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Schlaglichter: Bei uns in Auschwitz

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Der Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz I©Imago/Forum
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Die Befreiung brachte Überlebenden und ihren Nachkommen keinen Frieden

Es war der Winter 1965. Ich war 17 Jahre alt. Gemeinsam mit Judith und Georg, Kindern von Freunden meiner Eltern, beschlossen wir, während der Weihnachtsferien nach Auschwitz zu fahren. Judith war ein Jahr älter, hatte bereits einen Führerschein. Ihr Vater, als Besitzer einer Putzerei wohlhabend im Vergleich zu meinen Eltern, lieh uns das Auto. „Unter einer Bedingung“, sagte er, als wir unsere Taschen im Kofferraum verstauten: „Ich will keine Erlebnisse von euch hören, mir reichen meine eigenen.“

Es war eiskalt, als wir ankamen, wir sahen nur wenige Besucher. Erst 1978 nach der neuen Gestaltung des Museums kamen mehr und mehr. Heute sind es etwa zwei Millionen pro Jahr. Im Museum standen wir lange schweigend vor den Glaswänden, als suchten wir etwas in den Bergen von Koffern, Brillen, Bestecken, Kämmen, Bürsten und Schuhen, das uns an Verwandte erinnern könnte, die uns fehlten, versuchten, die Namensschilder der Koffer zu entziffern. Etwas abseits: ein Raum mit Hunderten leeren Zyklon-B-Dosen.

Holzpritschen

Schnee lag zwischen den wenigen Baracken, die noch übrig waren nach der Zerstörung des Lagers durch die SS, bevor sie es fluchtartig verließ. „Meinen Vater brachten sie als 17-Jährigen hierher“, sagte Judith, setzte sich in einer der Baracken auf die unterste der mehrstöckigen, breiten Holzpritschen, wo die Häftlinge schliefen, „er hat nie darüber gesprochen.“ So alt wie ich jetzt, dachte ich damals.

In dem Archiv, damals noch nicht elektronisch aufgearbeitet, suchten wir stundenlang nach Unterlagen über Familienmitglieder. Ich fand ein Dokument über meine Großmutter, mütterlicherseits. Transport 383 am 12. 5. 1942 nach Theresienstadt. Transport 1146 am 19. 10. 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz. Der 19. 10. 1944 gilt als ihr Todestag. Die SS fand keine Verwendung für sie. Nach der Ankunft wurde sie ermordet. Ich entdeckte Eintragungen in Todeslisten mit den Namen Hermann, Ludwig und Margarete Strauchbaum, Verwandte der Mutter meines Vaters. Agnes, Pauline, Ernestine und Helene Sichrovsky, Verwandte seines Vaters.

Wir gingen trotz eisigem Wind die drei Kilometer von Auschwitz I, dem Stammlager, zu Auschwitz II, dem Vernichtungslager Birkenau. Heute bringt ein Shuttlebus die Touristen zu den Resten der Gaskammern. Zwischen den Mauern der gesprengten Gaskammern sagten Judith und Georg das Kaddisch, das Gebet für die Toten. Mir fehlte jede religiöse Erziehung. Ich las den Text aus einem kleinen Heft, das sie mitgebracht hatten.

Karteikarten

Zurück in Wien zeigte ich meiner Mutter eine Kopie der Karteikarte ihrer Mutter. Sie kannte nicht einmal den Todestag. Es gibt keine Grabsteine der Eltern meiner Eltern, keine der Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen und anderer Verwandten, die nicht überlebten.

„Bei uns in Auschwitz“ ist der Titel der Erzählungen von Tadeusz Borowski. Er überlebte Auschwitz. Die Rote Armee befreite das Lager am 27. Jänner 1945. Borowski konnte die Freiheit mit all den Erinnerungen nicht ertragen. Am 3. Juli 1951 starb er an Folgen eines Selbstmordversuchs. Er war 28 Jahre alt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.04/2025 erschienen.

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