Ob in der Ukraine, im Sudan oder im Kongo – die Zahl der Krisen wächst, die Spendenmittel schrumpfen. Nicht ein bisschen, sondern dramatisch. Auch Österreich kürzt heuer und 2026 das Budget für Entwicklungshilfe. Christoph Jünger, Geschäftsführer von UNICEF Österreich, über den schleichenden Rückzug der Solidarität, gefährdete Hilfsprogramme und die unbequeme Frage, was eine gerechte Welt uns heute noch wert ist


Im letzten Jahr gab es so viele Krisenherde wie nie zuvor. Gab es denn auch so viele Spenden wie noch nie?
Nein – und ich kann jetzt nur aus UNICEF-Sicht sprechen. 2022 war mit dem Krieg in der Ukraine der Höhepunkt. Die Hilfsbereitschaft war enorm. Das hat uns sehr viel ermöglicht. 2023 und 2024 hat das nachgelassen. Nicht extrem, aber doch.
Geht den Spendenorganisationen das Geld aus?
Nein. Die Spendenbereitschaft in Österreich ist groß. Wenngleich die Österreicherinnen und Österreicher sich gerne spendenfreudiger sehen, als sie im Vergleich sind. Das zeigt der World Giving Index. Prinzipiell ist das Thema Solidarität gesellschaftlich sehr verankert. Wir vergleichen uns gerne und sehen uns dabei in einem besseren Licht. Aber wenn wir über die Grenzen schauen, gibt es im Vergleich zu Deutschland im Bereich wohlhabenderer Menschen noch viel Potenzial. Im angelsächsischen Raum ist Philanthropie überhaupt ein Tischthema. Da gibt es einen Diskurs. Dieser fehlt uns. Österreich hat eine der höchsten Millionärsdichten Europas. Es ist sehr viel Wohlstand im Land. Am Thema Philanthropie müssen wir gemeinsam arbeiten: Was bedeutet es, in Kinder und Jugendliche zu investieren? Was kommt wieder retour? Was könnte man an Folgekosten vermeiden?
Wie würden Sie den Zustand der weltweiten humanitären Hilfe aktuell beschreiben?
Als ich die Liste der Folgewirkungen der bevorstehenden Kürzungen von Regierungsmitteln gelesen habe, wollte ich aufhören zu lesen: Wie kann man da zuschauen? „Desaströs“ ist vielleicht übertrieben, weil wir ja vor Ort aktiv bleiben und Dinge tun. Aber es ziehen dunkle Wolken auf. In der Ukraine, im Sudan, im Kongo. Die Zahlen sind erschreckend. Das sind Bilder, da tue ich mir auch als Profi schwer, diesen Wahnsinnszahlen überhaupt noch zu folgen. Im Kongo beispielsweise reden wir von 10.000 Fällen von Vergewaltigungen in kurzen Zeiträumen. Wir müssten viel mehr tun, können es aber nicht. Viele Krisenregionen sind seit Jahren zu 70 Prozent unterfinanziert. Es ist eine Dauerkrise. Wir sind damit konfrontiert, dass wir nicht nur einen steigenden Bedarf aufgrund der drastisch gestiegenen Anzahl von Krisen und Konflikten haben. Wir kommen auch aus einer Unterfinanzierung, wo wir vieles nicht machen konnten, was wir machen hätten sollen. Jetzt kommt das Damoklesschwert der Finanzierungskrise dazu.
Was heißt das vor Ort?
Unsere Kolleginnen und Kollegen von den jeweiligen Programmen vor Ort müssen aktuell brutale Entscheidungen treffen: Was priorisieren wir, was geht sich aus, was nicht? In Ländern wie dem Sudan geht es dabei um Entscheidungen über Leben und Tod. Es ist zum Heulen.
Hat die internationale Staatengemeinschaft die Ärmsten der Welt aus den Augen verloren?
