Der irrationale Hass auf Israel

Gaza-Konflikt und Lagerdenken

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

In der Mathematik gibt es eine interessante, fast schon philosophische Definition von zwei parallelen Linien: Sie treffen im Unendlichen aufeinander. Daran dachte ich, als mich ein Journalist fragte: "Was ist ihre Meinung zu der humanitären Katastrophe in Gaza?" Er hieß Erwin und kam aus Berlin. Ich traf ihn in einem Café in Wien.

Seit dem 7. Oktober, dem Überfall der Hamas auf Israel, bin ich ein gefragter Interviewpartner und werde zu TV-Talkshows eingeladen. Man holte mich aus der Ablage für Pensionisten, wischte den Staub ab, um mich wahrscheinlich nach Beruhigung der Lage dort wieder abzulegen. Mit der wiederbelebten Bedeutung musste ich erst einmal umzugehen lernen. Konfrontiert mit der Bedeutungslosigkeit seit Pensionsbeginn, dauerte es eine Zeit lang, bis ich den Alltag in der Ablage akzeptierte und mich sogar in ihr wohl fühlte.

Bedeutung

Wie werde ich wohl die Rückkehr erleben, wenn der Krieg vorbei ist? Mit der Gewöhnung an die Bedeutungslosigkeit wieder von vorne anfangen? Der mediale Wert unterschiedlicher Tragödien schafft unterschiedliche Öffentlichkeiten. Ist man selbst betroffen? Kennt man Betroffene, steht mit ihnen in Kontakt, kann man ihre Betroffenheit realistisch wiedergeben und kommunizieren?

In einer der Talk-Show saß mir eine Palästinenserin gegenüber und beschrieb das Leid in Gaza. Ich wollte sie unterbrechen mit grausamen und erschreckenden Beispielen des Überfalls der Hamas auf Israel. Sie ignorierte meine Einwände und redete einfach weiter. Für einen Moment ärgerte ich mich, doch dann verstand ich, dass bei aller inhaltlicher und emotionaler Distanz uns eine Gemeinsamkeit verbindet -die Betroffenheit als Betroffene. Sie sprach von Freunden und Verwandten, die sich in Gaza vor den Bomben fürchten. Ich sprach von Freunden und Verwandten, deren Töchter und Söhne zur israelischen Armee einberufen wurden und deren Eltern jedesmal erschrecken, wenn das Telefon läutet. Als die anderen Gesprächsteilnehmer das Wort ergriffen, klang es aufgesetzt, wie abgeschrieben, ohne die Quelle zu nennen. Wie Stimmen aus dem Publikum, während wir auf der Bühne standen.

Diskussion Einer der Diskussionsteilnehmer, ein Ex-Politiker der SPÖ, forderte wie so viele einen sofortigen Waffenstillstand. Ich antwortete, dass es morgen bereits einen gäbe, wenn Hamas die Geiseln freiließe und die Waffen abgeben, keine Raketen mehr nach Israel schießen würde. Er sprach plötzlich von Netanyahu, dass er ein Faschist sei, ohne auf meine Argumente einzugehen. Ich unterbrach ihn mit der Bemerkung, ich hätte kein Plädoyer zur Verteidigung von Netanyahu abgegeben. Er überging meinen Einwand, wiederholte seine Vorwürfe, sprach von übertriebener Rache und den Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee. Ich entgegnete, dass die Zerstörung der Infrastruktur der Hamas notwendig sei und es nur dann einen Frieden gäben könne, wenn Hamas nicht mehr existieren würde. Wir sprachen aneinander vorbei, als redeten wir in verschiedenen Sprachen, als säßen wir in verschiedenen Räumen, als hätte keiner von uns etwas gesagt, auf das einzugehen wert gewesen wäre.

Plötzlich stand der Ober neben uns: "Was wünschen die Herren?" Ich hatte Erwin vergessen. Während ich ihn beobachtete, war ich mir sicher, dass er das Palästinensertuch, das er sonst trug, im Rucksack versteckt hatte, bevor er das Café betrat. Ich sah in jedem einen potentiellen Antisemiten. Die ganze Situation machte mich paranoid. Wir bestellten beide eine Melange.

Apartheid

"Machen wir weiter mit dem Interview", sagte Erwin. "Israel wird als Apartheid- Staat kritisiert und in Den Haag wegen Völkermord angeklagt, was ist dazu Ihre Meinung?" Ich wollte nicht antworten, nur noch raus aus dem Café, aufh ören, mich zu wiederholen, aufhören, mich zu rechtfertigen. Drei Millionen Menschen verhungerten in Nordkorea durch Fehlplanung der Regierung. Hunderttausende Syrier hat das Regime Assad ermordet mit Giftgas, Bomben und Folter. Eine Million Uiguren wurden in China in Zwangslager deportiert, gezwungen, ihre Religion aufzugeben. Keiner dieser Staaten wurde in Den Haag wegen Völkermord angeklagt - das wollte ich antworten, doch ich schwieg.

