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2nd Opinion: Regel und Ausnahme

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Allenthalben wird das Ende der regelbasierten Weltordnung beklagt. Ein Blick zurück in die jüngere Geschichte macht deutlich, dass wir es beim gefährlichen Chaos der Gegenwart nicht mit dem Ende einer Regel, sondern eher mit einem Ende einer Ausnahme von der Regel zu tun haben

Ungemütlich ist sie geworden, unsere Welt: Krieg und Gewalt überall, Radikalisierung auf allen Ebenen, von der persönlichen Kommunikation bis zum Umsturz einer politischen Weltordnung, die wir gerne als „regelbasiert“ bezeichnen. Manche glauben, dass der Dritte Weltkrieg nicht unmittelbar bevorsteht, sondern bereits begonnen hat. Zum Beispiel der schottische Historiker Niall Ferguson, der schon in seinem Buch „Krieg der Welt“ den Beginn des Zweiten Weltkriegs auf 1934 vordatiert hatte (er bezog sich auf die Errichtung des japanischen Marionettenstaats Mandschukuo in der vormals chinesischen Mandschurei). Man kann das insofern nachvollziehen, als Weltkriege nicht angekündigt werden, sondern im Nachhinein mit bestimmten Ereignissen, von denen aus sich ein größeres Geschehen entfaltet, in Verbindung gebracht und entsprechend datiert werden. Das galt schon für den 30-jährigen Krieg, der ja nicht ein kompaktes, 30-jähriges Kriegsgeschehen gewesen ist, sondern eine Aufeinanderfolge vieler regionaler Kriege über einen langen Zeitraum hinweg. Als Beginn nahm man in der retrospektiven Betrachtung den Prager Fenstersturz 1618 an, das Ende markiert der Westfälische Friede 1648.

Mehr Ende als Anfang

Ich weiß nicht, ob wir kurz vor dem Beginn des Dritten Weltkriegs stehen oder ob er sogar schon begonnen hat, aber mir scheint evident, dass wir beim Nachdenken über solche Fragen mehr das Ende als den Anfang von etwas in den Blick zu nehmen haben. Krieg und Gewalt sind nach aller menschlichen Erfahrung weniger das Produkt eines sorgfältig geplanten Anfangs als die unwillkürliche Folge eines chaotischen Endes. Im Chaos eines Endes eröffnen sich schreckliche Möglichkeiten, die von Menschen und Gruppen ergriffen werden, die über die Entschlossenheit und die Ruchlosigkeit verfügen, den gordischen Knoten, als den sie die Gegenwart begreifen, zu durchtrennen.

Dieser Mechanismus lässt sich auch auf der persönlichen Ebene zeigen, wie ich aus den Recherchen meiner Frau für ihren jüngsten Roman (Valerie Fritsch, „Zitronen“) gelernt habe. Mörder und Gewalttäter sind Menschen, die die Tötung eines anderen Menschen als einzig möglichen und in diesem Sinn rationalen Ausweg aus einer schwierigen, chaotischen Situation begreifen, gewissermaßen eine praktische Lösung für ein unpraktisches Problem. Sie planen nicht den Beginn von etwas Neuem, sondern sie suchen das radikale Ende eines chaotischen Zustands, den sie nicht mehr beherrschen.

Insofern ist die Klage über das Ende der regelbasierten Weltordnung und die damit verbundene Angst vor den Chaos und seinem Ende in Ausbrüchen der Gewalt nachvollziehbar. Es gibt mit ihr bloß zwei Probleme: Erstens lässt sich diese Weltordnung nicht schlechterdings per Willenserklärung wiederherstellen – auch diese Zahnpasta wird nicht in die Tube zurückkehren –, und zweitens muss man sich die Frage stellen, ob diese regelbasierte Weltordnung tatsächlich über einen größeren Zeitraum das große globale Ordnungsprinzip gewesen ist, dessen Ende man nun zu beklagen hat.

Auch zu dieser Frage bietet der Roman „Zitronen“ Anschauungsmaterial aus der individuellen Sphäre: Es wird darin die Geschichte eines alten sibirischen Ehepaars geschildert, das über sieben Jahre in großer Eintracht mit einem Kamtschatka-Bären gelebt hat, die Fotos einer Magazin-Geschichte zeigen die alten Leute, wie sie auf ihrer Wohnzimmercouch sitzen und den Bären in ihrer Mitte füttern. Nach sieben Jahren fraß der riesige Bär die Menschen, die ihn bei sich aufgenommen hatten, und eine der Figuren des Romans fragt sich, „was die Unregelmäßigkeit seines Wesens, was die Ausnahme seines Verhaltens gewesen war: alle Tage davor oder jener eine des Angriffs“ und „ob die Gewohnheit oder die Abweichung bestimmte, wer man war“, schließlich, „ob Identität das Immer oder das Durchbrechen des Immers war.“

Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann

Dieselbe Frage stellt sich mit Blick auf die regelbasierte Weltordnung, in der das Völkerrecht von allen als bindend erachtet und von seiner Verletzung Abstand genommen wird. Wer sich an die Zeit des Kalten Kriegs erinnert, wird sich mit der Behauptung schwertun, dass all die Stellvertreterkriege zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in Afrika, Asien und Lateinamerika dem gefolgt sind, was wir heute nostalgisch die regel- und völkerrechtbasierte Weltordnung nennen. Ähnlich sportlich wäre das Unterfangen, alles, was in der Folge von 9/11 in Afghanistan und im Irak oder ab 2011 im Zuge des „Arabischen Frühlings“ passiert ist, als Geschehen im Rahmen der regelbasierten Weltordnung zu interpretieren. Ein nüchterner Blick zurück zeigt also eigentlich, dass wir, wenn wir vom Zeitalter der regelbasierten Weltordnung schwärmen, noch immer in der Illusion vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) leben, die nicht länger gedauert hat als die 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Ein Trost ist das nicht, aber aus Realismus wurde noch selten Trost bezogen. Unser Kopf, sagte Francis Picabia, ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Das Eingeständnis, dass wir nicht die Ausnahme von der Regel erleben, sondern das Ende der Ausnahme von der Regel, könnte eine solche Richtungsänderung darstellen.

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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 26/2025 erschienen.

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