Russland hat Anfang November erstmals Sanktionen der Trump-Administration wegen der Ukraine einstecken müssen. Der Kreml hat das wohl einkalkuliert
Von Stefan Scholl, Moskau
Der mit fleischrosafarbigem Samt bezogene Polstersessel wirkt nur wenig ergonomisch, über der Wandtäfelung aus poliertem Mooreichenholz schimmern zwei schwere Kristallleuchter. Auch die beigen Schnurtelefone und die wuchtige Fernsprechanlage auf Putins Schreibtisch erinnern an ein Museum zaristisch-sowjetischer Machtpolitik. Wladimir Putins Arbeitszimmer im Senatspalast des Kremls gilt als Herzkammer des russischen Staates, eine Kammer mit verhängten Fenstern, den Blick hinaus verhüllt weißer Tüll.
Der Hausherr sei offenbar introvertiert, lässt sich Putins Lieblingsblatt, die Komsomolskaja Prawda, von der Psychologin Wiktoria Samjatina erklären. Für einen Großteil des Kreml-Personals gilt diese Diagnose in jedem Fall. Für ein paar Dutzend enger Mitarbeiter des Präsidenten und die Hundertschaften von Technokraten, die ihnen zuarbeiten. Wer sind sie? Und wie viel Einfluss haben sie auf den Herrn des Kreml? Bloß keine Wellen schlagen, das ist ihr Erfolgsrezept. Doch auch perfekt funktionieren, wo es der Chef sieht. Putins Getreue verfolgen zunehmend eigene Interessen, nur nach außen sagen sie nichts. Aber vielleicht gelingt es, mit dem Entziffern von Organisationsstrukturen und Entscheidungsmechanismen mehr Licht in die Palastsäle mit den so oft verhängten Fenstern zu bringen.
Die Woche der Sanktionen
An einem Mittwoch im Oktober saß Wladimir Wladimirowitsch Putin in einem anderen abgedunkelten Zimmer des Kreml. An der Wand prangten goldene Buchstaben: „Situatives Zentrum des Präsidenten“. Putin verfolgte das Abfeuern zweier ballistischer Raketen und eines Marschflugkörpers, alle für nukleare Gefechtsköpfe geeignet. Angeblich eine lang geplante Übung der Atomstreitkräfte, aber sie hatte etwas sehr Situatives: Am Vortag war bekannt geworden, dass Donald Trump das geplante Treffen mit Putin in Budapest gestrichen hatte.
Es folgten Sanktionen der USA gegen Rosneft und Lukoil, die zwei größten russischen Ölkonzerne, und ein neues Sanktionspaket der EU. Trump hob außerdem wieder Reichweitenbeschränkungen für Raketen auf, die an die Ukraine geliefert wurden. Offenbar nichts, was den Kreml schockierte; Putin verzichtete auf weitere digitale Lagebesprechungen mit seinen Ministern oder Generälen. Seine Videokonferenzen veranstaltet Putin übrigens nicht im Tüllkabinett, sondern in noch einem anderen Saal des Kremls – oder auf seiner Datscha Nowo-Ogarjowo westlich von Moskau. Dort verbergen dunkelbraune Vorhänge die Terrassentüren.
Laut Wall Street Journal gibt es zwei praktisch identische Kopien dieses Raums. Das Rechercheportal Projekt verortet eine auf Putins Sommersitz in Sotschi. So palavert Putin über verschlüsselte Videokanäle mit seinen Leuten, ohne dass diese ahnen, wo er sich wirklich aufhält. Wladimir Putin ist auch mit 73 überall und nirgendwo, aber immer Russlands „starker Mann“. Nach einem Vierteljahrhundert an der Macht sind die Mechanismen seines Systems ganz auf ihn zugeschnitten. Und niemand weiß, wie viel Putin selbst oder wie viel Kremlpersonal hinter seinen Auftritten und Aktionen steckt. Wer zum Beispiel die Idee hatte, Donald Trump anzurufen, um den Budapester Gipfel zu lancieren. Viel spricht dafür, dass es der keineswegs introvertierte Staatschef selbst war. Aber auf der Liste der möglichen Initiatoren stehen auch Anton Waino, Putins engster Gehilfe und Chef der Präsidialverwaltung, Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow oder Außenminister Sergei Lawrow – beides Amerika-erfahrene diplomatische Profis. Oder Putins alter KGB-Kumpel und Berater Nikolai Patruschew.


