Radikale Sprache: Warum der öffentliche Diskurs immer mehr verroht

Die radikale Sprache, die FPÖ-Chef Herbert Kickl verwendet, verändert das Befinden der Menschen und verschiebt die Maßstäbe, kritisiert der Grazer Sprachwissenschaftler Rudolf Muhr. Er vermisst die Gegenkräfte in Medien und Politik.

von Herbert Kickl spricht im Nationalrat. © Bild: IMAGO/SEPA.Media

FPÖ-Chef Kickl hat kürzlich für Irritationen gesorgt, als er gesagt hat, dass er "Volkskanzler" werden möchte. Er spricht öfter davon, dass er in Österreich "das Kommando übernehmen" will und hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen als "senile Mumie" bezeichnet. Drückt er sich einfach nur blumig aus oder verändert er mit seiner radikalen Sprache auch die Wirklichkeit?
Das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ist ein altes Thema. Beide bedingen einander. Wenn ich eine radikale Sprache verwende, dann verändere ich natürlich auch das Befinden der Menschen. Wenn man den höchsten Repräsentanten eines Gemeinwesens, sprich der Republik, als Mumie bezeichnet, ist das erstens eine menschliche Respektlosigkeit sondergleichen, denn auch Kickl ist ein - führender - Teil dieses Landes und es gehört zum normalen Umgang, dass man einander nicht als Leiche tituliert. Kickl ist eine Art österreichischer Trump. Er verschiebt mit seinem Sprachverhalten die Maßstäbe. Der öffentliche Diskurs verroht immer mehr. Denn wenn eine führende Person in einer Gesellschaft so eine Ausdrucksweise verwendet, finden alle anderen auch nichts dabei.

Der Grazer Sprachwissenschaftler Rudolf Muhr
© www.BigShot.at / Nikola Milatovic
Rudolf Muhr (*1950) ist emeritierter Assistenzprofessor für Germanistik an der Universität Graz. Er setzt sich intensiv für Erhalt und Pflege des österreichischen Deutsch ein. 1996 gründete er die "Forschungsstelle österreichisches Deutsch". 1999 initiierte er die erste Wahl zum österreichischen Wort des Jahres, das seitdem regelmäßig gekürt wird. 2022 setzte sich "Inflation" durch, in den Jahren davor "Schattenkanzler","Babyelefant","Ibiza" und "Schweigekanzler".

Radikalisiert radikale Sprache die Menschen?
Ganz genau. Wenn Sie in die Archive schauen und die Hitlerreden anhören, dann sehen Sie genau die Parallelen.

Wie meinen Sie das genau?
Ich sage nicht, dass Kickl ein Hitler ist. Aber er ist Hitler von seiner Redeweise sehr ähnlich, und zwar, weil er erstens immer sehr aufgeregt und aggressiv redet. Das Zweite ist, es wird immer jemand schlechtgemacht. Bei Hitler waren es die Juden, in der Frühphase auch die Reichen, bei Kickl sind immer die Zuwanderer schuld. Und die österreichischen Medien haben nichts dazu zu sagen. Es wird so hingenommen. Es gibt keine Gegenkräfte, die das entsprechend einordnen.

Der Vergleich mit den 30er-Jahren und der Hitler-Rhetorik gilt vielen als diese Zeit verharmlosend.
Warum soll man keine Parallelen ziehen dürfen? Ein Demagoge ist immer ein Demagoge, da gibt es ganz verlässliche Ergebnisse in der Wissenschaft, wie man solche Leute identifizieren kann.

Was kann man aus der Vergangenheit lernen?
Wenn man einem Demagogen nicht massiv entgegentritt, dann hat er recht. Das ist wie am Schulhof. Wenn der größte Rüpel keine Gegenwehr findet, dann macht er weiter. Es ist kein Widerstand zu sehen. Die SPÖ ist sowieso weggetreten, die Grünen sind in fester Umarmung mit der ÖVP und wo die Neos sind, keine Ahnung.

