Kampusch "längst
eine mediale Figur"

Warum die Netzgemeinde derart negativ auf Natascha Kampusch reagiert

Das Gesicht einer Frau, die uns wohl allen bekannt sein dürfte: Natascha Kampusch. Neben dem Foto ein Zitat: "Ich will endlich Frau sein". Im aktuellen News gab sie ein Interview über ihr neues Leben, ihren neuen Job - und den Schmerz alter Wunden. Wunden, von denen viele offenbar nichts mehr wissen wollen.

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Mediales Phänomen - Kampusch "längst
eine mediale Figur"

Auf unserer Facebook-Seite posteten wir das Heftcover. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Und fielen mehrheitlich negativ aus. Warum begegnet man Natascha Kampusch mit derart starker Abneigung? Mit Wut und Aggression? Wären die Reaktionen heute dieselben, wenn vor knapp 20 Jahren ein Bub anstelle des Mädchens entführt worden wäre?

Eine Userin etwa schrieb: "Ich kann's nicht mehr hören oder lesen und sie sehen kann ich schon gar nimmer." Natascha Kampusch würde aus ihrem Schicksal Kapital schlagen. Mehrheitlich wurde die Forderung laut, sie solle endlich "was arbeiten". Eine andere Userin wiederum stellt die Gefangenschaft des jungen Mädchens an sich infrage. Schreibt von einem "widerlichen Opfer", einer "zynischen Möchtegern-Tussi", die "richtigerweise nicht in die Wiener Gesellschaft aufgenommen worden" wäre.

»Ich kann's nicht mehr hören und sie sehen kann ich schon gar nimmer«

Ein weiterer User äußert den Wunsch, Natascha Kampusch solle "die Menschen in Ruhe lassen", wollte sie doch nur "Geld machen und Aufmerksamkeit erreichen". Oder aber: "Das Thema 'Kampusch' müsste eigentlich längst schon erledigt sein! Schön langsam wird es unerträglich!!!!". Wie kommt es, dass man der heute fast 30-Jährigen, die immerhin mehr als acht Jahre ihres Lebens in Gefangenschaft verbringen musste, mit so viel Wut, so viel Hass entgegentritt?

Vom Opfer zur Projektionsfläche

Dazu der Grazer Verhaltenstherapeut Dr. Alois Kogler: "Frau Kampusch ist längst zu einer medialen Figur geworden. Und mediale Figuren sind immer Projektionsfläche." Egal ob Popstar, Politiker - oder Entführungsopfer. Und auf der Projektionsfläche wird in der Regel abgeladen, was das Zeug hält. "Frau Kampusch hat sich befreit, ist den medialen Weg gegangen." Man konnte ihr Leben mitverfolgen. Über Jahre hinweg. Doch nur oberflächlich. "Niemand von denen, die hier posten, kennt sie wirklich." Was viele dennoch nicht davon abhält, ein - mitunter harsches - Urteil zu fällen.

Doch warum fällt das Urteil derart negativ aus? "Oftmals können oder wollen Menschen mit den Schicksalen anderer - mit guten wie mit schlechten - nicht umgehen." Hier findet dem Experten zufolge ein Verdrängungsprozess statt. "Wenn es jemandem sehr gut geht, entsteht Neid. Wenn es jemandem sehr schlecht geht, entsteht bestenfalls Mitleid." Welches zu empfinden allerdings schwierig ist, da man die betreffende Person ja nur vermeintlich kennt. Ab dem Zeitpunkt allerdings, ab dem das Opfer seine ihm zugedachte Rolle ablegt, schlägt das Mitleid in Hass oder Aggression um.

»Frau Kampusch ist längst zu einer medialen Figur geworden«

Der ursprüngliche Grund des Mitleids ist dann ja nicht mehr gegeben. Immerhin geht es dem Betreffenden jetzt gut. Zum anderen hat uns die Geschichte wiederholt gezeigt, dass der Mensch gerade auf jene, die sich ohnehin in einer schwächeren Position befinden, gerne noch einmal eintritt. "Nicht dass Frau Kampusch eine schwache Person ist. Im Gegenteil", betont Kogler. Doch hatte sie einst nun mal die Rolle des Opfers inne. Laut dem Experten zeigte sich dieses Phänomen ganz deutlich im Mittelalter, als Menschen noch öffentlich zur Schau gestellt wurden.

Wer am Pranger stand, den konnte man anspucken. Einer langen gesellschaftlichen Entwicklung auf rechtlicher Ebene haben wir es zu verdanken, dass die Aufgabe, andere zu richten, heute nicht mehr in der Hand der breiten Masse liegt. Und dennoch wird öffentlich verurteilt. Nicht auf dem Marktplatz, aber auf diversen Social-Media-Plattformen. So können menschliche Regungen, die dem Experten zufolge in einer alten, unzivilisierten Kultur wurzeln, auf Facebook und Co. heute mehr oder weniger frei ausgelebt werden.

Mitleid als Mittel zum Zweck

Apropos an den Pranger stellen: Der Anteil jener, die aufrichtiges Mitleid für Natascha Kampusch empfanden, als sie von ihrem Schicksal erfuhren, dürfte Kogler zufolge relativ gering sein. Umso höher der Anteil derer, denen es vorrangig darum ging, mit dem Finger auf die "Schlechten" - in dem Fall Nataschas Entführer - zu zeigen, um sich selbst als einen der "Guten" auszuweisen. Möglicherweise, so Kogler, überschneidet sich auch der Kreis jener, die ihre Mitleidsbekundungen damals als Mittel zum Zweck nutzten, mit dem derer, die heute so hart mit Natascha Kampusch ins Gericht gehen.

»Einen Mann würde man anders beschimpfen«

Schließlich stellt sich die Frage, ob es einen Unterschied machen würde, wenn vor knapp 20 Jahren ein Bub anstelle des damals zehnjährigen Mädchens entführt worden wäre? Kogler meint: Ja. "Einen Mann würde man anders beschimpfen." Abgesehen davon hätte die Geschichte, hätte sie einen männlichen Protagonisten, keine derart hohen medialen Wellen geschlagen. "Der Bub wäre nie zu so einer großen medialen Projektionsfläche geworden." Warum? Ganz einfach: Weil über männlichen Missbrauch in unserer Gesellschaft nur wenig gesprochen wird.

Gleichzeitig sollte das teils extrem negative mediale Echo für einen Menschen mit einem Schicksal wie dem von Natascha Kampusch noch lange kein Grund sein, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. "Man muss auch die Relation berücksichtigen. Viele äußern sich gar nicht über Frau Kampusch. Viele kaufen ihre Bücher. Viele finden sie einfach okay." Im Vergleich dazu wäre der Anteil jener, die ihr derart feindselig entgegentreten, verschwindend gering. Diese Tatsache müsse man sich vor Augen führen, wenn man im Fokus der Anfeindungen steht: "Social Media sind nicht die Welt."

Lesen Sie das aktuelle Interview mit Natascha Kampusch im News 33/17.