Mehr als eineinhalb Jahre nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 203 sind immer noch 59 Geiseln in Gaza. Man geht davon aus, dass 24 von ihnen noch am Leben sind. Einer von ihnen ist der inzwischen 23-jährige Bar Kuperstein. Eine in Wien lebende Verwandte kämpft dafür, dass er endlich freigelassen wird.
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Erstes Lebenszeichen
Das erste Lebenszeichen von Bar Kuperstein seit dessen Entführung bekam die Familie vor rund zwei Wochen. Am 5. April veröffentlichte die Hamas ein Video der beiden israelischen Geiseln Maxim Herkin und Bar Kuperstein. Von jenen Entführten, die inzwischen freigelassen wurden, ist bekannt, wie solche Aufnahmen zustande kommen. Den Geiseln wird genau vorgegeben, was sie zu sagen haben.
Was Herkin und Kuperstein hier äußern, ist daher vor allem als politische Botschaft an die israelische Regierung und Armee, aber auch an die Menschen in Israel zu verstehen. Herkin und Kuperstein verwenden in ihrem kurzen Statement zum Beispiel die Worte „Bring us home“. #bringthemhome nennt sich die kurz nach dem 7. Oktober 2023 in Israel gestartete Kampagne der Angehörigen der Entführten. Jüdische Gemeinden weltweit versuchen seitdem, unter diesem Slogan ebenfalls auf das Schicksal der Geiseln aufmerksam zu machen.
Auch in Wien gibt es regelmäßig Flashmobs und Kundgebungen. Wer auf jeder dieser #bringthemhome-Demonstrationen anzutreffen ist, ist Marianne G. Unermüdlich macht sie dabei auf das Schicksal von Bar Kuperstein aufmerksam. Meistens hält sie dabei ein selbst gebasteltes Plakat mit Fotos des jungen Israeli. Am Sonntag nach der Veröffentlichung des Videos las sie bei einer Kundgebung am Judenplatz den Brief vor, den sie an Bar wenige Tage zuvor zu dessen 23. Geburtstag geschrieben und auf ihren Social-Media-Kanälen veröffentlicht hatte.


Marianne G.: „Entschuldige, dass wir es noch nicht geschafft haben, dich aus dieser Hölle herauszuholen“, schrieb sie an Bar Kuperstein.
© Matt ObserveBotschaften der Verzweiflung
„Entschuldige, dass wir es noch nicht geschafft haben, dich aus dieser Hölle herauszuholen“, schrieb sie da. Und sie appellierte: „Bar, bitte halte durch!“ Marianne möchte ihren vollen Namen wegen des steigenden Antisemitismus und unangenehmen Kommentaren auf Social Media nicht in einer Zeitung lesen. Sie ist die Cousine von Bars Vater Tal Kuperstein. Als sie als junge Frau für mehrere Jahre nach Israel ging, nahm ihr Cousin die Rolle eines großen Bruders ein. Zu dieser Zeit heiratete er auch und Bar kam zur Welt. Die Beziehung zur Familie in Israel sei bis heute sehr eng.
So gingen auch an dem schwarzen Samstag, dem 7. Oktober 2023, rasch die Anrufe und WhatsApp-Nachrichten zwischen Israel und Österreich hin und her. Die Kupersteins gehörten zu den ersten Familien, die erfuhren, dass einer der Ihren entführt worden war. „Über Telegram kam ein Video, wo man Bar gefesselt am Boden sieht“, erzählt Marianne. „Das war schon am Vormittag.“ Seitdem sei nichts mehr, wie es war. Da sind einerseits die großen Sorgen um den Sohn, den Enkel, den Neffen. Da ist aber andererseits auch die finanziell prekäre Lage der Familie.
Bars Vater Tal, der viele Jahr ehrenamtlich als Sanitäter arbeitete, wurde vor rund fünf Jahren zu einem Einsatz gerufen. Doch auf dem Weg dorthin verunfallte er mit seinem Motorrad. Sein Bein wurde so stark verletzt, dass in der Folge mehrere Operationen nötig waren. Bei einer von diesen erlitt er einen Schlaganfall. Seitdem kann er nicht mehr gehen und kaum sprechen. In dieser Situation sprang Sohn Bar, gerade einmal 18 Jahre alt geworden, ein, um Mutter Julie und den vier jüngeren Geschwistern finanziell unter die Arme zu greifen. Er wurde de facto zum Familienerhalter. An dem Tag, an dem er entführt wurde, hatte er als Leiter eines Sicherheitsteams am Nova-Festival gearbeitet.
Er hat so viele Menschen gerettet. Nur sich selbst hat er nicht in Sicherheit gebracht
Er blieb bis zum Ende
Wie sein Vater war auch Bar als Sanitäter tätig, so Marianne. Als die Hamas-Terroristen auf dem Festivalgelände wüteten, bemühte er sich, einerseits so viele Besucher wie möglich in Sicherheit zu bringen, andererseits Verletzte zu versorgen. All das weiß die Familie von mehreren Augenzeugen, darunter auch Bars Freund und Kollege in der Sicherheitsmannschaft, Din. Zu ihm habe Bar, als es immer brenzliger wurde, gesagt, er solle sich in Sicherheit bringen. Er selbst fühlte sich als Teamleiter dafür verantwortlich, weiter zu helfen. „Er hat so viele Menschen gerettet“, sagt die Verwandte aus Wien. Nur sich selbst habe er nicht in Sicherheit gebracht.
„Blass sieht er aus auf dem Video“, so Marianne. In den vergangenen Tagen hat sie sich die Botschaft der Hamas immer und immer wieder angesehen. Ihr ging es dabei nicht darum, was er sagt, sondern was man daraus über seinen Zustand ablesen kann. Das Video gebe Anlass zur Erleichterung und gleichzeitig zur Verzweiflung. Er ist am Leben, aber die Familie sieht auch die Angst in seinen Augen. Dazu kommt die Sorge, dass es zu keiner Freilassung von Geiseln mehr kommt.
Die Angehörigen Bars reisen inzwischen quer durch die Welt, um auf sein Schicksal aufmerksam zu machen. Auf Instagram wurde für ihn die Seite #bring_bar_home eröffnet. Und immer wieder ist die Familie in Tel Aviv am Hostages Square anzutreffen. An seinem Geburtstag am 1. April sprach die ganze Familie dort – auch Vater Tal. Nachdem vor einigen Monaten Freunde Bars ein altes Video veröffentlicht hatten, in dem Bar nach dem Schlaganfall des Vaters gesagt hatte, er wünsche sich nichts mehr, als dass der Vater wieder gut gehen und sprechen könne, möchte dieser genau das erreichen: wieder gehen und sprechen zu können, wenn Bar nach Hause kommt. „Er bemüht sich jetzt gemeinsam mit Therapeuten so sehr, weil er Bar stolz machen möchte“, erzählt Marianne.