Ich wäre vorsichtig mit Pauschalisierungen. Das würde der Situation nicht gerecht werden. Dieses schwarz-weiß-Denken tut uns nicht gut. Es gibt immer noch viele Regierungen, die dem Thema Aufmerksamkeit widmen. Aber wir beobachten eine stärkere Innenorientierung: America first, Austria first. In den Niederlanden, in Großbritannien. Diese Orientierung lenkt den Fokus auf das, was im eigenen Land passiert und tendenziell weniger auf das, was in der Welt passiert. Die geopolitische Lage verschärft das. Natürlich sehen wir auch, dass es den Druck gibt, die militärischen Ausgaben zu erhöhen. Lassen wir Menschen im Stich? Teilweise ja. Wir machen mehr die Augen zu. Wir priorisieren Themen anders als in der Vergangenheit. Vieles, was aufgebaut wurde, droht zu zerbrechen. Wir werden uns schwertun, das Niveau in den nächsten Jahren zu halten oder entsprechende Strukturen später wieder aufzubauen, wenn sich die Gesellschaften wieder mehr nach außen orientieren. UNICEF hat 2024 rund 441 Millionen Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Formen Unterstützung zukommen lassen. Im Jahr 2024 wurden 9,3 Millionen unterernährte Kinder behandelt. Wenn weniger Geld da ist, können wir 2025 oder 2026 mindestens 2,4 Millionen mangelernährte Kinder weniger versorgen als bisher. Das ist in dieser Größenordnung für uns unvorstellbar.
Was bedeutet das langfristig?
Noch ist unklar, wie drastisch die Kürzungen ausfallen werden. Wir rechnen bei UNICEF 2026 mit rund 20 Prozent weniger Mitteln im Vergleich zu 2024 – das wären über 1,5 Milliarden US-Dollar. Die größten Auswirkungen werden jene Staaten treffen, die ohnehin schon fragil oder von Konflikten betroffen sind. Strukturen, die mühsam aufgebaut wurden, müssen wieder abgebaut werden. Fortschritte rutschen ins Negative. Wir haben etwa die Kindersterblichkeit in den letzten 23 Jahren um 52 Prozent reduziert. Das ist enorm. Das wird sich nicht fortsetzen lassen. 55 Millionen Kinder konnten seit 2000 aus der Unterernährung geholt werden. Wir haben es geschafft, dass viele Mütter nicht mehr bei der Geburt sterben müssen. Bis 2021, 2022 waren mehr Kinder und Jugendliche in Bildung als je zuvor. Wir haben viele – vielleicht auch zu wenig beachtete – Schritte gemacht. Es stellt sich die Frage, ob wir es in Folge überhaupt noch schaffen, solche Länder zu stabilisieren. Das fällt uns irgendwann auf die Füße. Uns geht teilweise das Geld für Ready-to-use-Ernährung aus.


Christoph Jünger
ist seit November 2021 Geschäftsführer (Executive Director) des Österreichischen Komitees für UNICEF. Er hat Internationale Wirtschaftswissenschaften in Innsbruck studiert, einen MBA in den USA absolviert und war zuvor in leitenden Positionen bei SOS Kinderdorf International sowie Licht für die Welt tätig.
Das ist die bekannte Erdnusspaste?
Richtig. Die Finanzierung für diese lebensrettende Erdnusspaste gegen akute Mangelernährung ist in Gefahr. Von 32.000 Zentren weltweit, in denen unterernährte Kinder betreut werden, sind derzeit 28.000 gefährdet.
Was kostet so eine Behandlung?
30 Cent pro Packung. Drei Packungen am Tag, sechs Wochen lang, bringt ein Kind aus schwerer Unterernährung. Das ist etwa ein Dollar am Tag. Im Sudan hat sich die Zahl der hilfsbedürftigen Menschen in den letzten anderthalb Jahren von 7,5 auf 15 Millionen verdoppelt. Viele davon sind Kinder. Dem haben wir nichts mehr entgegenzuhalten. Oder wenig, viel zu wenig. Unabhängig davon: Wir versäumen es, rechtzeitig in Kinder und Jugendliche zu investieren, damit sie eine faire Chance bekommen. Es wäre klüger, früher zu handeln. Das wäre auch betriebswirtschaftlich sinnvoller, als später mit Entwicklungshilfe einzuspringen. Aber wir kürzen genau dort zuerst. Wir sind mit Krankheitsausbrüchen in den Regionen konfrontiert. Die machen auch vor unseren Grenzen keinen Halt. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass wir die Folgen auch in Europa spüren werden. Stellen wir uns dem – oder nicht?
Gibt es positive Beispiele für gelungene Entwicklungszusammenarbeit?
Unbedingt. Zum Beispiel in Malawi, einem der ärmsten Länder der Welt. Wir haben dort die „African Data and Drone Academy“ aufgebaut. Eine Zukunftstechnologie. Mehr als 1.000 junge Erwachsene haben wir bereits geschult. Sie erwerben Drohnenführerscheine, gründen Firmen, finden Jobs. 60 Prozent der Absolvent:innen sind Frauen. 92 % aller Absolventinnen finden einen Job und können gut davon leben. Ein Beispiel für Potenzial, das wir oft übersehen.