Entgegentreten würde auch bedeuten, dass man nicht mit der Kickl-FPÖ Koalitionen eingeht, so wie die ÖVP jetzt in Niederösterreich und Salzburg?
Das sowieso nicht. Aber das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, dass man Kickls unmögliche Art jedes Mal deutlich markiert und falsche Behauptungen jedes Mal thematisiert. Aber das findet nicht statt. Weil Sie Niederösterreich angesprochen haben: Da ist alles drin. Die Migrantenkinder dürfen im Schulhof nicht mehr ihre Sprache sprechen. Ja, warum denn bitte nicht? Wir sind eine mehrsprachige Gesellschaft. Warum benennt das niemand als das, was es ist, nämlich blanker Deutschnationalismus? Ich erzähle Ihnen eine Geschichte: Ich habe in den 80er- und 90er-Jahren im Süden von Graz gewohnt, in einer Einfamilienhaussiedlung, und mich öfter mit meiner Nachbarin unterhalten. Eines Tages fragt sie mich, was ich eigentlich arbeite, und ich habe ihr erklärt, dass ich Sprachwissenschaftler bin und unter anderem über Muttersprache forsche. Sagt sie, das ist interessant, ich bin ja in der Hitlerzeit in die Volksschule gegangen, und als der Hitler gekommen ist, haben wir in der Schule nicht mehr steirisch reden dürfen. Sehen Sie? Das ist genau dasselbe, die totalitäre Abschaffung von Sprachmöglichkeiten.

Das gibt es nicht nur bei der FPÖ. Die Postfaschisten in Italien wollen zum Beispiel Anglizismen verbieten. Wie und warum definieren sich Rechtspopulisten über Sprache?
Das hängt mit dieser totalitären Vorstellung von Sprache zusammen. Staat und Sprache sind eins, und diese Symbiose darf nicht von außen gestört werden. Da werden natürlich Lehnwörter - von denen es unzählige in jeder Sprache gibt - als störend empfunden. Aber es ist nichts Neues, dass die das in Italien probieren, und sie werden scheitern. Weil die moderne Welt und die modernen Kommunikationsmöglichkeiten einfach darüberrollen. Eines muss ich dazusagen: Ich bin nicht der Meinung, dass jeder Anglizismus gerechtfertigt ist. Vor allem in der Werbewirtschaft werden die Leute oft für blöd verkauft, weil für dasselbe Produkt mit einem englischen Namen das Doppelte verlangt wird. Heute geht das weniger, aber in den 90er- und 2000er-Jahren war das gang und gäbe.

Gesellschaften zum Schutz der deutschen Sprache, die gegen den vermeintlich schädlichen Einfluss anderer, dominanter Sprachen aufgetreten sind, hat es schon vor 400 Jahren gegeben.
Das ging damals gegen das Welsche, das Französische, das war der große Feind.

Diesen Kulturkampf gibt es schon immer?
Es ist im Grunde genommen eine symbolische Wiederholung der politischen Antagonismen zwischen Frankreich und Deutschland. Heute ist es eben die ganze Welt gegen das Angelsächsische.

Die Debatten über Anglizismen waren in Österreich früher heftiger. In letzter Zeit geht es vor allem um das Gendern. Warum regt das viele so auf?
Das ist auch so ein konservativer Darmwind. Ich kann es nicht anders bezeichnen.

Warum führt es zu so starken Emotionen?
Ich habe vor ein paar Jahre einen Artikel in der Presse geschrieben, als ein paar Gescheite einen Brief an das Ministerium geschrieben haben, in dem sie sich über das Gendern beschwert haben. Ich konnte mich darüber nur lustig machen. Mein Argument ist ganz einfach: Die Menschheit besteht aus Männern und Frauen. Warum sollten Frauen in der Sprache nicht extra abgebildet werden? Es ist natürlich ein bisschen mühsamer, wenn man gendert. Aber das Entscheidende ist ja, ein Teil der Menschheit, der bisher nie darüber nachdenken musste, muss jetzt nachdenken. Und das fällt schwer. Es ist die mangelnde Lust des männlichen Teils der Menschheit sich anzupassen. Obwohl es auch genug Frauen gibt, die gegen das Gendern sind. Ich kann nur Frantz Fanon zitieren, den Arzt, der über das Verhalten der afrikanischen Eliten nach der Entkolonialisierung geschrieben hat. Sein Kernsatz ist, dass der Sklave immer den Herrn übertrumpfen oder ihn zumindest nachmachen will. Das ist genau die Einstellung vieler konservativer Frauen, die sich plötzlich verantwortlich fühlen, dass es dem Herren gut geht. Es ist eine Art Stockholm-Syndrom.

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Bringt es wirklich mehr Gleichberechtigung, wenn man -Innen an die Wörter anhängt? Haben die Frauen in ihrem Alltag was davon?
Sie sind eine Frau. Haben Sie nichts davon, wenn im Text Formen drinnen sind, die sich auf Sie als Frau beziehen?

