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Alexander Van der Bellen: Ein Hoch auf den guten Kompromiss

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8 min
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Alexander Van der Bellen

©Bild: Ricardo Herrgott

Der Bundespräsident plädiert in seinem Gastkommentar für News für den guten Kompromiss – als Grundlage für Zusammenhalt, demokratische Entscheidungsfindung und ein funktionierendes Miteinander im Alltag wie in der Politik.

Verabschieden Sie sich gedanklich von Ihrem liebsten Fußballverein. Genauso von Spiele­abenden, vom Brunch mit Freundinnen und Freunden, vom gemeinsamen Wohnen. Auch von Fahrgemeinschaften, Ihrer Lieblingsmusik und dem nächsten Familienurlaub. Und jetzt denken Sie sich bitte auch noch die Europäische Union weg, ebenso wie jeden je unterzeichneten Friedensvertrag und überhaupt jedes Bündnis. Und unsere elegante Verfassung vergessen Sie ebenso.

Was Sie sich gerade vorgestellt haben, ist eine Welt ohne Kompromisse. Kein Sportteam der Welt käme ohne sie aus. Keine Band könnte gemeinsam spielen, keine Familie gemeinsam leben. Nichts davon geht, ohne dass wir für das gemeinsame Ziel auch einmal ein Stückerl nachgeben. In einer Welt ohne Kompromisse aber gibt es kein Nachgeben. Nein, die eigene Ansicht wäre die einzig wahre und der eigene Standpunkt festzementiert.

Schwierig bis unmöglich

Wie wäre es wohl, in so einer Welt das Weihnachtsessen für die Familie zu organisieren? Gelinde gesagt schwierig! Mehr noch: unmöglich. Vielleicht merken wir nicht immer, dass wir Kompromisse eingehen, aber wir können nur dann gut zusammenleben, wenn wir es tun. Wir brauchen Kompromisse. Im Großen wie im Kleinen. Wir alle haben unterschiedliche Vorstellungen von der Welt, verschiedene Ideen, wie wir leben wollen und was wir brauchen.

Sie wollen vielleicht den traditionellen Karpfen, Ihre Geschwister essen vegetarisch, der Vater will, dass es praktisch ist, die Oma will heuer einmal ein festliches Gansl, die Kinder essen überhaupt nichts anderes als Schnitzel. Inmitten dieses Wirrwarrs an Anforderungen das Gemeinsame zu finden, also die eine Lösung, in der sich alle wiederfinden, ist nicht immer einfach. Aber genau das bringt ein guter Kompromiss fertig.

Kompromisslosigkeit ist keine Haltung

Zwischen Gansl und Karpfen liegen keine Welten, ebenso wenig wie zwischen Aufstehen und Weiterschlafen. Aber nicht überall gibt es einen so bequemen Mittelweg wie Schinkenrollen. Oder die Schlummertaste. Besonders, wenn sich unsere Ansichten als extreme Punkte weit entfernt gegenüberstehen. Bleiben wir starr an solchen Extremen stehen, werden wir keine Schnittmengen finden, so groß kann ich den Zirkel für das Venn-Diagramm gar nicht ansetzen. Ich weiß schon, oft gefallen wir uns darin, „kompromisslos“ in einer Sache zu sein, uns nicht zu verbiegen.

Aber Kompromisslosigkeit mit Haltung gleichzusetzen, wäre ein Fehler. Nicht jedem, der sich zum anderen hinwendet, fehlt das Rückgrat. Nicht jeder, der nachgibt, ist schwach. Im Gegenteil. Sich zum anderen hinzubewegen, ist ein Zeichen von Mut, von Stärke, von Vernunft. Um weiterzukommen, müssen wir beweglich sein. Zumindest ein kleines bisschen. Wenn wir nämlich immer „alles oder nichts“ wollen, kann es passieren, dass wir am Ende mit einer ganzen Menge Nichts dastehen.

