Die Suche nach Selbstverwirklichung war schon vor dreihundert Jahren ein Thema. Die Selbstbestimmung über die eigene Lebenszeit war damals jedoch deutlich schwieriger als heute. Wie die Aristokraten ihre Leidenschaften auslebten und welche das waren, erklärt Historiker Martin Mutschlechner, der Sonderausstellungen wie "Die Welt der Habsburger" in Schönbrunn kuratiert.
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Wer heute jammert zu wenig Freizeit zu haben, sollte einen Blick in die Vergangenheit werfen. Eine Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit gab es in der Vormoderne nicht. Mal schnell zum Sport oder übers Wochenende spontan wegfahren - solche Annehmlichkeiten wären für die Habsburger undenkbar gewesen.
Ein Leben ohne Privatsphäre
Das Leben der Monarchen gestaltete sich nämlich völlig anders als unseres. Sie waren niemals nur Privatpersonen. Ihr Alltag war geprägt von vollen Terminplänen und lästigen Verpflichtungen. Trotzdem gelang es manchen auszubrechen und Zeit zu finden, um persönlichen Interessen nachzugehen.
"Monarchen galten als die Verkörperung des Staates und waren 'immer im Dienst'. Wenn sie sich zurückzogen, waren die engsten Vertrauten und hochrangige Hofwürdenträger stets anwesend. Gänzlich allein waren sie während des Tages de facto nie", erklärt Historiker Martin Mutschlechner.
Pflichten statt Wellness
Wie wenig Freizeit in hochadeligen Kreisen zur Verfügung stand zeigt ein Blick auf den typischen Tagesablauf. Damals klingelte zwar kein Wecker, doch es gab einen eingespielten Plan, der zwar auf den Kaiser ausgerichtet war - dem er aber auch nicht entfliehen konnte. Im Falle von Franz Joseph hieß das: Aufstehen um 03:30 (das wollte er selbst), Morgentoilette, Morgengebet und die Besprechung des Tagesablaufs mit dem Adjutanten (Sekretär). Die Ablaufketten der unterschiedlichen Aufgaben waren sehr schwerfällig und genau abgestimmt - alles hatte System. Und so blieb nur wenig Handlungsspielraum für den Herrscher.
Warum "Sisi" Ballnächte hasste
Selbst prunkvolle Ballveranstaltungen des Hofes, von denen man heute glauben mag, dass sie ein beliebtes Spektakel waren, wurden beispielsweise von Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth geradezu gehasst. Denn eine leichte Freizeitbeschäftigung waren solche Abende für das Kaiserpaar nicht.
"Es war anstrengend, ständig im Rampenlicht zu stehen, Small-Talk zu führen und Haltung zu bewahren", weiß der Mitarbeiter der Forschungsabteilung von Schloß Schönbrunn. Überliefert ist Franz Josephs Ausspruch: „Ausse mecht‘ i!“. Und auch "Sisi" hatte eine Abneigung gegen die höfischen Ballnächte und schob Terminfindung gern vor sich her oder sagte gar kurzfristig ab.
Ausflugstipp: Sonderausstellung in Schloss Hof
"Lässiger hatten es die Angehörigen der Nebenlinien, zum Beispiel die Toskana-Linie, denen oft Parasitentum vorgeworfen wurde, da sie kaum Pflichten, aber viele Privilegien hatten", weiß Mutschlechner. Einige Mitglieder dieses Familienzweiges sorgten auf Grund ihrer alternativen Lebensentwürfe für Gesprächsstoff. So hat Leopold Wölfling hat eine Prostituierte geheiratet.
Eine positive Ausnahme war hier Ludwig Salvator. Der Erzherzog der Toskana erwarb sich große Verdienste für die Erforschung des Mittelmeerraumes, über den er mehr als 50 wissenschaftliche Arbeiten verfasste. Seine Leidenschaft galt der Naturwissenschaft. Besonderes Interesse hegte er an den Balearen, über deren Geschichte, Tier- und Pflanzenwelt und Kultur er forschte und das mehrbändige Werk „Die Balearen in Wort und Bild“ herausgab.
Die Work-Life-Balance des Kaisers
Kaiser Franz Joseph erfüllte die an ihn gestellten Anforderungen perfekt. Doch auch der für sein Pflichtbewusstsein bekannte Kaiser Franz Joseph nahm im Sommer „Auszeit“ in Bad Ischl. Dort fröhnte er der Jagd oder machte Spaziergänge. Die Menschen beschrieben ihn als "leutseelig", am liebsten trug er Lederhose und Lodenjanker.Heute würden wir seine Flucht nach Ischl als Work-Life-Balance bezeichnen - doch auch dieses Vorhaben missglückte.
