Abschotten, abschieben, abwehren – das ist die Linie, auf die sich Europa zubewegt. Deutschland unter Friedrich Merz macht Tempo, Österreich verschärft die Regeln. Doch Spanien geht einen anderen Weg und schwimmt gegen den Strom.
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„Mehr Begrenzung, mehr Zurückweisungen, mehr Rückführungen“. Gleich in seiner ersten Regierungserklärung kündigte Deutschlands neuer Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) einen härteren Kurs in der Asylpolitik an. Damit steht Deutschland nicht allein. Fast alle europäischen Länder setzen in ihrer Migrationspolitik derzeit eher auf Abschottung und Abschiebungen. Erst im März setzte Österreich den Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge aus. 2024 waren fast 8.000 Menschen nur über den Familiennachzug nach Österreich gekommen. Dann legte Mitte Mai der österreichische EU-Migrationskommissar Magnus Brunner (ÖVP) einen neuen Vorschlag für ein effizienteres Asylverfahren vor, mit dem die EU-Mitgliedstaaten illegale Einwanderer noch leichter in Drittstaaten ausweisen können. Künftig soll bereits die Durchreise durch einen sicheren Drittstaat für eine Abschiebung ausreichen.
Streng, hart - gerecht
Brunners Parteikollege, Innenminister Gerhard Karner, ist begeistert. „Die Möglichkeit, Asylverfahren außerhalb Europas zu führen, wurde von Österreich lange gefordert. Das ist auch unbedingt notwendig für eine strenge, harte und damit auch gerechte Asylpolitik. Danke an Kommissar Magnus Brunner für das konsequente Beschreiten des von Österreich eingeschlagenen Wegs“, schrieb Karner in einer Mitteilung auf X.
Hinter den verschärften Migrations- und Asylregeln zahlreicher EU-Staaten stecken nicht selten Strategien der großen Volksparteien, den mit fremdenfeindlicher Stimmungsmache wachsenden Rechtsparteien den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Kein Problem, sondern Notwendigkeit
Doch ausgerechnet Spanien, das seit Jahren unter einem enorm hohen Migrationsdruck steht und wo die Rechtspopulisten von Vox nur fünf Jahre nach ihrer Gründung bereits drittstärkste Kraft im Parlament sind, macht derzeit genau das Gegenteil. Schon als im vergangenen Jahr rund 46.000 afrikanische Bootsflüchtlinge die Kanarischen Inseln vor der Küste Westafrikas erreichten, besuchte Spaniens sozialistischer Regierungschef Pedro Sánchez den Senegal,Gambia und Mauretanien.
Natürlich forderte er von diesen Ländern ein härtestes Vorgehen gegen Schlepperbanden. Vor allem aber bot er Arbeitsverträge an, um die legale Migration zu fördern. „Migration ist kein Problem, sondern eine Notwendigkeit“, sagte Sánchez auf seiner Afrikareise. „Um unseren Wohlfahrtsstaat aufrechterhalten zu können, sind wir auf Migration angewiesen.“ Mit besonderen Visa-Programmen können seitdem Menschen aus diesen afrikanischen Staaten geregelt und zeitlich begrenzt nach Spanien einwandern, um dort zu arbeiten.
Neue Bestimmungen
Nun geht Spanien sogar noch einen Schritt weiter. Am 20. Mai traten neue Einwanderungsbestimmungen in Kraft, welche die Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen für illegale Migranten deutlich verkürzen und vereinfachen, die sich bereits im Land befinden. Damit will die Madrider Regierung in den kommenden drei Jahren bis zu 900.000 Migranten ohne Papiere legalisieren.
Dabei hat Spanien eigentlich sehr strenge Asylregeln und erkennt nur 18 Prozent sämtlicher Anträge an, womit das Land weit unter dem EU-Durchschnitt von knapp 40 Prozent liegt. Doch Spaniens Einbürgerungsregeln sind relativ großzügig im europaweiten Vergleich.