Warum nutzen wir solche Potenziale nicht stärker – etwa für den Arbeitsmarkt?
Weil wir viele Grenzen im Kopf haben. Es geht nicht darum, massenhaft Menschen zu holen. Aber wenn wir Programme wie „Educate to Employ“ großflächig ausrollen würden, könnten wir gezielt Chancen schaffen – und gleichzeitig die Länder wirtschaftlich stärken. Sie ertüchtigen, selber ins Tun zu kommen, um die finanzielle Abhängigkeit von uns zumindest zu lockern. Wir haben Pilotprojekte. Wir brauchen nur den Mut, es zu tun.
Wie schlüsselt sich das Spendenbudget von UNICEF auf?
Global waren es 2024 8,7 Milliarden Dollar insgesamt. In etwa zwei Milliarden Dollar kommen aus privaten Quellen – und der Rest kommt von den Regierungen in den unterschiedlichen Ländern.
Was entgegnen Sie Menschen, die sagen, meine Spende bringt eh nichts?
Die Spende macht den Unterschied. Und viele davon machen einen großen Unterschied. Es ist egal, wie klein oder groß die Spende ist. Noch ein Beispiel: 8,6 Millionen US-Dollar Investment haben bewirkt, dass wir in Äthiopien 600.000 Kinder mit wichtigen Services versorgen können – etwa in Bezug auf Geburtsregistrierung.


Leben oder Tod. Während die Zahl der Hungernden steigt, droht vielen Hilfszentren die Schließung. In Krisenregionen wie dem Sudan entscheiden Budgetkürzungen über Leben und Tod.
© UnicefWir müssten viel mehr tun, können es aber nicht. Viele Krisenregionen sind seit Jahren zu 70 Prozent unterfinanziert
Und was sagen Sie jenen, die sagen, wir haben selbst genug Probleme?
Es sollte nicht um einen Wettbewerb der Problemstellungen gehen. Das, was hierzulande zu tun ist, sollte nicht in Konkurrenz zu einer Verantwortungshaltung stehen, die wir auch über unsere Grenze hinaus haben. Und eine Verantwortung haben wir. Wir wissen ganz genau, dass ein hoher Prozentsatz des emittierten CO2 aus Industrieländern kommt und wir wissen ebenso genau, dass die meisten Länder, die davon deutlich betroffen sind, im globalen Süden sind. Es wäre billig, wenn wir uns da aus dem Staub machen. Es gibt genug Möglichkeiten, Verantwortung wahrzunehmen.
Wie begegnen Sie der Kritik, Spenden würden versickern oder Hilfsstrukturen seien ineffizient?
Ich kann aus UNICEF-Perspektive sagen, dass wir ein sehr dichtes Kontrollnetz aufgebaut haben, um genau das zu verhindern. Natürlich kann man nie alles zu 100 Prozent ausschließen –, aber es passiert verhältnismäßig wenig. Die meisten Non-Profit-Organisationen setzen viel daran, Mittel effizient zu verwenden. Natürlich gelingt nicht jedes Projekt. Aber wir lernen aus Fehlern und verbessern uns laufend. Kann man effizienter werden? Ja, keine Frage. Das muss auch passieren, als eine Antwort auf die Spendenkrise. Es ist wahnsinnig viel Druck im System und der muss bewirken, dass wir Dinge besser machen.
Wie wird entschieden, wohin die Gelder fließen?
Das ist sehr komplex. Wenn irgendwo eine Notlage eintritt, versuchen wir sofort, Mittel bereitzustellen. Wie viel wir vor Ort tun können, hängt davon ab, wie viel wir an Spenden einwerben können. In der Ukraine war das sehr erfolgreich – in Ländern wie dem Sudan oder der DR Kongo, die medial kaum vorkommen, ist das schwieriger. Auch Regierungen setzen geografische oder thematische Schwerpunkte. Österreich hat sogenannte Fokusländer. Und je nachdem, wie Regierungen ihre Budgets kürzen, werden dort wieder Mittel entzogen. Wir versuchen, durch ein Basisfunding allen Ländern zumindest ein Mindestmaß an Programmen zu ermöglichen. Darüber hinaus entscheiden individuelle Spenderinnen und Spender, Stiftungen oder Regierungen über ihre Schwerpunkte.
