Die deutsche Mode-Designerin Jil Sander ließ ihren Namen zur Weltmarke werden. In einem Prachtband gibt sie Einblicke in ihr Schaffen. Ein Interview über Aufbrüche, Inspiration durch die Künstler Malewitsch und Basquiat und das Faible für Sneakers
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Auf den ersten Blick gleicht sich der Titel „Jil Sander by Jil Sander“ der Ankündigung einer Modekollektion an. Aber der eben erschienene 350 Seiten starke Prachtband misst eine ganze Welt aus: Die heute 81-jährige Modesdesignerin beschreibt in Wort und Bild, wie sie vor sechs Jahrzehnten eine Weltmarke gegründet hat.
Märchenhafte Karriere
„Man kann Jil Sanders Geschichte als Märchen erzählen“, hebt die autobiografische Rückschau mit leise ironischem Understatement an. Aber genauso mutet dieses Leben an. Als ihr der Stiefvater nach dem Abschluss der Staatlichen Ingenieurschule für Textilwesen in Krefeld ein Auto schenkte, veräußerte sie das Vehikel umgehend, um ihre Ausbildung in den USA fortzusetzen. Nach zwei Jahren in Los Angeles kehrte sie nach Deutschland zurück und verdingte sich als Redakteurin bei Modezeitschriften. Doch an der Bekleidung, die damals für Damen en vogue war, konnte sie nichts Gutes finden. Sie nahm Kontakt mit den Produzenten auf und gab beharrlich ihre Verbesserungsvorschläge bekannt, bis man ihr vorschlug, doch ihre eigene Kollektion zu entwerfen.
Dass sie selbst nicht nähen kann, hinderte sie nicht daran, die Kleidung zu konzipieren, die ihr der Markt nicht geboten hat. Jil Sander selbst beschreibt sich im Buch als „ungewöhnlich scheu und harmoniebedürftig“. Ihre Mode sollte sie behüten und persönlich unangreifbar machen.
1968 eröffnet sie ihre erste Boutique in der Hamburger Milchstraße. 20 Jahre später hatte sich Jil Sander als Weltmarke etabliert. Ihr Prinzip lautete gleich kompromisslose Qualität. Jeden Stoff suchte sie selbst aus, prüfte eigenhändig jedes Material, bis nach jeder Messe die Finger wundgerieben waren.
Als logischen nächsten Schritt begann sie, eigene Stoffe zu entwickeln. 1999 verkaufte sie ihre Weltmarke an Prada, verließ das Unternehmen nach wenigen Monaten und kehrte nach drei Jahren Pause zurück. 2013 zog sie sich aus dem Modegeschäft zurück.
Geblieben ist der Hang zur Kontrolle. Deshalb finden ihre raren Interviews ausschließlich per E-Mail statt.
Eingangs Ihres Buchs schreiben Sie, dass wir uns wieder in einer Phase des Aufbruchs befinden. Wie sehen Sie diesen? Meinen Sie den Aufbruch in ein neues Zeitalter durch Künstliche Intelligenz?
Die KI trägt sicher zu diesem Gefühl bei, die großen technischen Fortschritte fordern das Design heraus. Aber ich dachte auch an die gesellschaftlichen Probleme, den Stillstand in der Wirtschaft und den spürbaren Willen vieler, etwas zu verbessern.
Wie unterscheidet sich der Aufbruch heute von dem der 50er- und 60er-Jahre?
Damals wollten wir nur die Vergangenheit hinter uns lassen, heute geht es nicht mehr direkt nach vorne. Wir müssen uns Luft verschaffen und dem Aufräumen widmen, uns verschlanken und zu verzichten lernen. Auch die digitale Welt hat die Köpfe vollgestellt. Wir suchen nach gemeinsamen Prioritäten.
Auf einer der ersten Seiten ist ein gelbes, weiter hinten ein rotes Quadrat abgebildet. Das lässt mich sofort an Malewitsch denken. Ist dieser russische Künstler, ein Meister der klaren Formen, der für mich Ikone eines Aufbruchs war, eine Inspiration für Sie? Wer oder was inspiriert Sie?
