Cheryl Diamond: Die Frau, die aus dem Nichts kam

Im Alter von zehn Jahren hatte Cheryl Diamond unter sechs Identitäten auf fünf Kontinenten gelebt. Ihr Leben gleicht einem Thriller. Ihr Kampf zeugt von der Kraft der Resilienz

von Cheryl Diamond: Die Frau, die aus dem Nichts kam © Bild: Matt Observe/News

Die blonde Frau, die sich an die Ziegelwand des Hauses in der Wiener Innenstadt lehnt, erinnert sich gut an die acht Monate, die sie als Zehnjährige hier verbracht hat. An den Schnee, den sie hier genüsslich im Mund geschmolzen hat. An ihre Lieblingsbäckerei und den Duft der Maronibratöfen. An das Verhörspiel, mit dem der Vater sie auch in Wien - wie in jeder neuen Stadt - seinen akribischen Tests unterzogen hat. Immer wieder prüfte er, ob die Tochter die ausgedachte, neue Familiengeschichte, ihren erfundenen Namen und die der Eltern und Geschwistern glaubwürdig sagen konnte. Damals in Wien war ihr Name Crystal und ihre Herkunft aus einer Investorenfamilie aus Key West in den USA.

Die Zehnjährige hatte damals bereits unter sechs verschiedenen Identitäten auf fünf Kontinenten gelebt. Sie wusste, wie man Dokumente fälscht, wie man sich bei Verhören zu verhalten hat und wie man alle Spuren verwischt, wenn man rasch untertauchen muss, weil die Tarnung aufgeflogen ist.

Ein Leben, das jedem Thriller trotzt

Die Frau, die heute Cheryl Diamond heißt und an einem warmen Spätsommertag in Wien selbstsicher für den News-Fotograf lachen kann, beschreibt dieses Leben in ihrem Buch "Nowhere Girl - Meine gestohlene Kindheit auf der Flucht vor Interpol". Akribisch bis in kleinste Detail schildert sie ihre Kindheit und das Erwachsenwerden als Gejagte unter der ständigen Kontrolle eines Vaters, den sie heute "ein Monster" nennt.

So haarsträubend sind manche Szenen, dass man meint, Hollywoods Thrillerautoren hätten um die Wette geschrieben. Da sind die überstürzten Fluchten, auf einer wird ein Radfahrer mit dem Fluchtwagen angefahren. Da sie gejagt wird, kann die Familie nicht halten, um ihn zu versorgen. Da ist der Vater, der den Kindern einen Bleistift in den Oberschenkel rammt, wenn sie es wagen, ihm zu widersprechen. Da ist der Halbbruder, der eines Nachts für immer verloren geht, nachdem er sich gegen den Vater aufgelehnt hat. Die einst starke Mutter verliert sich daraufhin im Schmerz und gibt sich auf.

Man ist versucht, zu zweifeln, wenn die Realität die Fiktion so hochgradig ausbootet. Doch 20 Seiten aus Interpol-Akten und eidesstattliche Erklärungen untermauern Cheryl Diamonds unglaubliche Lebensgeschichte. Und die 35-jährige Frau spricht wenige Tage nach dem Fototermin in Wien - aus organisatorischen Gründen via Zoom - derart offen über das Erlebte, dass jeder Zweifel an ihrer Geschichte ins Reich des Absurden gleitet.

In "Nowhere Girl" beschreibt Cheryl Diamond ihr Leben auf der Flucht vor Interpol und die Befreiung vom übermächtigen Vater. Eine fesselnde Geschichte über Trauma und Resilienz (Eden)

Hier finden Sie das Buch "Nowhere Girl" von Cheryl Diamond*

Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind Affiliate-Links. Wenn Sie auf einen solchen klicken und über diesen einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.

Geboren als Gesetzlose

Cheryl Diamond ist ein Kind der Liebe. Ihrer Mutter, einer Luxemburgerin, imponierten der Wagemut und das Selbstbewusstsein ihres Vaters. Für die Alleinerzieherin zweier Kinder war dieser Mann ein Notausgang, der aus dem Leben mit dem dominanten Familienpatriarchen, Cheryls Großvater, hinausführte. Als dieser drohte, der Mutter wegen des neuen Partners die Kinder zu entziehen, floh diese mit dem neuen Mann in ein neues Leben.