Ich würde vielleicht lieber gleich viel verdienen wie meine männlichen Kollegen.
Diese Dinge schließen einander ja nicht aus. Das ist auch so ein dummes Argument, entschuldige. Wenn ich schon nicht gleich viel verdiene, kann ich wenigstens die symbolische Gleichstellung machen. Natürlich ist es eine große Schweinerei, dass Frauen bei gleicher Arbeit nicht gleich viel verdienen. Ich schwöre Ihnen, wenn ich eine Frau wäre, ich hätte schon alle geklagt, wenn ich nicht gleich viel verdient hätte. Da darf man nicht zimperlich sein, da muss man mit allen Mitteln reingehen.

Diese symbolische Gleichstellung ist wichtig, weil Sprache Realität erzeugt?
Na sicher. Warum darf man nicht Neger sagen? Weil es immer ein abwertender Begriff war. Man könnte in einer konservativen Gesellschaft à la Kickl natürlich hergehen und sagen, alle Frauen werden fortan als Weibsbilder bezeichnet. Wie fühlt man sich da?

Man soll jetzt auch nicht mehr Flüchtlinge sagen, sondern Geflüchtete.
Jede Variante, die dazu führt, dass es unverfänglicher oder nicht diskriminierend ist, ist in Ordnung. Allerdings, das muss ich auch dazu sagen: Wenn die gewählten Ausdrücke kompliziert und umständlich sind, halten sie sich auf Dauer nicht. Dazu habe ich auch eine schöne Geschichte. Ich habe lange Jahre auf der Germanistik in Graz gearbeitet und hatte dort Kolleginnen, die schon 1984 zu gendern begonnen haben. Ich war natürlich voll dafür, aber sie haben mit diesen Querstrich-Sachen begonnen. Ich habe ihnen gesagt, das geht nicht, es zerstückelt den Text und bringt nichts. Gleich waren sie oben auf dem Plafond. Aber Endungen an Substantive anzuhängen, ist zu wenig. Ich habe ihnen vorgeschlagen, ein eigenes Pronominalsystem zu machen. Dass statt "Mann" ein Wort erfunden wird, das diese Allusion zum Männlichen aufhebt. Wissen Sie, was die Antwort war? Das geht nicht. Dabei bin ich überzeugt, wenn das damals nur 20 Prozent der Leute verwendet hätten, hätte es sich schon längst durchgesetzt.

Was könnte man statt "Mann" sagen?
"Mensch". Verstehen Sie, irgendein Kollektivwort, das nicht markiert ist für Mann oder Frau. Es sind später auch andere Linguisten auf die Idee gekommen und haben das vorgeschlagen, aber ich war wahrscheinlich einer der ersten. Aber die Frauen wollten das nicht. Sie wollten Markierungen im Text, die zeigen, dass die Frauen sich jetzt bemerkbar machen.

»Dieses ewige Geschrei gegen das Gendern ist absurd«

Über diese Markierungen wird heute wieder sehr heftig diskutiert. Ist der Diskurs rückschrittlicher geworden?
Ja, sicher. Allein dieses ewige Geschrei gegen das Gendern ist absurd.

Es ist aber auch politisch instrumentalisiert, oder?
Natürlich. Jeden Tag ist in den Boulevardzeitungen irgendeine Kampagne zu lesen, jeden Tag droht irgendein Weltuntergang. Das ist genau das Problem. Es wird immer Angst erzeugt, es wird immer irgendetwas aufgebauscht und werden Leute verwirrt, und dann kommt etwas heraus, was für niemanden gut ist.

Sie setzen sich sehr für das österreichische Deutsch ein. Wie wichtig ist das österreichische Deutsch für die österreichische Nation?
Ich stelle Ihnen eine Gegenfrage. Wie wäre es, wenn wir alle deutschländisches Deutsch sprechen würden?

Es würde etwas fehlen.
Es würde uns ein wesentlicher Teil der Identität fehlen.

Verständigen könnten wir uns trotzdem ...
... aber die gesamte Gefühlswelt wäre anders. Wir würden andere emotionelle Zustände haben. Wir würden andere Bezeichnungen haben. Und wir, die jetzige Generation, wären nicht mehr wir selbst, wenn man das umstellen müsste. Da sehen Sie wieder: Die Nazis haben ja im großen Stil in den besetzten polnischen Gebieten versucht, alle Kinder und Jugendlichen zusammenzufangen und sie nach Deutschland gebracht, wo ihnen das Polnische ausgetrieben werden sollte. Warum hat man das gemacht? Man wollte die polnische Nation zerstören. Für ein Gemeinwesen ist die gemeinsame Sprache das entscheidende Bindeglied. Wenn wir kein österreichisches Deutsch hätten, wären wir jemand anderer.

