So viele Jahre kann das Leben gar nicht bereithalten, dass aus jeder Geschichte, die noch zu erzählen wäre, ein Roman werden könnte. Deshalb hat der österreichische Weltliterat Christoph Ransmayr
70 Romane in einem Band zusammengefasst. „Egal wohin, Baby“ besteht aus Skizzen, die vom Garten über dem Traunsee bis ins Universum führen. Im Gespräch wird Ransmayr politisch wie selten zuvor
Siebzig Abenteuerromane, auf 256 Seiten getürmt, und jeder sein eigener Kosmos: Das ist ein Wagstück ganz nach der Fasson des österreichischen Weltliteraten Christoph Ransmayr. Mit dem schon im Frühjahr erduldeten 70. Geburtstag hat die Anzahl der Kapitel nichts zu tun, versichert er. 70 hat einfach gepasst für die Mikroromane unter dem Titel „Egal wohin, Baby“.
Die Form ist nicht neu, aber der Radius einzigartig. Je ein Foto aus eigener Fertigung, dann zwei, drei Seiten Text, so geht es vom Kleinsten ins Größte: die Reise auf einem atomgetriebenen Eisbrecher zum Nordpol auf den Spuren der Expedition, mit deren Schilderung sich Ransmayr seinen europäischen Ruf erschrieb; dann gleich die letzten Atemzüge eines sterbenden Freundes; dann die Erkletterung einer mexikanischen Sonnenpyramide zwischen Touristenmassen. Ein Wasserfall im heimatlichen Oberösterreich, ein Blick mit dem Teleskop zur Venus: Jede der Reisen hat Ransmayr selbst unternommen. Aber ihr Protagonist wird Lorcan genannt, nach einem irischen Freund, dessen Name „Kämpfer“ bedeutet: Eine erfundene Figur mit geliehenem Namen schultert 70 reale Begebenheiten aus dem Leben des Autors. Das schafft Hautnähe durch Distanz. Ein Paradoxon wie Ransmayr selbst, der als vollkommen authentische Kunstfigur den bäuerlichen Habitus mit dem Nimbus des Weltumseglers zur Deckung bringt.
Die Amsel, ein Papagei
Und wie jede der Miniaturen atmet, und was man nicht alles erfährt: dass zum Beispiel Amseln papageienartige Mimikri-Fähigkeiten haben, sogar Handy-Töne imitieren können. „In unserem Haus am Höllengebirge füttern meine Frau Judith und ich Singvögel und führen Listen, welche Vogelarten uns im Verlauf eines Jahres besuchen. Bis jetzt sind es 28. Und die Amsel ist unter ihnen wohl der hinreißendste Virtuose.“
Wie Adalbert Stifters sanftes Gesetz nimmt sich das aus, das aus dem Kleinsten die Menschheitsfragen hochrechnet. Das bestätigt Ransmayr: „Jede Form des Daseins, ob tierische, menschliche oder pflanzliche Existenz, verweist ja auf die gesamte Geschichte des organischen Lebens und darüber hinaus, weil ihr gemeinsamer Schauplatz unsere Terra ist. Man kann Geschichten natürlich noch viel weiter zurückerzählen, so weit, bis man irgendwann beim Urknall landet. Aber es gehört zu den Aufgaben, ja Privilegien des Erzählers, zu sagen: bis hierher und nicht weiter.“
Mit sechs Teleskopen ins All