Ob das jetzt Regierungskoalitionen, Staatenbündnisse oder ein Weihnachtsessen betrifft: Sich auf Kampf und Krampf durchsetzen wollen und auf seinem Standpunkt beharren, kann darin enden, dass man am Ende allein dasteht. Das mag ja manchmal ganz angenehm sein, Freude macht es auf Dauer aber nicht.

Der Kompromiss – zu unrecht verrufen

Leider hat sich der Kompromiss einen schlechten Ruf eingefangen. Ich verstehe das schon, denn es gibt ja nicht nur gute, sondern auch faule Kompromisse. Solche, die nur so tun, als wären sie Lösungen. In Wirklichkeit aber stellen sie Menschen schlechter oder benachteiligen ganze Gruppen. Oder solche, bei denen nur das Etikett getauscht wird, sich dahinter aber immer noch dieselbe altbackene Ware verbirgt.

Nur weil ich etwas als faire Lösung bezeichne, muss es noch lange keine sein. Oft werden „Deals“ gemacht, hinter denen sich schlicht eine Bestechung verbirgt. Oder gar eine Drohung. Ein Deal, bei dem einer die Pistole gezogen hat und einer nicht, kann kein guter Kompromiss sein. Ja, es gibt sie, die faulen Kompromisse. Aber ich finde, wir dürfen uns deshalb den guten Kompromiss nicht miesmachen lassen. Er verdient Fürsprache. Ein ordentliches Plädoyer.

Es gibt immer mehr, das uns verbindet, als das uns trennt

Alexander Van der BellenBundespräsident

Erstens, weil er von uns verlangt, dass wir uns ganz genau mit unserer eigenen Position auseinandersetzen und auch wirklich benennen, was uns im Kern wichtig ist. Damit schafft er eine gewisse Klarheit. Geht es überhaupt um den Karpfen? Oder ist mir etwas anderes wichtiger? Wer sich diese Frage stellt, findet schnell Gemeinsamkeiten. Glauben Sie mir: Es gibt immer mehr, das uns verbindet, als das uns trennt. Auch bei noch so vielen Essenswünschen.

Zweitens, weil wir aufeinander zugehen und einander zuhören müssen, wenn wir uns einigen wollen. Jemand, der die Welt um sich herum in „die“ und „wir“ einteilt, ist nicht kompromissfähig. Begibt man sich aber auf die berühmte Augenhöhe, löst sich dieses „Freund oder Feind“-Denken in Luft auf. Wir haben in Österreich zum Beispiel eine starke Tradition der Sozialpartnerschaft, eben weil auf Augenhöhe verhandelt wird, und weil die Partner einander zuhören, einander respektieren und verstehen wollen. Das Leben ist kein Fußballspiel – mit einem Gewinner und einem Verlierer. So schwarz-weiß ist unsere Welt nicht. Zum Glück! Sie hat viele Farben und Töne. Der gute Kompromiss erhält diese Vielfalt.

Und drittens, weil der Kompromiss uns fordert und so das Beste aus uns herausholt. Jede Streitfrage ist ein großes Knäuel an Ideologien, Haltungen, Werten, Sorgen, Meinungen, Ideen und Wunschlisten. Alexander der Große hätte dieses Knäuel, wie den Gordischen Knoten, ganz plump mit dem Schwert durchtrennt. So zumindest die Legende. Uns aber bleibt das Entwirren einzelner Schlaufen, das langwierige Tüfteln und Zupfen und Fädeln nicht erspart.

Ja, das ist verdammt anstrengend. Aber es ist auch die Chance auf Veränderung. Auf etwas Neues. Vielleicht sogar etwas Großartiges. Eine gemeinsame, breit getragene Lösung. Und die brauchen wir für ein gelungenes Zusammenleben. Ob es um die Budgetlage geht, die Gesundheitsversorgung, internationale Angelegenheiten – oder einfach um das Menü am Weihnachtstisch. Gansl oder Karpfen? Auch da findet sich bestimmt eine gemeinsame, breit getragene Lösung. Zumindest, bis vor dem Christbaum die nächste Streitfrage auftaucht.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 51+52/2025 erschienen.

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