Maren Urner: "Wir brauchen konstruktiven Journalismus"

Muss man sich schuldig fühlen, wenn man sich nicht ständig mit dem Leid in der Ukraine beschäftigt? Die deutsche Neurowissenschaftlerin Maren Urner sagt Nein.

von Medien - Maren Urner: "Wir brauchen konstruktiven Journalismus" © Bild: Joe Raedle/Getty Images
Urner ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. Sie studierte Kognitions- und Neurowissenschaften und wurde am University College London promoviert. 2016 gründete sie das Magazin "Perspective Daily" für konstruktiven Journalismus mit. 2019 erschien ihr Buch "Schluss mit dem täglichen Weltuntergang", 2021 "Raus aus der ewigen Dauerkrise"
© Lea Franke

Vor fast zwei Monaten hat der Krieg in der Ukraine begonnen. In der ersten Zeit waren die Medien voll davon, jetzt bestimmen andere Themen die Schlagzeilen, und man hat sich an die Bilder von Leid und Zerstörung gewöhnt. Was ist da passiert?
Neue, große, allumfassende Themen werden vom Journalismus immer dankbar angenommen, weil dieser monothematische Fokus leicht zu bearbeiten ist. Die Komplexität der Welt wird auf ein Thema reduziert, wie es bereits bei Corona über Monate der Fall war. Um eine Brücke vom Journalismus zu unseren Köpfen zu schlagen: Wir können uns immer nur gut mit einer Sache beschäftigen. Geht es dabei um ein großes, negatives Thema, entsteht eine Stresssituation. Und dann entstehen ab einem gewissen Punkt Ermüdung und eine gewisse Art der Gewöhnung, weil Gehirn und Körper angesichts der Dauerbelastung signalisieren: Moment, jetzt reicht's. Stress bedeutet in biologischer Hinsicht, dass die Herausforderungen an den Organismus größer sind als die vorhandenen Ressourcen. In der Phase, in der wir uns mit Blick auf den Krieg gerade befinden, wird der akute Stress zum chronischen.

Ermüden uns die medialen Darstellungsformen oder tatsächlich das, was in der Ukraine passiert?
Nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon 2013 wurde eine Studie durchgeführt, bei der das Stresslevel der Menschen vor Ort mit dem jener verglichen wurde, die den Vorfall intensiv medial verfolgt hatten. Tatsächlich war es so, dass die Medienkonsumenten gestresster waren als die Menschen, die live vor Ort waren. Das Mediale kann uns also tatsächlich mehr stressen. Das bedeutet nicht, dass wir hier schlimmer dran sind als die Menschen in der Ukraine und in vielen anderen Ländern. Es geht um den körperlichen Ermüdungs- und Erschöpfungsaspekt. Wir können auch empathisch ausbrennen. Irgendwann ist für jeden Menschen der Punkt erreicht, an dem er oder sie einfach nicht mehr kann. Das bedeutet keineswegs, ein schlechter Mensch zu sein.

Die Medien leben auch von diesen monothematischen Phasen, wie Sie es nennen. Wäre es verantwortungsvoller, sie zu vermeiden?
Absolut, da laufen Sie bei mir offene Türen ein. Sie kennen den Slogan des Magazins "Spiegel": "Sagen, was ist." Aber das funktioniert nicht. Wir sind keine Computer, es gibt keine Speichern- und Löschen-Tasten in unserem Gehirn, und es gibt keine objektive Informationsweitergabe. Schon bei der Auswahl der Themen spielen gewisse Werte, Vorstellungen und vielleicht finanzielle Entscheidungen eine Rolle. Das geht weiter über die Auswahl der Interviewpartner bis hin zu den Bildern, den Wörtern, Tönen und dem Framing. Die Frage lautet also nicht "Wollen wir beeinflussen?", sondern "Wie wollen wir beeinflussen?". Und dann landen wir schnell beim konstruktiven Ansatz. Was ist die Kernaufgabe des Journalismus? Nicht nur zu informieren, sondern Menschen handlungsfähig zurückzulassen. Der Negativitätsfokus sorgt dafür, dass die meisten Menschen mit einem unrealistischen negativen Weltbild durch die Gegend laufen. Und das kann dazu führen, dass sich immer mehr Menschen von den Medien abwenden, weil sie einfach nicht mehr in der Lage sind, das zu verarbeiten. Das schadet am Ende der Demokratie.