Spaniens Migrationsministerin Elma Saiz Delgado ist sich bewusst, dass ihre Regierung mit den neuen Einwanderungsbestimmungen „in Europa gegen den Strom schwimmt“. Aber ihr Land brauche – wie eigentlich auch alle anderen EU-Länder – dringend Arbeitskräfte, die mit Steuern helfen, die Staatskassen zu füllen und in einer stark alternden Gesellschaft ins Rentensystem einzahlen.
„Tatsächlich braucht Spanien nach Schätzungen jährlich bis zu 300.000 Migranten, um das Wirtschaftswachstum und die Zahl der arbeitenden Bevölkerung stabil zu halten“, erklärt Carlos Victoria, Wirtschaftsprofessor an der Comillas-Universität in Madrid. Gerade in der Gastronomie, Pflege, der Landwirtschaft, Fischerei und auf dem Bau werden Arbeitskräfte gesucht.
Obwohl Spanien mit einer Arbeitslosenquote von rund zwölf Prozent zu kämpfen hat und einer sogar doppelt so hohen Jugendarbeitslosigkeit, können diese Wirtschaftsbereiche aufgrund teils harter Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen nur schwer mit Spaniern besetzt werden, so Victoria.
Während vor allem viele Marokkaner und Algerier in Andalusien als Erntehelfer arbeiten, finden lateinamerikanische Migranten, die mit Touristenvisa ins Land kommen und die größte Migrationsgruppe darstellen, aufgrund der Sprache Anstellungen in der Gastronomie, im Tourismussektor, aber auch in der Alten- und Krankenpflege, wo händeringend Personal gesucht wird.
Integration statt Abschiebungen
Im Kampf gegen die Schattenwirtschaft, durch die dem Staat Millionen an Steuergeldern verloren gehen, baut Spanien nun die bürokratischen Hürden für illegale Einwanderer ab, um deren Aufenthalt zu regularisieren. Illegale Einwanderer brauchen auch nicht mehr drei Jahre lang wie bisher, sondern nur noch zwei Jahre in Spanien gelebt haben, um die Anträge für Aufenthaltsgenehmigungen stellen zu können.
Auch der Familiennachzug wird erleichtert. Angehörige eingebürgerter Einwanderer können die Verfahren von Familienzusammenführung sogar von Spanien aus beantragen. Zudem erhalten Einwanderer, die ihre Aufenthaltserlaubnis verloren haben, eine zweite Chance, ihren Status erneut zu legalisieren.
Besonders positiv bewertet Diego Fernández, Migrationsexperte bei der spanischen Caritas, die Ausweitung des „Verwurzelung“-Konzepts in den neuen Einwanderungsregeln auf fünf Kategorien. Dabei handelt es sich in Europa um ein einzigartiges Konzept, das Migranten aufgrund sozialer oder familiärer Aspekte den Erhalt von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen gewährt. Auch Arbeitsverträge und Studienplätze können dafür geltend gemacht werden. Ab sechs Monaten im Land erhalten Asylwerber in Spanien automatisch ein Arbeitsrecht.
Dennoch sieht auch Fernández viele Schwachpunkte in der neuen Gesetzgebung. „Obwohl illegale Einwanderer jetzt früher als vorher ihre Anträge stellen können, die bürokratischen Hürden abgebaut wurden, sind sie immer noch gezwungen, zwei Jahre illegal in Spanien zu leben und zu arbeiten“, so der auf Migrationsrecht spezialisierte Rechtsanwalt der Caritas. Immer noch seien die Auflagen für Familienzusammenführungen sehr hoch. „Wer zum Beispiel seine Kinder nachholen möchte, braucht einen Wohnraum, den nicht einmal ich mit meinem Gehalt einfach bezahlen könnte. Wie soll das ein Einwanderer mit Schwarzarbeit schaffen, der aufgrund fehlender Papiere auch nur selten einen Mietvertrag für eine angemessene Wohnung bekommt?“
Große Verunsicherung
Besonders problematisch sind aber die Auswirkungen für Asylbewerber, dessen bisherige und teils jahrelange Aufenthaltsdauer mit den neuen Regeln nicht anerkannt werden, sollte ihr Asylantrag abgelehnt werden, erklärt Mauricio Valiente, Vorsitzender der spanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (CEAR). „Sie sind in Spanien verwurzelt, leben und arbeiten hier, und plötzlich wird ihre Uhr wieder auf null gestellt. Das ist wirtschaftlich absurd und menschlich unmoralisch“, kritisiert Valiente. Viele Asylbewerber seien verunsichert.
