Justizministeriums wurden im vergangenen Jahr 96 Justizwachebeamte von einem Insassen angegriffen. 57 wurden dabei verletzt. Claudia Gradinger meint, dass trotz bestehender Verpflichtung nicht alle Beamte solche Übergriffe melden würden, weil viele um die psychische Ausnahmesituation der Gefangenen wüssten. "Aber es gibt auch Kollegen, die werden konkret mit dem Umbringen bedroht. Da sagt dann einer:'Wenn ich draußen bin, erwische ich dich oder deine Familie.' Das kommt vor, da muss man nix schönreden." Claudia Gradinger wurde selbst schon mehrmals angegriffen. Sie wurde beschimpft, bespuckt, geboxt. Berufsrisiko der Justizwacheangestellten.

Die Stress-Studie

Klar ist: Mit der Frage nach dem Personalmangel allein ist es nicht getan. Die Probleme der Justizwachbeamten und damit auch die der Insassen gehen tiefer. Um das aufzuarbeiten, hat die Psychotherapeutin Rotraud Perner im Frühjahr 2014 Justizwachbeamte in niederösterreichischen Gefängnissen befragt. Das Ergebnis ihrer Studie: 71,5 Prozent der Befragten fühlen sich im Job stark bis sehr stark gestresst. Besonders belastend wurden die mangelnden Deutschkenntnisse der Insassen empfunden, das Befolgen von Regeln seitens der Insassen, die Sicherheit der Bediensteten und die Art und Weise, wie Kollegen und Vorgesetzte an einem Strang zögen. Auch die Unregelmäßigkeit der Dienste und der Umgang mit Kritik von Justizwachebeamten wurde als belastend beschrieben. Fast 40 Prozent der Bewacher konnten sich mit den Entscheidungen des Justizministers nicht identifizieren.

Claudia Gradinger steht jetzt im Gefängnishof zwischen Hochbeeten, aus denen Kürbispflanzen wuchern, und einem Gewächshäuschen. Im Hintergrund die Mauer mit Stacheldraht. "Hier gärtnere ich mit den Insassinnen, um ihre Zeit sinnvoll zu gestalten", sagt Gradinger und betrachtet zufrieden den ersten Kürbis. Sie fühlt sich von der Regierung im Stich gelassen. "Am belastendsten ist, dass man wirklich gerne versuchen würde, öfter für die Insassen da zu sein, doch dafür fehlt einfach die Zeit."

Das Sicherheitsproblem

Aber gibt es deshalb ein Sicherheitsproblem? Manche meinen, ja, so wie Wilhelm Terler. "Wenn es so weitergeht, dauert es in manchen Justizanstalten nicht mehr lang bis zum Kollaps, bis zu Revolte", sagt Terler. Er ist Landesvorsitzender der Justizgewerkschaft in Niederösterreich und arbeitet in der Justizanstalt Gerasdorf. "In Österreich sind fast 200 Planstellen nicht besetzt, und wir bekommen keine Leute", sagt Terler. Ein Grund sei die Konkurrenz durch Polizei und Bundesherr, die vom Ministerium ebenfalls Personal zugesprochen bekam. Wenn Terler erzählt, wird klar, wo das eigentliche Problem liegt: Der Nachwuchs geht lieber zur Polizei als zur Justizwache. "Unser Image ist dank der Medien zu schlecht. Und was die Regierung jahrelang verschlafen hat, kann man nicht in kürzester Zeit nachholen", sagt Terler und beschreibt die Situation, wie er sie erlebt: "Wenn sich vor 25 Jahren zwei gerauft haben und ein Beamter hat Halt gerufen, dann war es aus. Heute ist es den meisten völlig egal, ob da einer steht oder nicht. Und wenn man dazwischengeht, kassiert man auch eine." Er stellt die Frage, was es anderes sein soll als ein Risiko, wenn sich Insassen frei auf ihren Abteilungen bewegen können und einige Beamte das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren?

© Heinz Stephan Tesarek

Andere entgegnen: Nein, man habe die Lage trotz der Belastungen im Griff. So wie Anstaltsleiter Wolfgang Turner in Korneuburg. "Unser Drei-Stufen-Modell zwingt uns natürlich, unsere Insassen genau anzuschauen, damit wir uns trauen, sie in offene Wohngruppen zu geben, ohne dass Mord und Totschlag herrscht. Aber das funktioniert besser als gedacht", sagt Turner. Das sehe er vor allem daran, dass sich viel weniger Insassen selbst verletzen würden. Das spare wiederum Beamte, die mit den Insassen ins Krankenhaus fahren müssten.

Volksanwältin Gertrude Brinek kennt die Studie über Justizwachebeamte und auch die Sorgen der Beamten. Sie weiß, dass die Arbeit der Justizwache herausfordernder geworden ist. Allerdings nicht nur, weil die Insassen schwieriger geworden wären, sondern weil die Erwartungen bezüglich der Unterbringungsqualität bis hin zur Einhaltung der Menschenrechte gestiegen seien. "Diese professionellen Herausforderungen müssen aufgearbeitet werden", sagt Gertrude Brinek. Sie habe festgestellt, dass nur wenige Justizwachebeamte Superversionen oder Fortbildungen besuchen. "Einer sagte mir, wer Superversion mache, sei ein Weichei." Justizwachen würden selbst nicht unwesentlich zu den Rekrutierungsschwierigkeiten beitragen. "Sich das eigene Arbeitsfeld ständig grimmigzureden, schreckt mögliche Bewerber ab", sagt Brinek. Aber sie wisse sehr wohl, dass der Job ein komplexer Sozialberuf sei. "Man muss auch in Bereichen suchen, in denen die Leute an sozialer Betreuungsarbeit interessiert sind.

© Heinz Stephan Tesarek

Vielleicht möchten Bewährungshelfer einen Schritt früher tätig werden. Man muss die Suche ausdehnen." Claudia Gradinger war in ihrem früheren Berufsleben Zahnarzthelferin. Sie kam damals täglich an der Justizanstalt vorbei. Irgendwann bemerkte sie einen Zettel: Justizwachbeamte gesucht. Sie bewarb sich, durchlief die Aufnahmeprüfung und machte die Ausbildung. Trotz der Belastungen mag sie ihren Beruf. "Es ist eine Herausforderung, jeden Morgen aufzustehen und nicht zu wissen, was der Tag bringt, aber genau das macht es auch so spannend", sagt Gradinger.

Die Männer mit den breiten Schultern sind jetzt in der Werkstatt angekommen. Es sind etwa 40 Insassen. Die Justizwachbeamten, die hier Dienst schieben, sind zu dritt.

Eigentlich wollte Saskia Wolfesberger eine Justizwachebeamtin für mehrere Tage im Gefängnis begleiten. Das wurde vom Justizministerium aus "organisatorischen, kapazitätsmäßigen und sicherheitstechnischen Gründen" verboten. Es durfte nur ein Rundgang werden.