Machtzentrum: Der Kreml – 870 Jahre, rote Ziegel, sechs Kirchen, fünf Paläste. Hier konzentriert sich Russlands Macht
© Alexander Nemenov / AFP / picturesdesk.comTrump einseifen
Mit Argumenten, Komplimenten oder positiven Wirtschaftszahlen für das am Ende zweieinhalbstündige Ferngespräch mit Trump belieferten Putin jedenfalls Dutzende Experten. Auch die Geheimdienste mögen ihre Psychogramme des US-Präsidenten aktualisiert haben. Und wieder einmal gelang es Putin, Trump „einzuseifen“, wie Moskaus diplomatische Kreise über ihre Kommunikation witzeln. Wenn auch nur für kurze Zeit. Der Kreml. Eine mit roten Ziegeln ummauerte Festung am Fluss Moskwa, 870 Jahre, sechs Kirchen, fünf Paläste.
Das Zentrum der russischen Staatsmacht – offiziell heißt es jetzt Präsidialverwaltung. Hier arbeiten geschätzt 1.700 Bürokraten – zum Vergleich: Trumps Verwaltung im Weißen Haus zählt rund 400 offizielle Mitarbeiter. Der Kreml ist die Turmplattform der putinschen „Vertikalen der Macht“, wo die Gewalt von oben nach unten fließt und faktisch nicht in Verfassungsorgane geteilt ist, die sich gegenseitig kontrollieren würden. Alle Autoritäten im Land, ob Gebietsgouverneure oder Stahlmilliardäre, unterstehen dem Kreml. Dieser aber gehorcht nur Putin. Und jenem Anton Waino, dem Chef des Kremlapparats, dessen estnischen Nachnamen selbst nach neun Jahren im Amt und Dauerzugangsrecht zu Putins Kabinett nur wenige Russen kennen.
Keine Quereinsteiger
Waino, 53, ist ein stilles Stubengesicht, öffentliche Äußerungen meidet er ebenso wie seine 34 wichtigsten Kollegen im Kreml: erste Stellvertreter, einfache Stellvertreter, Assistenten und Ratgeber des Präsidenten, seine Bevollmächtigten und Sonderbevollmächtigten, seine Repräsentanten in den Parlamenten und am Obersten Gericht, eine Kinderbeauftragte. Ihnen arbeiten 23 Verwaltungsabteilungen zu, 16 Kommissionen, 18 Räte, 4 Arbeitsgruppen und das „Organisationskomitee des Sieges“ – des Sieges über Hitler, den man seit 80 Jahren feiert.
Der Kreml hat seine Traditionen, auch personell. Hier gibt es keine Politiker im westlichen Sinne, keinen, der bei Wahlen oder auf Parteitagen Mehrheiten gewonnen hätte, keine Quereinsteiger aus der Wirtschaft. Von 35 Topfunktionären sind 32 Männer, wortkarg, intelligent, fachkundig, ehrgeizig, mit Karrieren von vertikaler Langeweile. Früher hießen sie Apparatschiki, jetzt Technokraten. Der Medienstar hier ist ein bebrillter Glatzkopf mit leiser Stimme – Wainos Erster Vize Sergei Kirijenko. Auch Kirijenko geizt mit Interviews, aber beim Antworten gibt er sich Mühe, lächelt nach Möglichkeit. Ein höflicher Mensch.
Und in Putins engem Kreis eigentlich ein Außenseiter: Kirijenko, 63, war unter Boris Jelzin kurz liberaler Reformministerpräsident, wurde seines jungen Alters wegen – er war damals 26 – als „Kinderüberraschung“ ausgelacht, als Schokoladenei für Kinder, das ursprünglich ohnehin in Russland erfunden worden war. Kirijenko wechselte später von der demokratischen Opposition in Putins Lager, ist jetzt für die Innenpolitik im Kreml zuständig, ein Netzwerker mit Faible für Nachwuchsarbeit. Nach und nach hat er auch die Kontrolle über die kaukasischen Rebellenrepubliken übernommen, außerdem über die heiklen Beziehungen Russlands zu Armenien und zu Moldau – und die Verwaltung des besetzten Teils der Ukraine. Alles geopolitische Fragen, die Putin besonders interessieren.