Die spanische Regierung gesteht ein, dass die neuen Einwanderungsregeln, die zunächst für drei Jahre gelten sollen, nicht alle Migrationsgruppen wie gewünscht abdecken. Deshalb wirbt die sozialistische Minderheitsregierung von Premier Pedro Sánchez nun im Parlament auch für eine „außerordentliche Regularisierung“, mit der bis Ende des Jahres rund 470.000 zusätzlichen illegalen Einwanderern eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erteilt werden könnte.
Rechte schützen
„Migranten sind mehr als billige Arbeitskräfte“: Diese Initiative basiert auf einem Ende 2021 von der spanischen Bischofskonferenz und verschiedenen Menschenrechtsorganisationen wie der CEAR, Caritas oder Red Acoge im Parlament eingereichten Volksbegehren mit über 600.000 Unterschriften. „Wir müssen die Rechte illegal in Spanien lebender Einwanderer schützen. Es handelt sich nicht um billige Arbeitskräfte und bloße Instrumente, unseren Wohlfahrtsstaat zu erhalten. Es sind Menschen mit einer Würde und deshalb ist es für uns eine moralische Verantwortung, sie auch mit Würde zu behandeln und vor Ausbeutung zu schützen“, stellt Fernando Redondo, Migrationsbeauftragter der spanischen Bischofskonferenz, klar.
Doch Spaniens konservative Oppositionspartei PP steht der Massenlegalisierung von Einwanderern ohne Papiere eher skeptisch gegenüber. „Aber aus humanitärer, wirtschaftlicher und demografischer Sicht gibt es eigentlich kaum eine Alternative“, sagt Mauricio Valiente, Vorsitzender der spanischen Kommission für Flüchtlingshilfe.
Wäre der spanische Weg gegen den Strom also auch eine Alternative für Österreich? Peter Huber glaubt das nicht. Der Migrationsökonom am Wifo-Institut betont, dass Österreichs Lage nicht mit der Spaniens vergleichbar sei: „Österreich kämpft mit einer schrumpfenden Wirtschaft und steigender Arbeitslosigkeit, Spanien wächst“. Einheitliche, europaweite Lösungen seien schwer, da die Probleme von Land zu Land stark variieren.
Fehlende Sprachkenntnisse
Ob Massenlegalisierungen von illegalen Einwanderern wirtschaftlich helfen, hängt laut Huber von Arbeitsmarkt, Konjunktur und Integrationschancen ab. Im Gegensatz zu den größtenteils gering qualifizierten Arbeitsmigranten in Österreich, deren schnelle Integration häufig schon an fehlenden Sprachkenntnissen scheitert, habe es Spanien leichter mit dem Profil seiner Einwanderer.
Dem stimmt auch der Migrationsbeauftragte Fernando Redondo zu: „Bei uns fällt die Integration vor allem der vielen lateinamerikanischen Einwanderer durch die kulturelle und sprachliche Nähe leichter als vielleicht die von Migranten aus dem Nahen Osten in zentraleuropäischen Ländern wie Deutschland und Österreich.“
Doch ob Spanien seinen eigenen Weg in der Migrationspolitik zu Ende gehen kann, steht in den Sternen. Vieles hängt von Europa ab. Bis zum Juni 2026 müssen die europäischen Asyl- und Migrationsregeln von allen Mitgliedstaaten übernommen werden – und da sind Massenlegalisierungen nicht vorgesehen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 25/25 erschienen.