Der Großvater, ein hochrangiger Geheimdienstbeamter, ließ daraufhin die abtrünnige Tochter samt Enkelkindern via Interpol suchen. Damit begann ein Abenteuer, das im Albtraum enden sollte. Die junge Familie flüchtete rund um den Globus und benötigte bald falsche Pässe. Anfang der 80er-Jahre konnte man diese gegen eine große Geldsumme in Brasilien kaufen. Cheryl Diamonds Vater räumte deshalb das Konto eines Geschäftspartners leer. Nun ging es nicht nur um - laut Großvater - entführte Kinder, sondern auch um zwei Millionen gestohlene Dollar.

Die Familie machte auf der Flucht gerade Halt in Neuseeland, als Cheryl Diamond als Tochter zweier Gesetzloser, die im Krankenhaus falsche Namen angeben, zur Welt kam. Ein Vierteljahrhundert später macht es der Betrug der Eltern fast unmöglich, dass Cheryl einen Reisepass und damit eine gültige Identität erhalten kann.

Erst war alles ein Abenteuer

Wenn Cheryl Diamond von ihren frühesten Erinnerungen erzählt, gleichen diese märchenhaften Erzählungen. Der Vater führt darin wie ein Ritter in glänzender Rüstung seine Familie mutig aus jeder Not. "Meine Kindheit habe ich wirklich als wildromantisch erlebt", sagt Diamond über die Zeit im indischen Kaschmir und Amritsar. Ihre Biografie liest sich an diesen Stellen wie ein Märchen aus "Tausendundeine Nacht". "Es war mir wichtig, auch diese magisch schönen Zeiten zu beschreiben. Denn der Horror, der danach kam, ist nur so begreifbar", erklärt Diamond. "Zuerst habe ich meine Familie abgöttisch geliebt und hätte alles für sie getan. Mein Leben in Indien war wie in einem Märchen. Da waren die dunklen Mächte, die uns gejagt haben, aber wir waren ihnen immer einen Schritt voraus. Meine Familie war ein eingeschworenes Team, und für mich war alles ein großes Abenteuer."

Die Regeln für das Abenteuer trichterte ihr der Vater von klein auf ein. Diamond beschreibt sie in ihrem Buch so: "Dass wir immer, wirklich immer zusammenbleiben. Niemals dürfen wir den Namen angeben, der in unseren fünf blauen Pässen steht, die Dad jederzeit am Körper trägt. Sei immer loyal deiner Familie gegenüber - deine Familie verrät dich niemals. Traue niemandem - Blut ist dicker als Wasser. Sei ein Verbrecher - aber ein edler Verbrecher."

Erste Zweifel mit sieben Jahren

Die Flucht führte die Familie von Indien nach Australien, Südafrika, Kanada, Deutschland, Rumänien, Österreich und Tel Aviv. Sie musste abermals falsche Pässe besorgen und machte in Zypern Zwischenstopp zur Geldwäsche. Freundschaften waren für die drei Kinder tabu. Der Vater überwachte jeden ihrer Schritte und drillte sie durch harsche Motivation auch noch zu sportlichen Höchstleistungen.

In jedem Land, in dem sie aufschlugen, fand er die besten Trainer. Vor allem in Cheryl, die zuerst als Schwimmerin und später als Turnerin Bestleistungen vollbrachte, setzte er große Hoffnungen. Immer wieder stellte der Vater ihr die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Aussicht. Nur Höchstleistungen zählten. Dafür nahm Diamond zahlreiche Sportverletzungen in Kauf und trainierte auch mit schmerzendem Körper. Nebenbei unterrichtete der Vater sie vor allem im philosophischen Bereich, in Bewusstseinskontrolle und Gedächtnistraining. Der Ton in der Familie wurde über die Jahre zunehmend rauer, der Vater unberechenbarer, die Mutter resignierter.

