Ziemlich beste neue Freunde

Die Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei haben sich nach schwierigen Jahren spürbar verbessert. Sichtbare Zeichen sind Treffen heimischer Spitzenpolitiker von Kanzler Karl Nehammer abwärts mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan - aber auch Kontakte hinter den Kulissen. Eine Analyse der politischen Strategie dahinter und ein Gespräch mit dem türkischen Botschafter in Wien über die aktuelle Lage.

von Politik - Ziemlich beste neue Freunde © Bild: BKA/Florian Schrötter

Harsche Aussagen in der Öffentlichkeit sind das eine, stillere und diplomatische Töne hinter Kulissen das andere: Nichts unterstreicht dieses gegensätzliche Verhalten mehr als die Beziehung von Österreich und der Türkei und die Entwicklung, die diese zuletzt genommen hat: Mehr als eineinhalb Jahrzehnte kritisierte die Bundesregierung, speziell die türkis-blaue unter Führung von Ex-Kanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz - meist im Einklang mit der EU-Linie - den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seine Politik: etwa dessen schwer durchschaubare Manöver in der Migrationsfrage, sein hartes Vorgehen gegenüber Kritikern, offensichtlich politisch motivierte Prozesse und Säuberungswellen nach dem gescheiterten Putsch, das militärische Vorgehen in Nordsyrien, die permanenten Konflikte mit dem Nachbarn Griechenland oder die mögliche Einflussnahme auf im Ausland, etwa in Österreich, lebende Türken.

Gegenseitige Attacken ...

Bereits 2005 hatte ÖVP-Außenministerin Ursula Plassnik die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara zuerst blockiert und dann dafür gesorgt, dass diese "ergebnisoffen" zu führen seien - was von den Türken alles andere als goutiert wurde. Als Erdoğan wenige Wochen vor der Präsidentenwahl im Jahr 2014 in Wien in der Albert-Schultz-Halle vor 13.500 Anhängern auftrat, warf ihm der damalige Außenminister Kurz vor, eine Wahlkampfrede gehalten und Unruhe ins Land gebracht zu haben. 2016 legte Kurz nach und erklärte aufgrund von Menschenrechtsverletzungen und Repressionen, dass "die Türkei keinen Platz in der EU" habe, sich immer mehr von Europa entferne und deshalb auch der Flüchtlingsdeal bald Geschichte sein werde.

Als er auch noch eine befürchtete Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Mehrheitsbevölkerung und türkischer Community in Österreich sowie zwischen Türken und Kurden heraufbeschwor, warf ihm im Gegenzug Erdoğans Außenminister eine "rassistische Haltung" und "Islamophobie" vor. Kurz strenge für seine eigenen politischen Ambitionen eine Agenda auf Kosten der Türkei an, so der Vorwurf Ankaras. Zudem wurden österreichische Archäologen, die in Ephesos arbeiteten, des Landes verwiesen und von der Türkei ein Veto gegen Österreichs Einbettung in die NATO-Partnerschaft eingelegt -mit massiven Auswirkungen für den Einsatz österreichischer Soldaten im Kosovo, Bosnien oder Afghanistan. Der Höhepunkt der gegenseitigen Eskalation war erreicht, als Erdoğan schließlich im Mai 2021 "den österreichischen Staat verfluchte". Grund der Empörung: Kurz und Schallenberg hatten aus Solidarität mit Israel gegenüber der Hamas die israelische Fahne auf dem Bundeskanzleramt und dem Außenministerium in Wien hissen lassen.

... und überraschende Nähe

Doch das alles ist nun Schnee von gestern: Die Nähe zwischen Wien und Ankara ist heute so groß wie schon lange nicht. Seit vergangenem Jahr gibt es geradezu eine Kontakt-und Besuchsoffensive, die zu einer überraschenden Entspannung des bilateralen Verhältnisses beigetragen hat. Interparlamentarische Gespräche führten dazu, dass bereits 2021 der Präsident der türkischem Großen Nationalversammlung, Mustafa Sentop, auf Einladung von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka Wien besuchte und die Annäherung auf ein offizielles Level hob. Heuer im Mai war die österreichische parlamentarische Freundschaftsgruppe im türkischen Parlament. Ein langes Telefonat von Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit Erdoğan führte u. a. dazu, dass die Ausgrabungen in Ephesos wieder aufgenommen werden konnten. Und auch Bundeskanzler Karl Nehammer führte mehrere, jeweils rund eine Stunde dauernde Telefongespräche mit dem türkischen Staatspräsidenten: Etwa bevor er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew und kurz darauf Russlands Kriegsherr Wladimir Putin in Moskau besuchte. Zuletzt gab es am 29. Juni ein persönliches Treffen von Nehammer und Erdoğan am Rande des NATO-Gipfels in Madrid, wo die Türkei nach Zugeständnissen ihre Blockadehaltung gegen einen NATO-Beitritt von Schweden und Finnland aufgab.

Zuvor hatte Sobotka ein einstündiges Vieraugengespräch mit dem türkischen Präsidenten in Ankara geführt. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig traf Erdoğan in Istanbul -mit dem Ziel, "dabei mitzuhelfen, die staatlichen Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei wieder zu verbessern". Dies wohl auch mit Blick auf potenzielle türkischstämmige Wähler in der Bundeshauptstadt. Anfang Juli schließlich waren Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Gerhard Karner in Ankara, um die Charmeoffensive fortzusetzen und über Themen wie illegale Migration und Folgen des Ukraine- Kriegs zu sprechen.

