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2nd Opinion: Hat jeder Recht?

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7 min

Michael Fleischhacker

©Beigestellt

In der aufgeregten Debatte über den Krieg in Gaza und das Vorgehen der israelischen Armee scheint es keine Aussicht auf Verständigung zu geben. Ich bin für diesen Krieg der Kommentatoren aufgrund meiner Meinungsschwäche untauglich.

Nach inzwischen doch schon einigen öffentlichen wie privaten Diskussionen über den sogenannten Nahost-Konflikt im Allgemeinen und das aktuelle Vorgehen der Israelischen Streitkräfte (IDF) im Gazastreifen im Besonderen fühle ich mich ein wenig wie der Rabbi, der in einer alten Geschichte von einem Mann besucht wird, der auf eine Scheidung drängt und zur Klärung der Schuldfrage dem Rabbi in eindringlichen Worten schildert, wie unerträglich das Leben mit seiner Frau sei, sodass also kein Zweifel daran bestehe, wer die Schuld an diesem unerträglichen Zustand trage. Der Rabbi entlässt ihn mit den Worten „Du hast recht“.

Kurze Zeit später sucht ihn eben jene Frau auf, schildert ihre Sicht der Dinge und beharrt darauf, dass die Schuld am Ende dieser Ehe, wenn es dieses Ende denn geben müsse, ganz eindeutig bei ihrem Mann liege. Der Rabbi hört aufmerksam zu und entlässt die Frau mit den Worten „Du hast recht“.

Der Assistent des Rabbi, der alles mitangehört hat, um zu lernen, wie man mit den existenziellen Fragen des Lebens umzugehen hat, wenn man einer Gemeinde geistliche Führung angedeihen lassen soll, ist einigermaßen empört und sagt zu seinem Lehrer: „Aber Rabbi, Du kannst doch nicht beiden sagen, dass sie recht haben!“ Worauf ihm der Rabbi antwortet: „Da hast du auch recht.“

Meine Meinungsschwäche ist inzwischen ohnehin notorisch, aber ein langjähriger Freund hat mich dieser Tage angeschaut, als hätte man mir bei einer Routineuntersuchung das Hirn entfernt, als ich seiner These nicht zustimmen konnte, dass Benjamin Netanyahu der Held unserer Zeit und die einzige Möglichkeit in Gaza sei, das Gebiet vollständig zu „dejihadisieren“ – man müsse, sagte er, ja nicht gleich einen Parkplatz daraus machen, aber für die nächsten Jahrzehnte dürften dort die Araber nichts zu reden haben.

Ich bin ein Bewunderer der herausragenden Leistungen, die in Israel seit der Staatsgründung auf ökonomischem, wissenschaftlichem und auch militärischem Gebiet erbracht worden sind, und ich glaube, man kann die Tatsache, dass es mit Israel in dieser Weltregion den einzigen demokratischen Staat gibt, nicht hoch genug einschätzen. Zudem bin ich als an theologischen Fragen aus religionssoziologischer Sicht interessierter Mensch wenig optimistisch, was die kurz- und mittelfristige Entwicklung von religiös dominierten Gesellschaften betrifft. Das gilt zwar prinzipiell auch für Gesellschaften, in denen das ultraorthodoxe Judentum oder eine bestimmte Variante des Tiroler Radikal-Katholizismus den Ton angibt, besonders aber gilt es vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Entwicklungen für solche mit islamischer Religion und Kultur.

Gleichzeitig habe ich Schwierigkeiten, meinen politisch-militärischen Pragmatismus an die Spitze zu treiben. Im Gespräch mit meinem alten Freund kamen wir also naturgemäß darauf zu sprechen, dass es auch aufseiten von Kriegsparteien, die einen gerechtfertigten Krieg führen, wie die Alliierten gegen Nazideutschland, zu Kriegsverbrechen kommen kann. Die Flächenbombardements von deutschen Städten wie Dresden oder Hamburg oder der Abwurf der amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki waren in meinen Augen solche Kriegsverbrechen. Das Argument meines Freundes, das seien notwendige Schritte gewesen, um die Deutschen und die Japaner zur Kapitulation zu zwingen, und so leid einem die zivilen Opfer dieser Operationen auch tun mögen, so seien sie eben doch unvermeidbar gewesen, und ohnehin sei jeder Krieg schmutzig, erreicht zwar einen Teil meines Verstands, aber keinen Millimeter meines Herzens.

Ich kann zwar selbst so nicht denken, aber immerhin kann ich den Gedanken nachvollziehen und dem Argument ein gewisses Maß an Plausibilität attestieren (in dem Sinn, dass durch die Verkürzung des Kriegs auf der anderen Seite Menschenleben geschont werden können, die man auf dieser, der mit der Kriegsschuld beladenen Seite, opfern muss). Aber ich könnte das nicht ernsthaft selbst sagen.

Ich kann mit der Notwendigkeit der vollkommenen Auslöschung der Lebensgrundlagen von so vielen Menschen auf so engem Raum einfach nicht leben

Mit dieser meiner Meinungsschwäche muss ich leben. Denn auch wenn es wahr ist, und ich zweifle gar nicht daran, dass es wahr ist, dass 80 Prozent der Toten im Gazastreifen Hamas-Kämpfer und so gut wie alle erwachsenen Bewohner des Gazastreifens Hamas-Sympathisanten sind, kann ich mit der Notwendigkeit der vollkommenen Auslöschung der Lebensgrundlagen von so vielen Menschen auf so engem Raum einfach nicht leben.

Ganz anders ist mein Blick auf die wohlstandsverwahrlosten Studenten, Dozenten und Professoren europäischer und amerikanischer Universitäten, die sich in ihrer ideologischen Verblendung dem postkolonialen Dogma ergeben haben und in der Fantasie leben, dass Israel als Täter-Vorposten des kapitalistisch-imperialistischen Nordens im armen Opfer-Süden gar nicht existieren dürfte. Ihnen gönne ich von Herzen, dass man sie intellektuell und ökonomisch herausfordert, und ihr Gejammer, dass der amerikanische Präsident damit die amerikanische Wissenschaft insgesamt vernichten wolle, damit die Verschwörungstheoretiker an den Universitäten übernehmen können, halte ich für ausgesprochenen Quatsch (der „Klimaökonom“, der sich dazu vor Kurzem im ORF mit seinem Bullshit ausbreiten durfte, war ein besonderes Ärgernis).

Aber ich verstehe jeden, der mit seinem einfachen Verstand an einer so komplizierten Welt verzweifelt.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir: redaktion@news.at

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 22/2025 erschienen.

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