»Wir können auch schlecht informiert sein, wenn wir uns die ganze Zeit informieren«

Wie kann man über einen Krieg konstruktiver berichten?
Der konstruktive Journalismus stellt immer zentral die Frage: Was jetzt? Wie wollen wir weitermachen? Während des Syrien-Kriegs wurde ich bei öffentlichen Veranstaltungen gefragt, ob ich denn die Lösung für den Krieg hätte. Natürlich nicht! Die Frage ist eine andere: Dadurch, dass wir die Was-jetzt-Frage stellen und damit lösungsorientiertes Denken praktizieren, ändert sich unsere Sicht auf die Welt und unser Denken. Bezogen auf Kriegsberichterstattung kann es bedeuten, nicht nur zu schauen, wo es in der Vergangenheit zu welchen Eskalationen gekommen ist, sondern vielleicht primär darüber zu berichten, an welchen Stellen deeskaliert werden konnte. Welche Player braucht es dafür? Wer muss dafür wann mit wem an einen Tisch? Dadurch verändere ich nicht nur die Wahrnehmung der Menschen zu diesem Konflikt, sondern auch ihr Denken und Sprechen darüber.

Darf man dann über die furchtbare Situation in Mariupol oder über Butscha nicht berichten?
Es geht nicht darum, etwas auszublenden, dieses Missverständnis entsteht oft. Wir müssen uns aber bewusst machen, dass immer eine Auswahl getroffen wird. Es ist eine Illusion, anzunehmen, stets über das komplette Weltgeschehen berichten und informiert sein zu können. Oder wann haben sie das letzte Mal etwas aus dem Kongo, aus Georgien oder Norwegen gehört? Viele Menschen hinterfragen, warum wir uns so stark auf diesen einen Konflikt konzentrieren, obwohl es auch andere gibt. Da spielen natürlich aus psychologischer Sicht die drei Faktoren der Nähe eine zentrale Rolle, also die räumliche, die zeitliche und die soziale Nähe zur Ukraine. Es ist wichtig, sich das immer wieder bewusst zu machen. Innerhalb eines Tages passiert auf der Welt so viel, dass eine zentrale Aufgabe des Journalismus ja gerade darin besteht, auszuwählen beziehungsweise wegzulassen. Machten wir uns das ein wenig öfters bewusst, wäre schon einiges gewonnen.

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Das heißt also, wir sind nicht abgestumpft, sondern zu Recht ermüdet nach wochenlanger Kriegsberichterstattung? Und man muss sich nicht schuldig fühlen, wenn man eine Pause braucht vom Unglück der Welt?
Das Thema der Schuldgefühle ist ein wichtiger Aspekt, den ich in vielen Gesprächen wahrgenommen habe. Viele Menschen fühlen sich schuldig, wenn sie nicht den ganzen Tag mit Doomscrolling verbringen, also damit, endlos durch die Negativnachrichten zu scrollen. Aber wir können tatsächlich auch schlecht informiert sein, wenn wir uns die ganze Zeit informieren. Weil zur vollständigen Informationsverarbeitung auch Phasen des Umschaltens gehören, indem wir nicht versuchen, Neues aufzunehmen. Wollen wir besser informiert sein, brauchen wir also Phasen ohne Smartphone, in denen wir zum Beispiel in die Natur gehen, Menschen treffen, vielleicht einen Geburtstag feiern. Dürfen wir das noch? Ja natürlich. Es ist wichtig, zu verstehen, dass niemandem geholfen ist, wenn es mir schlecht geht. Anderen Menschen ist potenziell nur geholfen, wenn ich mich stark und kräftig fühle, um sie unterstützen zu können.

Menschen äußern in ihrer Überforderung manchmal die Absicht, gar keine Nachrichten mehr konsumieren zu wollen. Wäre das auch in Ordnung?
Die Tendenz zu diesem Phänomen der News oder Media Avoidance, also der Weigerung, Medien zu konsumieren, steigt in den meisten Ländern. Es ist ein Bewältigungsmechanismus. Irgendwann ist die oben angesprochene Grenze bei jedem erreicht. Hier kommen also alle Aspekte zusammen, über die wir bisher gesprochen haben: die Ermüdung, aber auch die Verantwortung der Medien allgemein und des Journalismus im Speziellen. Denn was bedeutet es, wenn dieses Phänomen größer wird? Am Ende des Tages führt es dazu, dass die Leute sich nicht mehr über die Zusammenhänge informieren, die sie betreffen. Es hilft nichts, wenn die Menschen sich scharenweise abwenden, Marmelade einkochen und Sauerteigbrot backen. Wir brauchen konstruktiven Journalismus, damit diese Tendenz der Medienverweigerung wieder zurückgeht und die Menschen wieder Lust bekommen, sich zu informieren und aktiver Teil der Gesellschaft zu sein.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 15/2022.

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