Malewitsch war für mich immer wichtig, er hat radikal reduziert und damit der Moderne einen extremen Punkt aufgezeigt und ihren Spielraum definiert. Unser Buch ist auch quadratisch geschnitten, eine sehr stabile, elementare Form. Die Künstler Anfang des 20. Jahrhunderts sind auf die geometrischen Grundlagen unserer Wahrnehmung und Ästhetik zurückgekommen. Das hat mich inspiriert. Die Quadrate im Buch möchten darauf hinweisen, dass mein Design auf leicht fasslichen Formen beruht.
Ein T-Shirt mit einem Basquiat-Motiv ist auch in Ihrem Band abgebildet. Was hat es damit auf sich?
Er hat politische Themen mit einer unverwechselbaren Handschrift verbunden. Dass es ein Bildmotiv auf einem Shirt bei mir gibt, zeigt, dass ich nie prinzipiell gegen Dekoration gewesen bin.
Wenn von Jil Sander die Rede ist, dann stets von Ihrer Auswahl von Stoffen. Woran erkennen Sie den idealen Stoff für eine Kreation?
Er muss eine inspirierende, noch nicht ausgeschöpfte Qualität haben. Ich bin von den Stoffmessen mit wunden Fingern zurückgekommen, weil ich tagelang den Fall, die Standfestigkeit und Taktilität der Stoffe ertastet habe. Das Zusammenspiel von Farbe und Material ist auch ein Kriterium gewesen.
Sind Stoffe für Sie das, was für Maler Farben (Öl oder Wasserfarben oder Bleistift etc.) sind?
Der Vergleich ist nicht schlecht. Maler mischen ihre Farben selbst an, so mache ich es in der Stoffentwicklung, denn wenn mir ein Gewebe gefällt, habe ich oft noch Ideen, wie man es optimieren kann, und verhandele mit den Herstellern.
Ihre Kreationen werden von vielen revolutionär genannt. Wie war das bei Ihnen, haben Sie Ihre Boutique in Hamburg eröffnet, um eine Revolution auszulösen oder hatten Sie den Wunsch, etwas Neues zu schaffen?
Es war nicht so abstrakt. In meinem Berufsalltag brauchte ich Kleidung, die ich in den Geschäften nicht gefunden habe, also habe ich sie entworfen. Ich wusste ja aus der Männermode, was möglich war. Dort waren das Tailoring und der Maßanzug eine Selbstverständlichkeit, auf der sich aufbauen ließ. Meine frühe Arbeit in der Stoffentwicklung bei Hoechst hat mir auch geholfen. Ich habe ein Gefühl dafür entwickelt, wie man über den Stoff zu neuen Formen und Lösungen kommt.
Könnte man es auch als revolutionär sehen, dass Sie für die günstige Marke Uniqlo Kollektionen entworfen haben?
Ich war nicht die erste, die solche Kooperationen eingegangen ist. Ich habe die Zusammenarbeit als Geschenk und schöne Herausforderung gesehen. Ich wollte zeigen, dass sich Basics qualitativ optimieren lassen. In der Basics-Linie +J haben wir Luxusaspekte wie hohe Materialqualität, Tailoring und Innovation verwirklicht. Und dank der demokratischen Preise konnten wir weltweit einen großen Kreis von Menschen mit meiner Vision bekanntmachen.
Haben Sie ein liebstes Kleidungsstück?
Nein, ich trage sie alle.
Stimmt mein Eindruck, dass sich die Mode in den vergangenen Jahren nicht mehr sehr verändert hat?
Ein Grund ist möglicherweise die Globalisierung, die westliche Mode vielen neuen Märkten zugänglich macht. Dort waren die Menschen mehr an der mythischen, rückwärtsgewandten Dimension bekannter Marken interessiert und weniger an der Avantgarde. Das hat zu vielen Vintage-Trends geführt. Generell ist das Neue im Kurs gesunken, auch weil das Internet ein Archiv ist, das die Aufmerksamkeit absorbiert. Aber Innovationen brauchen ein weißes Blatt, einen leeren Raum, ein Bewusstsein für den Mangel.