Seiner Rolle als Monarch konnte er niemals gänzlich entgehen. Täglich musste er sich um die laufenden Agenden kümmern. So wird berichtet dass Franz Joseph, sogar die Kriegserklärung im Jahr 1914 in Bad Ischl unterschrieben hat.
Was galt als Unterhaltung?
Das royale Leben klingt bis jetzt nicht sonderlich anstrebenswert. Zumindest gab es auch angenehmere Verpflichtungen. Als Unterhaltung galten zur Zeit Maria Theresias Jagden und abendliche Unterhaltungen im Beisein von Vertrauten und exklusiven Gästen in Form der sogenannten „Appartements“. Zu jenen Gesellschaften, hatte nur ein bestimmter privilegierter Kreis von Personen Zutritt. "Man unterhielt sich, spielte Karten und hörte Musik", erzählt Martin Mutschlechner. Freilich immer noch streng der Etikette des Hofes verpflichtet.
Harter Kampf um Freizeitgestaltung
Auch hier ging es um Pflichterfüllung, die das herrschaftliche Amt mit sich brachte. Was aber galt als Freizeit? Oder wie man damals lieber zu sagen pflegte: Muße. Das hing ganz stark von den eigenen Vorlieben ab. Denn bei den Freiräumen - die sich die Habsburger hart erkämpfen mussten - standen immer die individuellen Interessen im Vordergrund.
"Heute würde man diese Vorlieben als Hobbys bezeichnen", fasst der Experte zusammen. Diese entsprangen dem adeligen Bildungskanon, der den Habsburgern zwar keine Universitätsausbildung, aber das Rüstzeug für ihren "Society-Auftritt mitgab. Im Fokus standen: Musik, Zeichnen und Malen, Architektur, Schriftstellerei, Sport, Wissenschaft und Sprachen.
Kronprinz Rudolf: Seine geheime Leidenschaft
"Kronprinz Rudolf galt als schreibwütiger und wortgewaltiger Habsburger. Er besaß ein enormes schriftstellerisches Talent. Seine Texte zeichnen sich durch gute Beobachtungsgabe, klare Ausdrucksweise und geschliffenen Stil aus", weiß der Historiker. Als Repräsentant des Herrscherhauses verfasste der Kronprinz Reden, veröffentlichte Reisebeschreibungen und Naturbeobachtungen, äußerte sich zu militärischen Fragen.
Da er nach außen hin gezwungen war, sich kritiklos der Politik seines kaiserlichen Vaters unterzuordnen, fand Rudolf in Gestalt seiner pointierten politischen Analysen ein Ventil, die anonym in Denkschriften und Zeitungen veröffentlicht wurden. Rudolfs oppositionelle Publikationstätigkeit war jedoch ein streng gehütetes Geheimnis. Der Kronprinz stand ständig unter der Angst entdeckt zu werden. Nicht die besten Voraussetzungen für seine Passion.
Lieblingskind Marie-Christine: Die Malerin
Unter den Habsburgern gab es noch weitere Begabungen. So waren Maria Theresias Gatte Franz Stephan von Lothringen, sowie ihre Tochter Erzherzogin Marie-Christine und ihre Schwiegertochter Isabella von Parma künstlerisch berufen. Übrigens: Die von ihnen gemalten Werke sind noch heute in den Privaträumen in Schönbrunn zu bewundern.
Die Musikalität der Habsburger des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert war generell sehr ausgeprägt. Leopold I. und Karl VI. förderten die Entwicklung von Musik und Oper. "Maria Theresia und ihre Kinder traten selbst im kleinen Kreis auf der Bühne auf. Die Kaiserin soll eine schöne Stimme gehabt haben. Ihr Enkel Kaiser Franz war auch durchaus begabt und widmete sich der Pflege von Hausmusik", sagt Martin Mutschlechner. Danach sei das musikalische Talent im Hause Habsburg nicht mehr so stark ausgeprägt gewesen sein.
Kaiserin Maria Ludovica - die Interior-Designerin
Die dritte Gattin von Kaiser Franz I., Kaiserin Maria Ludovica, zeichnete ein völlig anderes Talent aus. Sie hatte eine gute räumliche Vorstellungskraft und Stil. Ihre Liebe zur Innenarchitektur blieb niemanden verborgen. "Sie ließ sie sich ein extravagantes Appartement im modischen Empire-Stil in der Hofburg einrichten, welches die bisher eher konservativen Innenausstattungen der Habsburger daneben recht altbacken aussehen ließ", erzählt Buchautor und Schönnbrunn-Insider Martin Mutschlechner.
