Der deutsche Kanzler Friedrich Merz setzt auf Härte, kalkulierte Provokation und Alleingänge. Vieles wirkt kantig, manches bleibt vage und (noch) unbeantwortet. Doch Stillstand ist keine Option mehr. Darin liegt auch eine Chance: für neue Klarheit - und bestenfalls mutige Reformen
Nordrhein-Westfalen, kurz NRW, hat fast 18 Millionen Einwohner – doppelt so viele wie ganz Österreich. Einst war hier das Kohle- und Stahlrevier Europas. Die Städte im Bundesland sind alle größer als Graz: Köln, Düsseldorf, Dortmund, Essen. Das geht oft unter im gern gezogenen (und meist hinkenden) Vergleich mit dem großen Nachbarn. In NRW wurde am Sonntag gewählt. Die CDU siegte, die SPD blieb zweitstärkste Kraft – und die AfD verdreifachte sich fast. Die AfD als Ostphänomen ist in Westdeutschland angekommen.
Für die noch junge deutsche Koalition war es der erste Stimmungstest. Bestanden, aber ohne Glanz. Für Friedrich Merz (CDU) war es der erste Stresstest. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte er angekündigt, die Menschen sollten im Sommer spüren, dass sich etwas verändert – zum Besseren. Spüren sollte das auch Österreich. Bestenfalls. Deutschland bekommt eine neue Regierung, die anpackt, die verspricht, dass „etwas im Land vorangeht“. 500 Milliarden Euro „Sondervermögen“ für Klimaschutz, Wirtschaft und Infrastruktur. 100 Milliarden für die Bundeswehr. Eine Investitionsoffensive, auch mit Erwartungen in Wien verbunden. Und jetzt? Die Deutschen liefern nicht. Noch nicht. Seit Mai 2025 ist SchwarzRot – „die letzte Patrone der Demokratie“ – im Amt. Die Euphorie ist verflogen. Strukturelle Reformen bleiben vage.
Zwischen Plan und Realität
Dabei unterscheidet sich Merz klar von seinen Vorgängern. Wo Merkel Macht pragmatisch verwaltete und Scholz auf stoische Risikominimierung vertraute, setzt Merz auf Härte, kalkulierte Provokation und Alleingänge. Er sagt, was er denkt. Das ist ungewohnt – und riskant. Beispiele gibt es reichlich. „Links ist vorbei“, rief er im Wahlkampf, wetterte gegen „grüne und linke Spinner“ und war kurz darauf als Kanzler auf ihre Stimmen angewiesen. Die verpasste Kanzlermehrheit im ersten Wahlgang: ein Novum. Die Krise um die Verfassungsrichterwahl. Die einseitige Ankündigung, Waffenlieferungen an Israel teilweise auszusetzen. Merz entscheidet oft allein und steht damit prompt in der Kritik.
Auch die Diskrepanz zwischen Ankündigung und Realität zieht sich durch seine ersten Monate im Amt: Vor der Wahl versprach er „keine neuen Schulden“, danach brach er selbst die Rekordmarke. Und: Der Fünf-Punkte-Plan zur Migrationspolitik, den Merz noch als Oppositionsführer im Jänner eingebracht hatte: beschlossen mit Stimmen der AfD. Kritiker sahen darin einen Bruch der Brandmauer. Merz blieb stur: „Mir ist völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht.“ Dabei hatte er zuvor parteiübergreifende Absprachen gegen solche Zufallsmehrheiten empfohlen. Sein Kalkül, die Ränder zu schwächen und die Mitte zu stärken, ist nicht aufgegangen. Die AfD liegt in Umfragen zwischen 25 und 26 Prozent. Die Linke gibt kräftige Lebenszeichen. Die viel zitierte politische Mitte ist auf einem historischen Tiefstand.
Abwarten als Regieren zu verkaufen, das tut Kanzler Friedrich Merz nicht
Der Klartext-Kanzler
Merz, der einstige Manager, ist, wie er ist. Wie er auftritt, ist keine Überraschung: direkt, klar, ohne behübschende rhetorische Schleifen. Verständlich, aber oft auch brachial. 2023 nannte er in einer Talkshow die Söhne von Migranten „kleine Paschas“ – und verteidigte den Begriff vehement: „Bei den Paschas bleibt’s!“ Israels Rolle im Nahen Osten nannte er „Drecksarbeit“. Das sind keine Ausrutscher, sondern kalkulierte Provokationen – auch, um den Raum des Sagbaren nicht der AfD zu überlassen.
Das macht ihn angreifbar. Einerseits. Andererseits wirkt diese Impulsivität für viele authentisch. Merz unterscheidet sich fundamental von Merkel und Scholz. Führung heißt für ihn: machen statt abwägen, durchziehen statt moderieren. Der deutsche Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte bringt den Stil auf den Punkt: „Merz neigt nie zur Übergrübelung.“ Er will gestalten. Das nimmt man ihm ab. Auf internationalem Parkett gelingt das gut. Es ist im Übrigen jene Führung, die sich viele von Deutschland erwartet haben.
Erfolg (noch) ungewiss
Und dennoch: Nach einem kurzen Umfragehoch sinken Kanzler- und Regierungswerte. Nur 32 Prozent sind mit seiner Arbeit zufrieden, 26 Prozent sagen, sie vertrauen ihm. Das ist ein Warnsignal. Über das Schicksal des Klartext-Kanzlers, der angetreten ist, „Politik aus der Komfortzone zu holen“, zu urteilen, ist freilich verfrüht. Auf der Haben-Seite steht auch: Abwarten als Regieren zu verkaufen, das tut er nicht. Ein bisschen mehr davon würde auch der österreichischen Regierung guttun.
Die wirtschaftliche Lage ist da wie dort miserabel. Führende deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Prognosen für 2025 gesenkt. Niemand rechnet mit mehr als 0,3 Prozent Wachstum. Kein Lichtblick, der das Wort „Wirtschaftswende“ (Merz) rechtfertigt. 2026 wird ein Miniwachstum von 1,3 Prozent erwartet. Aber: Mit Blick auf Deutschland hat man das Gefühl, dass der Ernst der Lage erkannt wurde. Es lohnt sich der umgekehrte Vergleich. „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist (…) mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar“, sagte Merz Ende August. Eine ehrliche Bestandsaufnahme. Sie fehlt in Österreich.
Antworten auf dieses Dilemma gibt es freilich da wie dort keine. Aber den Mut zur Benennung – den gibt es immerhin in Berlin.