Festung. Der Kremls ist das Symbol russischer Macht, weit sichtbar über Moskau hinaus
© Pavel Bednyakov / AP / picturedesk.comBad Cop, Good Cop
Ehrgeiz im Kreml bedeutet, möglichst perfekt dort zu funktionieren, wo Putin es sieht. Politologen witzeln, man wisse nicht mehr richtig, ob Waino Kirijenkos Chef sei oder umgekehrt. Beide scheint das nicht zu stören. Sie gelten längst als Tandem, das auch beste Verbindungen zu Geheimdiensten und zur Wirtschaft pflegt. Und beide schweben einen Kopf über den meisten anderen Kremlfunktionären und deren täglicher Hauptaufgabe: dem Duplizieren. Putins Berater und Gehilfen doppeln vor allem die Minister der Regierung und deren Aufgabenfelder.
Damit wiederholt der Kreml die Arbeitsweise des Zentralkomitees der sowjetischen KPdSU, dessen Abteilungen die Ministerien der Sowjetregierung duplizierten und so deren praktisch ausgeübte Macht kontrollierten. Von Vertrauen zeugt es nicht, aber Putin setzt seine Leute gern zu zweit auf ein Aufgabenfeld. Und das funktioniert: Als Paradebeispiele gelten Putins stiller Berater Juri Uschakow und der bärbeißige Außenminister Lawrow; sie können am Verhandlungstisch Good Cop und Bad Cop spielen. Trotzdem gibt es Reibungen.
Anfang Oktober erklärte Lawrows Stellvertreter Sergei Rjabkow, alle Impulse zur Lösung des Ukraine-Konflikts aus dem Gipfeltreffen zwischen Putin und Trump in Alaska seien verloren gegangen. Uschakow widersprach prompt. Das neuerliche Telefonat am 16. Oktober zwischen dem russischen und dem amerikanischen Präsidenten gab Uschakow recht. Doch dann folgte ein offenbar raues Telefongespräch zwischen Lawrow und dessen amerikanischem Kollegen Marco Rubio. Und ein öffentlicher Monolog Lawrows, in dem er Trump frontal widersprach.


Putins Berater, Juri Uschakow, und Außenminister Sergei Lawrow
© IMAGO / ZUMA PressNach so viel Bad Cop ließen die Amerikaner das angekündigte Treffen in Budapest platzen. Putins Neigung zur Doppelung führte schon früher zu bisweilen fatal endenden Duellen. Auf dem ukrainischen Schlachtfeld ließ der Kremlherr seinen alten Jagdfreund, Verteidigungsminister Sergei Schoigu, gegen seinen Lieblingswirt, den Söldnerführer Jewgeni Prigoschin, antreten. Putins Feldherren befeindeten sich heftig; im Juni 2023 verlor Prigoschin die Nerven, rebellierte und schickte eine Kolonne seiner Krieger Richtung Moskau. Ein Putsch deutete sich an. Putin selbst verschwand an jenem Tag nach einer TV-Ansprache.
Laut dem Portal Meduza verhandelte unter anderem Waino mit Prigoschin, außerdem Patruschew, damals Sekretär des Sicherheitsrats. Man funktioniert auch ohne Chef sehr gut. Prigoschins Privatjet explodierte zwei Monate später mit dem Söldnerführer an Bord. Treue Gefolgsleute dagegen feuert Putin bekanntlich nur ungern. Schoigu entließ er als Verteidigungsminister, ernannte ihn aber zum neuen Sekretär des Sicherheitsrats. Dieses Gremium im Kreml scheint langsam zum Sanatorium alter Putin-Favoriten zu werden. Seinem einstigen Platzhalter im Amt des Präsidenten, Dmitri Medwedew, heute das schrille Kreml-Sprachrohr im Internet, stellte man schon früher einen Sessel für die Rolle als stellvertretender Vorsitzender des Rats hinein.
Man kumpelt, mauschelt und intrigiert
Patruschew ist ein ähnlicher Fall. Sein Sohn Dmitri brachte es im Mai 2024 zum stellvertretenden Regierungschef. Der alte Patruschew selbst aber landete auf einem offensichtlichen Vorruhestandsposten – als Präsidentenberater für Schiffbau. Der Kreml ist biegsam, wenn es um verdiente Kader geht. Für Patruschew wurde eigens eine neue „Verwaltung für maritime Politik“ geschaffen, dazu ein „Marinekollegium“.