Cheryl Diamond war zwölf Jahre alt, als sie mit ihrer Familie in die USA zog. Sie sollte bis zu ihrer Flucht vor den psychischen und physischen Misshandlungen des Vaters in den Vereinigten Staaten bleiben. Es brauchte dramatische Ereignisse, eine lebensbedrohliche Krankheit und weitere zwölf Jahre, bis Diamond fähig war, sich zu befreien.

Es sei ihr langsam klar geworden, wie dysfunktional ihre Familie war, erzählt sie. "Erstmals wurde es mir bewusst, da war ich sieben Jahre alt. Wir waren in Kanada, ich sah meine Mutter an und dachte: Es liegt an mir, sie zu retten. Ich muss ihr helfen. Das sind seltsame Gedanken für eine Siebenjährige, oder? Dieses Gefühl wurde über die Jahre stärker, als mein Vater immer gewalttätiger wurde."

Niemand wird sie retten kommen

Als Cheryl 13 Jahre alt war, sah sie einer neuen Realität ins Auge. Nach einer dramatischen Nacht, die im Buch vage bleiben muss, sieht sie ihren Bruder nie wieder. Er war dabei gewesen, sich von der Familie zu lösen, ein Leben in New York aufzubauen, und war heimgekommen, weil er seinen Pass holen wollte.

"In dieser Nacht ist mir klar geworden, dass die wirklich gefährlichen Menschen nicht die waren, die uns jagten, sondern mein Vater und meine Schwester." Ihre Mutter erlitt nach dieser Nacht einen Nervenzusammenbruch und blieb jahrelang handlungsunfähig. Auf die Frage, ob sie hoffe, ihren Bruder je wiederzusehen, sagt Diamond im Gespräch: "Das wäre ein Ding der Unmöglichkeit." Die 13-Jährige wurde damals über Nacht erwachsen.

"Mir war klar, dass mein Schicksal besiegelt war und dass ich etwas Riesiges stemmen müssen würde, würde ich je ausbrechen wollen. Niemand würde mich je retten kommen. Das habe ich erkannt. Und mir war klar, dass ich die eine Person sein musste, die sich zusammenreißt. Auch um meine Mutter zu befreien", sagt sie.

© Matt Observe/News Mit 35 ist Diamond endlich angekommen. Nie wieder will sie Opfer sein. Ihr Buch soll vor allem anderen, die Schlimmes erlebt haben, Mut machen

Ein Alltag im Überlebensmodus

Als Diamond mit 24 Jahren endlich mit ihrer Mutter nach Europa fliehen konnte, hatte sie lange Jahre als Model gearbeitet und erfolgreich ihr erstes Buch veröffentlicht. In "Model: A Memoir" gewährte sie einen Blick hinter die Kulissen der Scheinwelt, allerdings ohne ein Wort über ihre Familiengeschichte zu erwähnen.

Es fällt schwer, zu verstehen, wieso sie so lange weiterhin ihren Vater finanziell unterstützte und sich seiner Welt unterwarf. Wieso? Diamond nickt verständnisvoll. Sie hört diese Frage öfter. "Ich hatte mich vielleicht physisch emanzipiert, aber ich war noch immer emotional eine Gefangene meines Vaters. Ich habe funktioniert, um zu überleben. Geld verdienen, arbeiten, schreiben, das war alles, woran ich gedacht habe", beschreibt sie die Jahre in New York und Florida. "Alle anderen Gedanken hat mein Gehirn in Kisten geräumt und einen Deckel draufgemacht. Und ich glaube, das war ziemlich klug so. Mein Geist wusste, was er mir zumuten konnte und was nicht."

Die Krankheit lässt sie gesunden

Erst eine schwere Erkrankung zeigte Cheryl Diamond den Weg in die Freiheit. Mit 22 Jahren erkrankte sie an der unheilbaren Autoimmunerkrankung Morbus Crohn. Sie wog nur noch 44 Kilo und hatte innere Blutungen, als sie die Diagnose bekam. Heute sagt sie: "Die Krankheit hat mir das Leben gerettet. Sie hat mich zwar fast zehn Jahre lang an ein Krankenhausbett gefesselt, aber das war notwendig. Ich musste aufhören, zu funktionieren, und all die Kisten in meinem Kopf öffnen. Ich musste erkennen und vor allem begreifen, dass mein Vater ein Monster war. Wenn du dein Leben lang nie eine vertraute Person außer deinen Vater und deine Mutter hattest, ist das eine schockierende Erkenntnis. Vielleicht hätte ich mich ihr nie gestellt, wenn ich nicht gewusst hätte, dass mein Leben auf dem Spiel stand."