Sie verstehen uns nicht, ging mir durch den Kopf. Sie zitieren mit Begeisterung jüdische Stimmen, die Israel kritisieren, als würden sie uns sagen: "Seht, es gibt auch anständige Juden!" Waren Sie jemals in Israel, wollte ich Erwin fragen, doch ich fragte ihn nicht. Araber in Israel unterstützen mehrheitlich das Vorgehen der israelischen Armee, viele von ihnen kämpfen als Soldaten. Doch im Gegensatz zu israelkritischen Juden kommen sie in Medien hier nicht zu Wort. Jeder Straßenname in Israel, jede Busaufschrift, jede Hinweistafel in Krankenhäusern und Behörden ist auf Hebräisch und auf Arabisch beschriftet. Arabische Frauen und Männer arbeiten in Spitälern, bei der Passkontrolle am Flughafen, in Schulen, bei der Polizei und unterrichten auf Universitäten. Die Kritiker, voll Hass und Wut, wissen nichts über das Land, verachten es dennoch und erklären uns Juden, weit weg von Gaza: "Ihr seid mitschuldig, als Juden."

Solidarität

Die Kaffeehaus-Kette Starbucks wird boykottiert, weil ein Jude sie gegründet hatte, ebenso das Kaufhaus Zara. Der Kapitän des U19-Teams der Cricket-Mannschaft Südafrikas wird ausgeschlossen, weil er Jude ist. Das Eishockey-Team aus Israel wird von der Weltmeisterschaft ausgeschlossen -das aus Nordkorea darf teilnehmen. Ein israelischer Fußballspieler in der Türkei wird verhaftet, weil er die Freilassung der Geiseln fordert. Sie drängen uns in eine Ecke und kritisieren gleichzeitig die daraus resultierenden Solidarität. Verfolgen uns weltweit seit Jahrtausenden und werfen uns die bedingungslose Unterstützung Israels, der Heimat der Juden, vor. Als ob nicht unser Verhalten eine logische Konsequenz der Bedingungen sei. Ein Journalist unterbrach einmal ein Gespräch mit mir, als ich ihm auf den Vorwurf der Aggressivität der israelischen Armee antwortete: "Juden in Uniform irritieren euch, ihr seht uns am liebsten in gestreiften Pyjamas."

Viele Jahrhunderte fühlten wir uns wohl in den verschiedensten Ländern und Kulturen. Selbst in Kochi in Südindien bildete sich eine jüdische Gemeinde, baute bereits 1568 eine Synagoge. Im achten Jahrhundert kamen die ersten jüdischen Händler über die Seidenstraße nach China und gründeten im zwölften Jahrhundert die Gemeinde von Kaifeng. Juden gründeten Gemeinden und integrierten sich, ohne ihre Kultur aufzugeben, verhielten sich solidarisch gegenüber der neuen Heimat, öffneten Geschäfte, studierten und wurden Ärzte, Rechtsanwälte und engagierten sich in politischen Parteien, fühlten sich angekommen und zuhause -bis sie wieder vertrieben wurden.

Klischee

"Sie antworten mir nicht!", sagte Erwin vorwurfsvoll. Ich rührte mit dem Löffel in meiner Tasse, ohne ihn anzusehen. Dann blickte ich auf und sagte: "Ich hab keine Lust mehr, über dieses Thema zu sprechen." "Warum haben sie dann dem Interview zugestimmt?", fragte er. "Aus reiner Eitelkeit", antwortete ich und lachte, "es tut mir leid, aber diese Gespräche sind sinnlos, ich weiß, was Sie mich fragen werden, und Sie wissen, was ich darauf antworte. Ich bin parteiisch seit dem 7. Oktober, unfair und einseitig wie ein Fußball-Fan, der seinen Klub auch nicht in Stich lässt, wenn er eine schwierige Zeit durchmacht oder den falschen Trainer engagiert." "Sie entsprechen genau dem Klischee des fanatischen Zionisten, das auch den Antisemitismus fördert", sagte Erwin. Ich musste lachen und sagte: "Sie ignorieren die Tatsache, dass viele Muslime und Christen in Israel Zionisten sind, aber was soll's? Sind wir halt selbst schuld am Antisemitismus, wahrscheinlich nicht wegen der Loyalität zu Israel, sondern weil wir so sind, wie wir sind, das ist Grund genug." Dann erklärte ich ihm meine Theorie mit den beiden parallelen Linien, die einander nie treffen, und verließ das Café. Die Melange hatte ich vergessen, zu zahlen.