Patruschew baute noch einen „Rat für arktische Sicherheit“ an, ganz offensichtlich arbeitet sich auch der ehemalige FSB-Chef an einem Lieblingsthema Putins ab – Russlands Anspruch auf das Polarmeer. Die Kremlkader bedienen die persönlichen Neigungen des Chefs, versuchen sie aber mit den eigenen Interessen zu verknüpfen. Man kumpelt, mauschelt, intrigiert auch gegeneinander. Und das nicht mehr nur hinter den Kulissen.
Eine Schießerei im September 2024 im Moskauer Zentrum, 500 Meter entfernt vom Kreml, zeigte dies. Am Firmensitz des größten russischen Onlinehändlers namens Wildberries lieferten sich tschetschenische Kämpfer und der aus der Nachbarrepublik Inguschetien stammende Wachschutz ein Gefecht. Dahinter stand eine Scheidungsfehde des Ehepaars, dem Wildberries gehörte. Die Ehefrau hatte einen indirekten Draht zu Waino, ihr Ex-Mann zum Tschetschenenchef Ramsan Kadyrow, der eng mit Putin verbunden ist. Madame gewann die Auseinandersetzung. Doch das Erstaunliche war, dass keine der beiden Seiten zuvor einen klaren Schiedsspruch des Präsidenten gesucht hatte. Man schloss die Sache einfach aus.
Epoche des „wilden Putinismus“
In Russland, auch im Kreml, sind neuerdings Prozesse im Gang, aus denen sich Putin heraushält. „Was eine Festung schien, ist in Wirklichkeit eine sich selbst umbauende Konstruktion geworden, in der die tragende Rolle Putins und seine Regeln allmählich an Wirkung verlieren“, schreibt die im Exil lebende Politologin Tatjana Stanowaja. Eine Epoche „wilder Putinismus“ habe begonnen. Wie in den „wilden Neunzigern“ kommen zum Beispiel serienweise Manager von Rohstoffkonzernen auf sonderbare Weise um.
Putin selbst hat sich in seinen Kampf gegen die Ukraine und den Westen versenkt. Beim Gipfel in Anchorage soll er Trump mit einer seiner schon berüchtigten Amateurvorlesungen über die russisch-ukrainische Geschichte erbost haben. Niemand im Kreml dürfte Putin dazu geraten haben. Seine Apparatschiki beklatschen seine Monologe öffentlich bei jeder Gelegenheit. Sonst schweigen sie – auch zur Ukraine. Man bemüht sich um möglichst wenig Profil. Im Gegensatz zu ihren sowjetischen Vorgängern verbergen die meisten Technokraten Putins, ob sie antiwestliche „Falken“ oder liberale „Tauben“ sind; sie schweigen nach Kräften über Politik.
Was eine Festung schien, ist in Wirklichkeit eine sich selbst umbauende Konstruktion geworden, in der die tragende Rolle Putins und seine Regeln allmählich an Wirkung verlieren.
Thronfolge ungeklärt
Die Thronfolge ist derweil ungeklärt. Eifrige Politologen interpretieren Putins Töchter Maria Woronzowa und Katerina Tichonowa in die Nachfolgerrolle hinein, aber mit Politik beschäftigt sich keine der beiden. Bleibt Putins langjähriger Leibwächter Alexei Djumin. Ihn hat Putin erst zum Gouverneur von Tula gekürt, einer Oblast südlich von Moskau, dann aber in den Kreml zurückgeholt, wo er sich um den bisher völlig überflüssigen Staatsrat kümmern soll, einer Kammer, in der die Gouverneure und die Oberhäupter von Teilrepubliken sitzen.
Politische Erben baut man wohl anders auf. Ob Putin wirklich auf Unsterblichkeit durch fortwährende Organtransplantationen hofft, wie ein mitgehörter Wortwechsel mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping auf dem Tiananmen-Platz im September nahelegte, ist ungewiss. Pensionspläne hat er jedenfalls nicht. Fällt er aber ungewollt aus, dann ist die Nachfolge so offen wie bei Josef Stalins Tod 1953.
Laut Verfassung würde Ministerpräsident Michail Mischustin geschäftsführender Präsident, noch ein schweigsamer Hochkompetenzkader. Aber vielleicht gibt es im Kreml auch ganz andere Anwärter. Und vielleicht erfährt die Öffentlichkeit dann, was blasse Gesichter wie Waino oder Kirijenko wirklich von Putin und seiner Kriegsspezialoperation in der Ukraine halten.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 47/2025 erschienen.