Wie kann man Menschen in wohlhabenden Gesellschaften sensibilisieren, wenn die Aufmerksamkeit sinkt?
Das ist extrem schwierig. Es fällt uns schwer und teilweise ist es für uns unmöglich, ohne entsprechende mediale Unterstützung zu sensibilisieren und Aufmerksamkeit zu bekommen. Unsere Kommunikation muss sich verändern. Wir brauchen einfache, klare Botschaften. Gleichzeitig können wir in 1:1-Gesprächen viel mehr zeigen – etwa über Bildungsprojekte. Erst da entsteht ein differenzierteres Bild.
Braucht es eine neue Erzählung in der Ansprache?
Mit der Frage beschäftigen wir uns. Und so eine richtig gute Antwort habe ich nicht. Die ganze Kommunikationslandschaft verändert sich. Da tun wir uns als Non-Profit-Organisationen bisweilen ein bisschen schwer, mitzugehen und andere Kommunikationswege zu gehen. Das ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance.
Lassen wir Menschen im Stich? Teilweise ja. Wir machen mehr die Augen zu. Wir priorisieren Themen anders als in der Vergangenheit
Unter dem Strich ist es – überspitzt formuliert – weniger die Mitleidsmasche, sondern die nackten und nüchternen Zahlen, die eine Wirkung entfalten?
Es ist eine Mischung von beiden. Mit dem Begriff Mitleidsmasche tue ich mir schwer. Wir versuchen, Lebenswelten zu transportieren, in welchen die Menschen leben. Das sehen wir nicht gern. Aber die ist, so wie sie ist. Kinder und Jugendliche sind keine Bittsteller. Das ist uns ganz wichtig. Die haben verdammt nochmal ein Recht. Ein Recht auf Bildung, ein Recht auf Ernährung, Kinderrechte. Das in einer Form zu kommunizieren, die das auch transportiert, ist eine Herausforderung.
Braucht es in Zeiten wie diesen wieder Aktionen wie „USA for Africa“ von Harry Belafonte oder Band Aid von Bob Geldof?
Es braucht viele Bob Geldofs. Menschen, die in ihrem Umfeld aktiv werden – ob Privatpersonen, Unternehmen oder Jugendliche. Wir haben ein Youth Advisory Board mit 14- bis 21-Jährigen, die tolle Initiativen starten. Menschen, die Geburtstagsaktionen machen. Es sind oft die kleinen Dinge, die Großes bewirken.
Steckt die Idee der globalen Solidarität in einer Krise?
Wir diskutieren genau das. Eine klare Antwort habe ich noch nicht. Aber wir müssen verstärkt über Wirkung sprechen, über Investition und ihren Return. Das ist eine Sprache, die viele Menschen besser verstehen. Solidarität bleibt wichtig – aber auch die ökonomische Logik hat ihre Berechtigung.
Müssten Organisationen wie UNICEF nicht lauter auftreten – gerade wenn Staaten Rüstungsausgaben erhöhen und bei der Entwicklungshilfe kürzen?
Wir versuchen, präsent zu sein, im Dialog zu bleiben. Nicht alles über Presseaussendungen zu klären. Ich bin mir nicht so sicher, ob ein lautes Schreien eine gute Lösung ist.
Wenn Sie heute die Außenministerin Beate Meinl-Reisinger anrufen könnten – was würden Sie ihr sagen?
Ich würde sie bitten, ein Zeichen zu setzen. Dass Österreich sich nicht dem globalen Trend anschließt und bei Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe kürzt. Dass wir sagen: Wir stehen zu unserer Verantwortung. Einige Länder tun das – Spanien zum Beispiel, auch Island. Ich würde mir wünschen, dass Österreich dazugehört. Und ich würde anregen, auch auf EU-Ebene dafür zu kämpfen, dass diese Themen sichtbar bleiben.
Glauben Sie noch an eine gerechte Welt?
Wenn ich das nicht täte, würde ich meinen Job nicht machen. Ich empfinde mich nicht als ohnmächtig, weil man ja etwas tun kann. Wir wissen, was auf uns zukommt – und das macht mich sehr betroffen, weil wir als Organisation natürlich über viel mehr Informationen verfügen, als draußen bekannt ist. Aber wenn wir alle anzahn, dann kann man noch viel erreichen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 21/25 erschienen.