Die lebensbedrohliche Erkrankung der Tochter ließ auch die Mutter erstarken. Zu zweit flohen sie zu dem Mann, der sie einst vertrieben hatte, Diamonds Großvater.

Jahrelang kämpfte Cheryl Diamond danach in Luxemburg um ihre Gesundheit und ihre Identität. Da die Eltern auf ihrer Geburtsurkunde falsche Namen angegeben hatten, war es wegen der Urkundenfälschung fast unmöglich, eine Staatsbürgerschaft zu beantragen. Es gelang mit beispiellosem Einsatz der Mutter und der Hilfe des Großvaters.

Flucht nach des Vaters Regeln

Zehn Jahre lang schrieb Cheryl Diamond an ihrer Lebensgeschichte. Sie lebt heute in Rom und genießt es, viele gute Freundschaften zu pflegen. Das Misstrauen gegenüber Fremden musste sie sich abtrainieren, sagt sie.

An zwei Regeln des Vaters glaubt sie noch immer: "Sei immer loyal gegenüber deiner Familie und verratet einander nie. Diese Regeln sind der Grund, warum ich flüchten konnte. Denn mein Vater hat seine eigenen Regeln gebrochen. Ich habe gegen ihn und für seine Regeln entschieden."

Ist es nicht ein Widerspruch, dass ausgerechnet der Mann, der sie fast zerstört hat, der Tochter gleichzeitig soviel Resilienz mitgeben konnte, um sich zu retten? "Oh ja. Ich habe fast zehn Jahre lang beim Schreiben dieses Buches darüber gekiefelt, wie jemand so beschützend und lieb und gleichzeitig so grausam sein kann", sagt Diamond, die Deutsch, Italienisch und Englisch fließend spricht.

"Ich musste für all die unfassbar schönen Zeiten mit sehr dunklen Zeiten bezahlen. Aber ich habe gelernt, dass es nicht so wichtig ist, was uns angetan wird. Viel wichtiger ist, was wir daraus lernen und inwieweit wir unsere Zukunft von unserer Vergangenheit bestimmen lassen."

Keine Angst mehr vor Monstern

Erst vor einem Jahr konnte Diamond einen Therapeuten konsultieren. Zufällig ist dieser auch Profiler und erkannte im Vater klar einen Psychopathen. "Mein Therapeut sagte: 'Du musst aufhören, dich zu fragen, warum er dich nicht geliebt hat. Er kann gar nicht lieben. Es ist unmöglich. Es hat nichts mit dir zu tun.' Das war befreiend, weil ich mich nie wieder fragen muss, was ich falsch gemacht habe", so Diamond.

Mit ihrem Buch möchte sie Außenseitern Mut machen und Menschen, die Schlimmes erlebt haben, zeigen, dass sie nicht alleine sind. Ihren Vater hat Diamond seit der Flucht nie wieder gesehen. Wenn sie an ihn denkt, fühlt sie Leere, beschreibt sie. Aber meistens denke sie gar nicht an ihn, außer nun, wo sie Interviews gibt.

Hat sie Angst? "Diesem Gedanken gebe ich keine Energie. Ich könnte in Gefahr sein, weil mein Vater und meine Schwester gewalttätige Menschen sind und vielleicht das Buch nicht mögen. Aber es war wichtig, mit dem Buch endlich die Tradition der Gewalt, die sich durch unsere Familiengeschichte zieht, zu durchbrechen. Es hat mich befreit, die Wahrheit zu sagen. Ich habe mich damit ins Leben geschrieben."

Dann lacht sie und sagt, sie habe außerdem im Überleben ein bisschen Erfahrung.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News Nr. 39/2021.