Wer nicht glaubt, dass der Mensch tatsächlich ein Herdentier ist, muss sich nur im Journalismus umschauen, dann weiß er es sofort. Die Selbstgleichschaltung funktioniert ganz einfach: Keiner will der Trottel sein, der nicht rechtzeitig bemerkt hat, wohin die Meinungsreise geht.
Der Mensch, so sagt man, ist ein Herdentier, und wer das nicht glaubt, muss sich nur im Journalismus umsehen, dann wird es ihm klar. Die affenartige Geschwindigkeit, mit der sich in so gut wie allen Themen von Relevanz – aber auch in der Bewertung von intergalaktischen Veranstaltungen wie dem Eurovision Song Contest – eine von allen geteilte und also reproduzierte Meinung bildet, ist beeindruckend und beängstigend zugleich. War das immer so? Vermutlich ja, aber es hat früher länger gedauert, weil dem Meinungsjournalisten nicht alle anderen Meinungen in Echtzeit zur Verfügung standen.
Da verging doch ein bisschen Zeit, bis man einen Überblick darüber hatte, was denn die Kollegen von New York Times, Economist, FAZ, NZZ und Le Monde so ungefähr dachten. Abgeschrieben und fremdgemeint wurde immer, aber man musste in der Regel lesen, was die anderen schrieben, um herauszufinden, was sie dachten. Das alles ist heute nicht mehr nötig, denn so gut wie jedes Medium der Welt veröffentlicht den einen Satz, von dem seine Social Media Manager vermuten, dass er „funktioniert“, noch bevor ein Kommentar publiziert ist. Es würde einen nicht wundern, sollte sich demnächst herausstellen, dass sie das bereits machen, bevor das Stück geschrieben ist.
Haltet den Dieb
Man muss sich also auch nicht darüber wundern, dass der Begriff „Selberdenker“ vor allem in journalistischen Kreisen zum Schimpfwort geworden ist. Die Verachtung und lautstarke Beschimpfung von Selber- und Querdenkern jeder Provenienz ist das Haltet-den-Dieb-Geschrei der Meinungsherde, die doch irgendwo in den hinteren Winkeln ihres kollektiven Bewusstseins eine Erinnerung daran aufbewahrt hat, dass das Selberdenken früher Bestandteil des eigenen Berufs gewesen ist. Diese Zeiten sind vorbei. Spätestens seit 2015, als Angela Merkels berühmter Satz „Wir schaffen das“ als eine Art zentrale Befehlsausgabe an alle Redaktionen des deutschen Sprachraums missverstanden wurde, steht innerhalb von wenigen Minuten fest, was alle während der nächsten Jahre denken werden.
Das beeindruckendste Beispiel des neuen Jahrtausends war sicher die Pandemie, während derer es keine Übertreibung war, von einer Selbstgleichschaltung der Medien zu sprechen, auch dann, wenn man mit dem Begriff „Gleichschaltung“ besonders vorsichtig umgeht, was man jedenfalls tun sollte. Die Idee, dass da irgendwelche verschwörerischen Finsterlinge in Davos, Berlin oder Unterstinkenbrunn sitzen, die über geheime Kanäle und mit erpresserischen Mitteln dafür sorgen, dass überall das Gleiche geschrieben wird, ist natürlich Unsinn. Selbstgleichschaltung bedeutet, dass keiner der Journalisten, die damit beauftragt sind, die Meinung eines Mediums zu formulieren, der Trottel sein will, der nicht rechtzeitig verstanden hat, wohin die Meinungsreise geht. Wenn er Pech hat, ist er von einem Tag auf den anderen ein „Rechter“, und wer will das schon.
Keiner will der Trottel sein, der nicht rechtzeitig bemerkt hat, wohin die Meinungsreise geht
War der Prozess der Selbstgleichschaltung noch bis zur Pandemie durch seine Unumkehrbarkeit gekennzeichnet – wenn alle einmal recht hatten, haben sie auf alle Zeit recht, man könnte das die Drosten-Konstante nennen –, so ist neuerdings zu beobachten, dass es auch in die andere Richtung gehen kann. Von einem Tag auf den anderen haben zum Beispiel immer schon alle gewusst, dass die militärische Antwort Israels auf das abscheuliche Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 doch mehrere rote Linien des Völkerrechts überschreitet. Warum plötzlich ein kollektiver Meinungsumschwung stattfindet und Mitte Mai alle gleichzeitig schreiben, dass die seit März verhängte Blockade von Hilfslieferungen eine solche rote Linie darstellt, wird man vielleicht nie erfahren.
Gewiss, die Welt ist auch in diesem Fall nicht einfach schwarz und weiß, und es wäre lächerlich, so zu tun, als wäre die Selbstgleichschaltung total. Es gab und gibt immer Journalisten und Medien, die die Dinge anders betrachten (vielleicht haben die kein Internet). Aber es wäre auch lächerlich zu behaupten, dass es den „Mainstream“, der durch Selbstgleichschaltung entsteht, gar nicht gibt. Und sie ist wohl auch einer der Gründe dafür, dass so viele Menschen in Politikern wie Donald Trump nicht die Katastrophe sehen, die alle Medien in ihm sehen, sondern eine disruptive Chance, die er im Übrigen tatsächlich ist, weil er als einziger weit und breit die Floskel „Weiter wie bisher ist keine Option“ mit Leben erfüllt. Karl Nehammer, der die österreichischen Koalitionsverhandlungen mit diesem Motto versehen hat, wird jetzt Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank, das war dann doch eine Option.
Die Deformation des Nachrichten- und Meinungswesens durch digitale Beschleunigung und sozialmediale Trivialisierung ist vermutlich unumkehrbar, es sei denn, es passiert auch in diesem Bereich, was immer passiert, wenn alle in eine Richtung rennen, dass nämlich ein paar auf die Idee kommen, einfach stehen zu bleiben, sich umzusehen und zu bemerken, dass die Welt eigentlich ein bisschen größer, bunter und interessanter ist, als man meinen möchte, wenn man mit der Herde läuft. Wo alle das Gleiche denken, wird nicht viel gedacht, sagte der große Lichtenberg, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir alle miteinander direkt von der Gutenberg- in die Lichtenberggalaxis gesaust sind.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 21/2025 erschienen.