Wie ist es um das österreichische Deutsch bestellt?
Es steht stark unter Druck. Weil wir eine jämmerliche Regierung haben, eine von mehreren in einer Reihe, die sich um diese Fragen bewusst nicht kümmert, weil es als rassistisch und absondernd gilt. Die Deutschen haben überhaupt kein Problem damit, alles, was nicht ihrem Sprachgebrauch entspricht, zu markieren. Sie bekommen in Deutschland im Sprachbusiness keinen Job, wenn Sie nicht die deutschländische Variante beherrschen. In Österreich heißt es, das ist so, da kann man nichts machen.

Was müsste die Regierung konkret tun?
Es müsste eine eigene Sprachpolitik geben, die Folgendes umfassen müsste: Erstens, ein ordentliches Kinderprogramm, das nicht nur mit deutschen Sendungen im Fernsehen gespeist wird. Zweitens, Kassetten und CDs, die von österreichischen Sprechern besprochen werden. Drittens, Kinderbücher, die nicht nur im deutschländischen Deutsch verfasst sind. Ich habe einen vierjährigen Sohn, dem lese ich jeden Abend die Bücher von Christine Nöstlinger vor, die ich zufälligerweise in einem Supermarkt gefunden habe. Diese Kerle, die das Buch herausgegeben haben, haben das auf Deutschland umgeschrieben.

Sie machen wahrscheinlich das, was die meisten österreichischen Eltern machen: Sie simultanübersetzen ins Österreichische. Stimmt's?
Genau. Und man muss auch eine ordentliche Förderung der österreichischen Verlage haben, damit die österreichischen Schriftsteller nicht nach Deutschland gehen. Ich habe Mitte der 90er- Jahre 200 österreichische Schriftsteller befragt, wie es ihnen mit ihren Verlagen geht. 30 davon haben geantwortet, dass ihre Manuskripte zum Teil massiv verändert worden sind.

Sprache ändert sich ständig, regionale Varianten verschwinden. Trauern Sie dieser kulturellen Vielfalt nach?
Nein, als Sprachwissenschaftler bin ich da ganz neutral. Sprachwandel ist normaler Teil der sprachlichen Betätigung. Es ist ja nicht so, dass alles verloren geht. An seine Stelle kommt etwas anderes, das sich mit der Zeit zu einer eigenen, wahrnehmbaren Variante entwickeln wird. Das kann man aber nicht vorhersagen.

Wir haben über Deutschland gesprochen, es gibt aber auch viele Zuwanderer aus anderen Ländern. Wie verändern sie die Sprache, die wir hier sprechen?
Es ist auch ein grauer Fleck in der österreichischen Bildungspolitik, dass der Erhalt der Zuwanderersprachen überhaupt nicht gefördert wird, im Gegenteil. Eine Herkunftssprache ist ein ökonomisches Asset. Wenn Menschen mehrsprachig sind, können nicht nur sie, sondern die Gesellschaft als Ganzes daraus Gewinn ziehen. Der österreichische Staat schmeißt das aus ideologischen Gründen weg. Es ist zum Weinen. Zuwanderer haben überhaupt wenig Chance, die Sprache zu verändern, weil sie selten in geballter Form auftreten, außer vielleicht die türkische Community in Wien. Und da kommen dann so Geschichten heraus wie "Bro" ...

Oder "Gemma Billa".
Das ist gar kein Migrantendeutsch, das ist dieselbe Struktur, wie wenn Sie sagen "gemma schlafen".

Es fehlt das "zum".
Das brauchen Sie nicht, weil es klar ist. Es ist eine sehr ökonomische Form des Sprechens. Wenn Sie jemandem mitteilen wollen, er soll da rüber schauen, sagen Sie ja auch nicht: Hiermit fordere ich Sie auf, dass Sie Ihren Kopf drehen und dort hinüberschauen. Weil das alles aus dem Kontext klar ist. Und "gemma Billa" ist einfach eine sehr ökonomische Form zu sagen: Du, jetzt gehen wir da rüber und schauen, ob wir etwas zu essen einkaufen können.

Sammeln Sie schon Vorschläge für das Wort des Jahres 2023?
Ein Kollege hat mich letztens auf "Gierflation" hingewiesen. Das wird sicher bei den Kandidatenwörtern auftauchen, weil wir ja wirklich in schlimmen Zeiten leben.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 23/2023 erschienen.