Nach dem Sommergespräch ist vor dem Bürgerforum

Die aufgezeichneten, zu Kammertalk verdichteten Sommergespräche verleiten zur ORF-Rückschau. Der Maßstab werden aber die Bürgerforen live auf Puls24. Das gilt auch für den gesellschaftlichen Nutzen öffentlich-rechtlicher und privater Medien

von Medien & Menschen - Nach dem Sommergespräch ist vor dem Bürgerforum © Bild: Gleissfoto

Die Sommergespräche sind vorbei. Die Reduktion zum Kammertalk bleibt Geschmackssache. Der Verzicht auf den Live-Aufwand ist falsch. Der Gewinn an inhaltlicher Tiefe gleicht das aus. Das Wagnis des Experiments heiligt die Mittel. Die Publikumszahlen liegen auf dem Niveau von 2018. In diesem Nichtwahljahr stand aber mit Sebastian Kurz, Christian Kern, Heinz-Christian Strache und Peter Pilz vermeintlich viel anziehenderes Politpersonal zur Verfügung - neben Neuling Beate Meinl-Reisinger.

Heute hat die Neos-Chefin die größte Hitzetalkroutine und nach zwei Sommern als Letzte den Ober-Grünen Werner Kogler bei den Einschaltzahlen wieder überholt. Wenn Karl Nehammer auch in ihrer Endabrechnung hinter Andreas Babler und Herbert Kickl bleibt, setzt er eine Tradition fort, die in diesem Jahrtausend nur achtmal durchbrochen wurde: Kanzler hatten meistens nicht die stärkste Zugkraft. Wolfgang Schüssel gelang es 2005 und 2006, Werner Faymann 2011, aber Sebastian Kurz von 2017 bis 2021. Ein Hinweis, wie sehr sich die Prioritäten des politischen Handwerks verschoben haben.

Die seit 1981 gesendeten Sommergespräche des ORF eignen sich ideal für Entwicklungsvergleiche von Politik und Medien. Der Auftakt bleibt allerdings sogar in der heute kaum noch zu steigernden Form von Bildschirmdemokratie unübertroffen: Der spätere "profil"- Herausgeber und "Kurier"-Chefredakteur Peter Rabl interviewte Norbert Steger, den damaligen FPÖ-Obmann, dann Vizekanzler und jüngst ORF-Stiftungsratsvorsitzenden im Pool. Ein Badehosen-Dialog zwei Wochen vor dem einzigen Sommergespräch mit Bruno Kreisky - geführt vom späteren Minister Franz Kreuzer.

Rabl agierte in fünf Jahren zwölfmal als Gastgeber. Übertroffen nur von Johannes Fischer, der es auf 18 Interviews in sechs Sommern brachte. Rudolf Nagiller folgt ihnen mit 16 aus vier. Werner Mück und Ingrid Thurnher moderierten je drei Fragerunden - sie mit 15, er mit zwölf Gesprächen. Die meisten Hundstage-Interviews als Antwortgeber absolvierte Jörg Haider. Angesicht der immer rasanteren parteilichen Personalwechsel wirken seine 15 Auftritte ebenso uneinholbar wie jene von Schüssel (13), Strache (12), Franz Vranitzky (11) und Alexander Van der Bellen (10). In Summe kommen die heutigen Kurzzeitgrößen dennoch auf wesentlich mehr Sommerinterviews. Denn neben dem ORF pflegen mittlerweile die meisten nachrichtlich orientierten Medien solche Formate als Fixpunkte in der Hitzeperiode.

Die spannendsten Vergleiche dazu gewährte in den vergangenen Jahren Puls24 - als Erststarter ins Sommerritual. Heuer agiert es aber genau umgekehrt - saisonal und formal. Seine Herbstgespräche beginnen am 19. September und werden als "Bürgerforum live" aus dem Wiener Prater gesendet. Corinna Milborn und Florian Danner stellen ihre Fragen an die Parteichefs umringt von Publikum. Das wirkt nach bewusster Kontraprogrammierung zum ORF. Auch das Rundherum erscheint als Kampfansage - Einstimmung jeweils mit dem Talkformat "Wild umstritten", nach dem Gespräch Analyse mit Politikern und Journalisten und am Folgetag auch noch der (Vize-)Kanzler-Check.

Für das Publikum ist eine solche Gegenpositionierung ideal. Es wird letztlich entscheiden, welche Interpretation des Parteichef-Gesprächsformats besser funktioniert. Einschaltquoten taugen zur Einschätzung aber höchstens im senderinternen Vergleich. Dabei kann der Nachrichtenkanal Puls24 kein Herausforderer für den Reichweitenprimus ORF2 sein. Statt Quantität ist Qualität der Maßstab. Sie mag subjektiv empfunden sein, aber dafür gibt es objektive journalistische Kriterien. Auf dem Talk-Terrain bietet der private TV-David dem öffentlich-rechtlichen Fernseh-Goliath längst Paroli. Dieses Segment zeigt, dass Public Value - also der Nutzen, den etwas für die Gesellschaft erbringt - stärker produktabhängig und weniger absenderorientiert zu bewerten ist. Wenn die Sommergespräche des ORF keinen höheren demokratischen Mehrwert erzielen als das Bürgerforum von Puls24, ist die Verteilung der künftigen Haushaltsabgabe zu hinterfragen. Spätestens 2024, wenn die Politik mitbestimmt, ob nach 2008 und 2013 die ORF-Sommergespräche zum dritten Mal ausfallen - durch Festlegung eines zu nah bei den Kandidatenduellen liegenden Termins für die Nationalratswahl.