Hamas-Video: Die beiden Geiseln Bar Kuperstein und Maxim Herkin in einer von den Terroristen aufgenommenen Videobotschaft


Schicksalsschläge: Bars Vater Tal Kuperstein erlitt nach einem Unfall und Operationen einen Schlaganfall. Nun bangt er um den Sohn, der die Familie erhält
Hoffen auf ein Pessach-Wunder
Vergangenen Samstagabend hat das jüdische Pessach-Fest begonnen, das rund eine Woche dauert. Marianne ist dafür mit ihrer Familie nach Israel geflogen. Sie lebt zwar nicht orthodox, glaube aber doch sehr an Gott, sagt sie. Ein Pessach-Wunder wäre ihr Herzenswunsch. Doch Wunder sind dieser Tage rar. Andererseits gibt es sie doch: Anfang April war Tal Shoham zu Besuch in Wien. Der österreichisch-israelische Doppelstaatsbürger wurde nach 505 Tagen in Geiselhaft der Hamas im Februar dieses Jahres massiv abgemagert und in schlechtem Gesundheitszustand freigelassen. Er ist aber nun wieder mit seiner Familie vereint.
Sie habe bei jeder Geiselfreilassung mitgefiebert und sich mit den Familien gefreut, sagt Marianne. Aber natürlich sei da auch diese kleine Prise Eifersucht. Es sei eine „Achterbahn der Gefühle“, die nun schon so lange – zu lange – anhalte. „Wir wollen, dass Bar nun auch endlich nach Hause kommt.“ Sie äußere sich eigentlich nicht politisch. Jetzt aber möchte sie sagen: „Die Geiseln sind nach eineinhalb Jahren in einem besorgniserregenden Zustand. Es braucht nun rasch einen Geisel-Deal, damit auch sie nach Hause kommen. Alle Länder sollen Israel dabei unterstützen, und hier an der Seite Israels zu stehen, bedeutet, dafür zu sorgen, dass der Terror nicht gewinnt.“
Dankbar ist die Wienerin dafür, dass die österreichische Regierung seit dem 7. Oktober 2023 immer hinter Israel gestanden ist. Von den Medien würde sie sich oft mehr Aufklärung über das, was da passiert sei, wünschen. „Dass Bar entführt wurde, ist kein Konflikt. Bar ist kein Konflikt. Er wurde entführt, und das ist ein Verbrechen.“ Wenn sie ihn eines Tages wieder in ihre Arme schließen werde können, werde sie ihm vor allem eines sagen: „Wie lieb ich ihn habe.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 16/25 erschienen.