Wenn der Ruhelose nicht die Kontinente bereist, begibt er sich mithilfe seiner sechs Teleskope ein Universum weiter. Ein kleines Observatorium habe er sich da in den Bergen gebaut, und das sei das Mindeste, was er der Welt schulde. „Wenn man sich für die Welt und ihre Menschen interessiert, kann man gar nicht genug Hilfsmittel haben, um den Blick zu erweitern. Ich habe nicht nur sechs Teleskope, sondern auch eine Reihe von Mikroskopen. Außerdem sehe ich immer noch relativ gut. Das heißt, ich verwende alles, was mir ermöglicht, den Blick in den Mikro- und den Makrokosmos zu präzisieren und um Details zu ergänzen – zunächst nur, um mich davon bewegen, beeindrucken oder erschüttern zu lassen – aber auch, um mich bloß daran zu freuen.“
Die Form des Mikroromans? Eine Variante der Notwehr sei das, spukt nun doch der ominöse Geburtstag ins Gespräch. „Mit jedem Jahr unseres Lebens nimmt ja die Fülle und Zahl der Erfahrungen und Themen zu, das Maß der Zeit allerdings, die uns für ihre Gestaltung noch bleibt, nimmt ab. Ich hocke ja längst im unteren Teil der Sanduhr“, mengt er eine Idee ironischer Melancholie ins Gespräch. „Nachdem ich langsam, sehr langsam schreibe, müsste ich eine Methusalem-Lebenserwartung haben, um aus der Fülle des Materials Romane zu machen. Eine traurige Vorstellung, vier, fünf Jahre an einem Roman zu arbeiten, dann einem Schlaganfall oder einer anderen Todesursache zu erliegen und eine offene Arbeit, eine angebrochene Geschichte zurückzulassen. Eine Sammlung von Kurzgeschichten wäre in diesem Fall dagegen bloß um einige Erzählungen ärmer“, gibt er mit feinem Hintersinn den Pragmatiker.
„Epoche der Barbarei“
Ungern wendet man sich aus solcher Höhe in die politischen Weltrealitäten, die sich globaler Primitivität nähern. „Einem Schriftsteller muten Sie besser keine Analysen unseres Zeitalters der Barbarei zu, sondern lassen ihn davon erzählen. Leider hat Hegel, der deutsche Philosoph, irrtümlich angenommen, Geschichte wäre ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Wie schön, wenn es in den Köpfen der Menschen tatsächlich heller und heller würde. Dann wäre vieles von der herrschenden Dummheit, Ignoranz, Gier und Grausamkeit nicht mehr möglich – also alles nicht mehr möglich, was längst wieder zum Standard geworden ist.“
Das Gespräch hat die Höhe eines Monologs erreicht, den man sinnvollerweise nicht unterbricht. Jedes Wort sitzt an seinem Platz, unverwechselbar, wie man es auch von Peter Handke kennt. „Historiker der Zukunft werden unsere Epoche vielleicht tatsächlich als eine Epoche der Barbarei überschreiben, denn barbarisch erscheint unsere Zeit vor allem, wenn sie an den unglaublichen, allerdings ungenützten Möglichkeiten gemessen wird, die Welt in einen friedlich bewohnbaren Ort zu verwandeln. Wir verfügen über so gut wie alles dafür Notwendige – und nützen so gut wie nichts davon, ja verwandeln selbst eine Daunenfeder in ein Werkzeug der Zerstörung.“
Zum Erschrecken hat sich zuletzt die Erkenntnis aus dem Mikroroman vom Czernowitzer Friedhof gewendet: Da habe der Oberrabbiner muslimischen Kriegsgefallenen, die nirgendwo willkommen waren, ein Grab gegönnt. Ein Czernowitzer Greis, der den Naziterror unter der Erde versteckt überlebt hat, trägt die Geschichte vom Oberrabbiner als Friedensvision weiter. Ransmayr hat sich durch das dichte Gestrüpp des riesigen Gottesackers gekämpft. Aber die Gräber der armen, tapferen Moslems blieben unauffindbar, ein Mythos.