Während Franz Stephan von Lothringen sich seinem liebsten Hobby der Botanik widmete, war für seine älteste Tochter Erzherzogin Maria Anna die Münzkunde ihr geheimes Steckenpferd. Generell galt sie als Intellektuelle der Familie.
Kaiserin Elisabeth und das Reiten
Kaiserin Elisabeth hingegen hegte eine besondere Leidenschaft für den Reitsport. Ihre Stellung als Kaiserin nutze sie um sich ihr kostspieliges Hobby zu finanzieren. Beharrlich verschrieb sie sich ihrer Passion und brachte es im Reitsport auf das Niveau einer Spitzensportlerin.
"Äußerst ausdauernd und risikofreudig wurde sie zu einer der besten Reiterinnen ihrer Zeit, wofür sie europaweite Anerkennung erhielt. Für eine Frau ihrer Epoche und ihres Standes jedoch sehr außergewöhnlich, was ihre Außenseiterrolle in der adeligen Gesellschaft bestärkte", erklärt Mutschlechner die Zusammenhängen.
Was "Sisi" geheim halten wollte
Ihre Reitleidenschaft musste sie jedoch Anfang der 1880er Jahre nach gesundheitlichen Problemen aufgeben. Als Kompensation widmete sie sich mit großer Hingabe der Dichtkunst. Es war dies jedoch eine geheime Leidenschaft, denn ihre Gedichte, in denen sie sich sehr kritisch und bisweilen verletzend mit ihrer Umgebung auseinandersetzte, sollten gemäß ihrem testamentarisch festgelegten Willen erst 50 Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht werden.
Eine diskrete Sprache
Und noch ein eher unbekanntes Detail aus jener aufregenden Zeit: Wir wissen, dass Französisch damals als die wichtigste Sprache in Europa war. Englisch hingegen wurde erst ab Mitte 19. Jahrhundert unter den zentraleuropäischen Eliten gebräuchlich. Am Wiener Hof war die Kenntnis des Englischen nicht weit
verbreitet: Englisch war daher eine Art „Geheimsprache“ für Kaiserin Elisabeth im Verkehr mit ihren Geschwistern, da die meisten Angehörigen des Wiener Hofes kaum Englisch verstanden.
Welche Hobbys galten damals als modern?
Eine typische Modeerscheinung des späten 19. Jahrhunderts war der Okkultismus. Sesselrücken, Handlesen und spiritistische Sitzungen faszinierten auch Kaiserin Elisabeth. Franz Anton Mesmer galt zu dieser Zeit als eine Art „Wunderdoktor“. Mit Hypnose stellte er eine Verbindung zu der Welt der Geister her und machte Experimente mit Elektromagnetismus. In der Wiener Gesellschaft wurde er zum Stadtgespräch.
Neben dem Hype für Esoterik kamen auch Orientreisen unter den Habsburgern in Mode. Auch Großwildjagen und Safaris in Afrika oder Indien waren unter den gesellschaftlichen Eliten beliebt.
Was ist ein "Tableaux vivants"?
Wer lieber zuhause bliebt, feierte zu jener Zeit gerne Kostümfeste. So waren in hochadeligen Kreisen sogenannte „Tableaux vivants“ zu veranstalten besonders hip. Um was ging es bei der Veranstaltung? Der Habsburg-Experte erklärt: "Es wurden historische Szenen oder Gemälde nachgestellt, wobei oft sehr viel Aufwand für Requisiten und Kostüme aufgewandt wurde. Oft wurden diese 'Standbilder' dann auch fotografiert, sodass wir heute zumindest eine Vorstellung davon haben, was sich bei so einer Inszenierung abspielte."
Einmal "normal" sein im Leben
Dass bei den Habsburgern der Spaß nicht zu kurz kam, unterstreicht ein weiterer fixer Bestandteil des höfischen Kalenders. Im Fasching wurde stets "Eine verkehrte Welt“ gespielt. Kaiser und Kaiserin schlüpften dabei in die Rolle von Wirt und Wirtin des "Wirtshaus zum schwarzen Adler“ (in Anspielung auf das Wappen). Die Adeligen bekamen bei der Einladung thematische Vorgaben und Paare wurden zusammengemischt. Im Rollenspiel mimten sie normale Bürger aus niederen Ständen oder Menschen entfernter Völker.
Eine lustige Abwechslung zum steifen Leben bei Hofe. Wenngleich die kurzzeitig gelebte Utopie bestimmt nicht ausschließlich dem Vergnügen galt. Sondern dazu beitrug, wieder zufriedener mit der eigenen Rolle im Leben zu sein. Im Falle der Habsburger war sie äußerst verantwortungsvoll, jedoch auch enorm privilegiert.