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Einsamkeit: Fremd zu mir selbst

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©Bild: Heinz Stephan Tesarek

Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert auch das Vertrauen in die Welt rundum, in seine Umgebung, in die Gesellschaft, in die Demokratie

Sie klopften an 5.000 Türen. Und fragten: Was läuft gut, was schlecht an Ihrem Wohnort? Was würden Sie gerne ändern? Die Gespräche fanden in jeweils drei Regionen in Ost- und in Westdeutschland sowie in Nord- und in Südfrankreich statt. Dabei beantworteten die Leute Fragen zu ihrer persönlichen Lage sowie zur Sicht auf ihr Lebensumfeld und das Land. Alle Befragten haben sehr offenherzig und lange erzählt. Der Redebedarf war groß, die Erfahrung gut, einmal wahrgenommen zu werden. Das, was alle zur Sprache brachten, was sich in jedem Gespräch in der Tiefe äußerte, war: Wir sind hier verlassen worden. Vergessen und abgelegt. Einsam und isoliert. Der letzte Greißler hat geschlossen, der Bus ist eingestellt, der letzte Job ist abgewandert. Die Welt gibt es da draußen, aber ich bin nicht mehr mittendrin. Die Welt mag tönend, farbig, warm und frisch sein. Meine Welt ist es nicht.

Jeder Zehnte ist einsam

Rund jeder Zehnte in Österreich hat niemanden, auf den er zählen kann. Einsamkeit trifft Alte wie Junge. Am höchsten betroffen sind 15- bis 25-Jährige und Personen, die älter als 70 Jahre sind. Hier geht es nicht um die selbstgewählte Einsamkeit in der Askese oder im Aussteigen oder ein paar Tage allein in die Stille gehen. Den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein macht die Freiheit. Wir wissen die unfreiwillige Einsamkeit, unter der man leidet, zu trennen vom freiwilligen Alleinsein, nach dem man sich bisweilen sehnt.

Die Philosophin Hannah Arendt schreibt: „Ich nenne diesen existenziellen Zustand, in dem ich mit mir selbst umgehe, ,Alleinsein‘ im Unterschied zur ,Einsamkeit‘, in der man auch allein ist, aber nicht nur der Gesellschaft anderer Menschen entbehrt, sondern auch der möglichen eigenen.“ Sie spricht etwas an, das bei Einsamkeit oft übersehen wird: Entfremdung – das Gefühl, sich selbst fremd zu werden. Entfremdung verweist auf Bedingungen, unter denen Menschen sich selbst, ihre Mitmenschen und ihre Welt nicht mehr als sinnhaft, gestaltbar oder zugehörig erfahren. „Heute besuch ich mich. Ich hoffe, ich bin daheim“, hat Karl Valentin tiefgründig gescherzt.

Wer einsam ist, geht nicht wählen

Einsamkeit bedeutet, sich von der Welt getrennt fühlen. Die Welt ist fremd geworden zu einem selbst. Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert das Vertrauen in die Welt rundum, in seine Umgebung, in die Gesellschaft, in die Demokratie. Je einsamer, desto geringer die Wahlbeteiligung und das Vertrauen in demokratische Institutionen.

„Die Welt dreht sich halt weiter, und ich komme irgendwie nicht nach.“ Das sagt ein junges Mädchen am Krisentelefon. Die 14-Jährige lebt mit ihrer Familie in einer zu kleinen Wohnung und erzählt vom Stress in der Schule. Sie findet keinen Zugang mehr zu ihren Freundinnen und allem, was sie umgibt. Was bleibt, ist ihr Handy. Doch die algorithmisch gesetzten Reize bedeuten nicht notwendigerweise echte soziale Nähe oder Anerkennung. Im Gegenteil: Das durch Social Media gesteuerte Dopaminfeuer im Kopf zerstreut jegliche Aufmerksamkeit, macht müde und unzufrieden. Was vorgibt, mir die Welt ins Zimmer zu holen, entfernt sie in Wirklichkeit noch von mir.

Der Schmerz Einsamkeit

Einsamkeit tut weh. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das Hirnareal, das durch soziale Ausgrenzung aktiviert wird, ist dasselbe wie beim körperlichen Schmerz­empfinden. Evolutionsgeschichtlich war es früher ein Todesurteil, in Steppe oder Wald zurückgelassen zu werden. Das erste Anzeichen von Zivilisation sei ein Oberschenkelknochen, der gebrochen und dann geheilt worden sei, sagt die Anthropologin Margaret Mead. Kein Mensch vor Zehntausenden Jahren hätte ein gebrochenes Bein lange genug überlebt, dass der Knochen heilen kann. Der Fund eines gebrochener Oberschenkelknochens, der geheilt ist, ist ein Beweis dafür, dass sich jemand Zeit genommen hat, bei dem zu bleiben, der gestürzt ist, die Wunde verbunden, die Person in Sicherheit gebracht und die Person durch Genesung gepflegt hat.

Die junge Frau atmet schwer, kann kaum schlafen. Sie wird medizinisch untersucht und gut versorgt. Ein Kollege, der das Anamnesegespräch mit der Patientin führt, erfährt, wie gern sie Lieder singt, wie wichtig Musik für sie ist. Er hat die Idee, sie zu fragen, ob sie in einem Chor singen wolle. Ob er schauen solle, wo es in ihrer Nähe Singgruppen gäbe. Die Patientin ist nicht sicher, wagt sich dann doch zur ersten Chorprobe. Das Singen tut ihr gut. Da geht es ums richtige Atmen, darum, Luft zu holen und zum Klingen zu bringen. „Ich fühle wieder Freude, das gemeinsame Singen ist so befreiend“, erzählt sie. Das Singen im Chor ist ein Beispiel für „soziale Verschreibung“. Es könnte auch ein Tanzkurs, ein Theaterbesuch, eine geführte Wanderung oder etwas ganz anderes sein.

Das „soziale Rezept“ zielt darauf ab, die persönlichen Interessen und sozialen Bedürfnisse einer Person anzusprechen. Oft geht es um Einsamkeit. In Großbritannien, woher die Idee des „Social Prescribings“ kommt, wird ein „Linkworker“ eingesetzt, der die Vermittlungsarbeit leistet. Verlinken heißt Verbinden. Der Arzt überweist zum Linkworker, der dann mit dem Patienten das konkrete soziale Heilmittel organisiert.

Einsamkeit geht alle etwas an

Einsamkeit wird schlimmer mit Armut, bedrohlicher mit gesellschaftlichen Krisen und belastender mit schlechter sozialer Infrastruktur. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung in Bund, Ländern und Gemeinden, um gute Nachbarschaft zu fördern und Einsamkeit zu verringern. Wir könnten ein koordiniertes Maßnahmenpaket entwickeln, das Grätzelinitiativen, sozialraumorientierte Projekte, Nachbarschaftshilfe und Communityarbeit gezielt fördert und finanziert.

Dabei geht es darum, Menschen zusammenzubringen, die sich gegenseitig unterstützen. Man kann manchmal mit kleinen Begegnungen Großes bewirken. Auch dort, wo öffentlicher Verkehr für ältere Menschen Mobilität ermöglicht, wo es gemeinsamen Raum zum Verweilen gibt, wo Politik sozialen Zusammenhalt fördert, statt die Bevölkerung zu spalten, wird etwas gegen Einsamkeit unternommen.

Soziale Isolation geht unter die Haut, verändert die Beziehung zur Welt. Einsamkeit ist kein individuelles Schicksal, sie geht uns alle an. Wer etwas gegen sie tut, tut etwas für sozialen Zusammenhalt, Gesundheit und Demokratie.

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