Um noch einmal auf Ihr Buch zurückzukommen: der Titel „Jil Sander by Jil Sander“ ist ein Verweis darauf, dass sie alles selbst machen. Was empfinden Sie, wenn andere Menschen Mode unter Ihrem Label produzieren, wie jetzt Lucie und Luke Meier?
Ich schätze Lucie und Luke, und sie kommen sehr gut allein zurecht.
Marken wie Esprit und einige andere dieser Art gibt es nicht mehr. Woran liegt das?
Es gab von allem zu viel, auch das ist ein Effekt der Globalisierung, die jetzt in die Phase der Selbstkorrektur tritt. Wenn die Innenstädte voll von Modeläden sind, die alle dasselbe anbieten, stellt sich Ermüdung ein und im Sinne des wachsenden Umweltbewusstseins auch eine Abneigung gegen Wegwerfmode.
Tierschützer verweisen immer wieder auf die qualvolle Schur von Ziegen, um Kaschmirwolle zu gewinnen. Wie wählen Sie Kaschmirwolle aus? Wie lässt sich dabei auf Tierschutz achten?
Wir haben mit Unternehmen zusammengearbeitet, die sich früh für verantwortungsvolle Lieferketten eingesetzt haben.
Wie beeinflusst der Klimawandel die Mode?
Wir werden nicht um nachhaltigere Konzepte herumkommen. Ich glaube an das Bedürfnis der Menschen nach Wechsel und Erneuerung. Um weiterhin attraktive Mode produzieren zu können, werden wir auch das Recycling sehr ernst nehmen müssen.
Wie sehen Sie es, dass heute so viele Menschen überall, auch in der Oper Sneakers tragen?
Ich liebe Sneakers. Die Mode hat sich stilistisch, in Proportionen, Materialien und Stoffen auf den Sneaker zubewegt. Ein Sneakers-Look kann auch in der Oper cool sein. Übrigens habe ich mit Puma 1998 einen der ersten Luxus-Sneaker entwickelt.
Wie würden Sie Ihren Stil nennen?
Understatement, skulpturale Formen, Tailoring, Innovation. „Purity“ trifft es ganz gut.
Wenn man heute auf Ihren „Purity“-Style blickt, kommt mir das visionär vor, wie sehen Sie das?
Die Mode bewegt sich in Zyklen und kommt immer wieder auf Nostalgie zurück. Für mich gibt es keine andere Antwort auf die Gegenwart als Modernität.
Planen Sie eine Kollektion?
Ja, aber es wird keine Mode-Kollektion sein.
Jil Sander
wurde am 27. November 1943 in Schleswig-Holstein, Deutschland geboren. Sie wuchs in Hamburg auf. Nach Abschluss ihres Studiums an der Staatlichen Ingenieurschule für Textilwesen in Krefeld setzte sie ihre Ausbildung in Los Angeles und New York fort. Anfang der 1960er-Jahre arbeite sie als Redakteurin für Modezeitschriften. 1968 gründete sie die Modemarke Jil Sander, 1979 entwarf sie mit Lancaster ihr erstes Parfum. 1999 verkaufte sie ihr Unternehmen an Prada und blieb zunächst einige Monate dessen Chefdesignerin. Nach einer längeren Pause kehrte sie 2003 für ein Jahr an diesen Posten zurück. 2013 zog sie sich nach dem Tod ihrer Lebenspartnerin aus dem Modebusiness zurück.
Jil Sander lebt in Schleswig-Holstein.
Das Buch
Im Band „Jil Sander by Jil Sander“ gibt die deutsche Modedesignerin Einblick in ihr Schaffen. Wie ihre Kreationen hat sie auch diesen Prachtband in allen Details selbst entworfen. Prestel,
€ 104,50