Die Welt voller Ganoven
Und jetzt? Ist vom beschworenen Frieden das Gegenteil geblieben, ein irrer Judenhass, der sich Israel zum Vorwand nimmt. „Der Hass, nicht nur der auf die Juden, ist universal geworden und schlägt uns auf allen Ebenen entgegen und wird von allen Seiten befeuert. Wenn ein verurteilter Ganove, ein Lügner, Verleumder, Vergewaltiger und Betrüger im Weißen Haus sitzt, ihm gegenüber ein Massenmörder und pensionierter Auftragskiller im goldenen Saal des Kreml und uniformierte oder als Priester kostümierte Mörder im Iran, in Afghanistan oder im Sudan Regierungsämter bekleiden und den Terroristen der Hamas ein Kriegsverbrecher wie Herr Netanjahu gegenübersteht, der auf Mördersuche geht, indem er dicht besiedelte Wohngebiete unter Bombenteppichen begräbt und eine Horde von Landräubern auf die Nachbarschaft loslässt – woher soll in einer solchen, zum Schlachtfeld und Schauplatz von Genoziden entstellten Welt auch nur der Hauch eines möglichen Weltfriedens wehen?“
Eine endlose Kette der Barbarei und der Gewissenlosigkeit finde hier bloß ihre Fortsetzung. Keineswegs nur im Kreml, auch im Weißen Haus säßen Kriminelle, seit Nixon und Kissinger sei das Schulwissen, und die falsche Lichtgestalt J. F. Kennedy hätte fast den Atomkrieg begonnen. „Und dass ein Ganove wie Trump seine Kumpane ins Haus holt, gehört zu den Selbstverständlichkeiten einer Komplizenschaft, die seine vierjährige Amtsperiode wohl überdauern wird. Warum in unseren Gesellschaften so viele Arschlöcher Herrschafts- und Ehrenplätze allein zu ihrem persönlichen Vorteil missbrauchen? Jessas, ich bin als Erklärer oder Kommentator des Geschehens nicht klüger als ein einigermaßen informierter Zeitungsleser.“
Das auf die hiesigen Verhältnisse herunterzurechnen, auf Rosenkranz und sein Herrl? „Ich interessiere mich für Zwerge nur als Märchenpersonal. Die Geisteswichtel im österreichischen Puppenhaus furzen bloß im Wind der Zeit.“
Zeilingers Lehren
Da gibt es andere Landsleute, deren Umgang Erhellung statt Hirndunkel verursacht. Der Physiknobelpreisträger Anton Zeilinger zum Beispiel residiert in fast unmittelbarer Nachbarschaft am Traunsee, man tauscht sich gern aus.
Ransmayr kommt auf ein Phänomen, das Geistesmenschen geläufig ist: Zeilingers Forschen in unbegreifbaren Dimensionen erweitere den Blick. „Ich bin nur mit wenigen Schriftstellern befreundet – wir könnten uns über die Struktur, die Dynamik und die Bauformen der Natur nicht viel Neues erzählen – und habe mich stets für Naturwissenschaften interessiert, weil dort das Fremde, das Rätselhafte, die weißen Flecken näher liegen als in anderen Disziplinen.“
Als Mittel des Widerstands gegen die barbarische Epoche bleibt die Sprache. „Irgendwann stößt jede alltagssprachliche Beschreibung der Materie auf das Reich der Gleichung, der Formel, also auf Verhältnisse, die sich nicht mehr in Sätzen darstellen lassen. Andererseits gibt es keine dramatischere, ja magischere Verwandlung als die der Realität in ein Wort, einen Satz. Etwa an einer Küste die Brandung auf sich zurollen zu sehen, den Meereshorizont weit draußen im Dunst, und dann zu dieser scheinbaren Unendlichkeit Meer zu sagen, Ozean, ist ein magischer Vorgang. Die Tatsache, dass die greifbare Wirklichkeit zur Sprache gebracht, mit Worten gebannt werden kann, grenzte für mich immer an ein Wunder.“ Kommt nur drauf an, wer es zu wirken versteht.
Christoph Ransmayr
geboren am 20. März 1954 in Wels, Oberösterreich, besuchte er das Stiftsgymnasium Lambach, studierte in Wien Philosophie und Ethnologie und arbeitete als Journalist, ehe er 1984 mit dem Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ berühmt wurde. „Die letzte Welt“ beruht auf Ovids „Metamorphosen“, es folgten etwa „Atlas eines ängstlichen Mannes“ oder „Der Fallmeister“. Der Vielreisende lebt mit seiner Frau in Wien und Oberösterreich.