Ebenso wie Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu seinem "Freund Alexander" coram publico ausrichtete, die Türkei habe "mit Österreich kein Problem", versicherte auch Erdoğan gegenüber Sobotka, er habe größtes Interesse, ein "neues Kapitel" in den Beziehungen zu Österreich aufzuschlagen. Er hoffe, Präsident Van der Bellen bald in Ankara empfangen zu dürfen. Aussagen, auch als Signal an jene wahlberechtigten Austrotürken, die beim letzten Mal zu 72 Prozent für Erdoğans AKP gestimmt haben. Von den 300.000 türkischstämmigen Menschen, die hierzulande leben, haben 180.000 die österreichische Staatsbürgerschaft.

Außenpolitische Erfolge ...

Der Sinneswandel des türkischen Präsidenten, der nächstes Jahr entscheidende Wahlen zu schlagen hat, ist leicht erklärt: Nicht nur, weil er in den letzten Jahren verstärkt internationalen Druck zu spüren bekam, sondern auch im Inland mit immer größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat, braucht er dringend vorzeigbare Erfolge. Wirtschaftlich befindet sich die Türkei in einem Tal der Tränen. Die Corona-Pandemie ließ den wichtigen Tourismus einbrechen, die Währung verfällt und Inflation ist enorm: Im Juni sind die Verbraucherpreise so stark gestiegen wie seit einem Vierteljahrhundert nicht -im Schnitt um 78 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Angesichts dessen hob die Türkei den Mindestlohn um 30 Prozent auf 316 Euro monatlich an. Es ist die zweite Anhebung in einem Jahr -entsprechend hoch ist die Unzufriedenheit mit der Situation im Lande.

Vor diesem Hintergrund kommt der Ukraine-Krieg Erdoğan gerade recht: Geopolitisch spielt die Türkei als NATO-Mitglied und regionale Ordnungsmacht ohnehin ganz vorne mit und präsentiert sich im Krieg zwischen Russland und der Ukraine geschickt und nicht uneigennützig als Vermittler zwischen den Fronten.

... innenpolitische Ablenkung

Und welche Motivation haben die heimischen Politgranden - insbesondere Bundeskanzler Nehammer - für den Kuschelkurs mit ihrem ehemaligen Feindbild? "Wenn es innenpolitisch nicht so gut läuft, dann ist es naheliegend, zu versuchen, mit Außenpolitik zu punkten", sagt Meinungsforscher Christoph Haselmayer. Österreich sei in der türkischen Energiebranche zudem gut vernetzt und selbst wenn Gespräche nicht viel bringen sollten, sei es gut, international in Kontakt zu bleiben. Nicht von ungefähr ist Nehammer erst jüngst wieder zu Reisen nach Israel, Zypern und den Libanon aufgebrochen.

Politikwissenschafter Peter Filzmaier sieht es ähnlich: "Die Außenpolitik ist die Bühne, die der Kanzler und der Außenminister für sich allein haben. In der momentanen Situation ist das der ÖVP sicher nicht unangenehm." Da Nehammer und Schallenberg derselben Partei angehören, sei die Abstimmung einfach. Die Opposition befinde sich hier auf verlorenem Posten -außer man sei, so wie Wiens Bürgermeister Ludwig Landesregierungschef. "Schon Kreisky hat gezeigt, wie man sich mit Außenpolitik in Szene setzen kann. Und auch Sebastian Kurz hat, bevor er Kanzler wurde, die Medienbühne in seiner Rolle als Außenminister gekonnt genutzt."

Natürlich seien solche "internationalen Reisen" auch "ein Gebot der Stunde", sagt Filzmaier: "Nicht zuletzt der Ukraine-Krieg hat gezeigt, wie sehr unser Leben in Österreich von internationalen Entwicklungen und Beziehungen beeinflusst ist -etwa was Energie und andere Versorgungsthemen betrifft oder auch Migration." Ob derartige Vorstöße Erfolg hätten oder nicht - und das gelte auch für den Besuch bei Putin -, sei letztlich unerheblich, befindet der Politikwissenschafter: "Nehammer wird unabhängig vom Ergebnis für das, was im Land passiert, so oder so zur Verantwortung gezogen."

Die Beziehung Österreichs zur Türkei und deren Entwicklung über die Jahre sieht Filzmaier als eine pragmatische: Sie sei zwar sicherlich immer wieder belastet, aber gleichzeitig von einer Doppelmoral gekennzeichnet gewesen. Einerseits habe Österreich - und die EU - die Türkei in Sachen Migration immer wieder kritisiert, andererseits seien Lücken in den Außengrenzen, wenn nötig, umgehend mit Geld geschlossen worden. Und momentan spiele die Türkei, die nach den USA über die zweitgrößte NATO-Armee verfüge, ohnehin eine zentrale Rolle: "Das zu ignorieren, wäre eine völlig Verkennung der weltpolitischen Situation."

Pipeline-Netz für die Versorgung mit Gas

Österreich bezieht rund 80 Prozent seines Erdgases aus Russland. In der EU sind es mehr als 40 Prozent. Wichtige Pipelines laufen über das Territorium der Ukraine. Derzeit ist die Versorgung unterbrochen. Aber auch die Türkei ist gut mit Pipelines verbunden, erhält Gas auch aus Aserbaidschan sowie dem Iran und pflegt weiter Beziehungen zu Russland. Bei der Energieversorgung Europas könnte die Türkei künftig eine Rolle spielen

ANNÄHERUNG. Das letzte Treffen zwischen Bundeskanzler Nehammer und dem türkischen Präsidenten Erdoğan fand Ende Juni am Rande des NATO-Gipfels in Madrid statt
Alexander Van der Bellen Der Bundespräsident telefonierte lange mit Erdoğan und vereinbarte dabei Kooperationen
Wolfgang Sobotka ÖVP-Nationalratspräsident empfing nicht nur sein türkisches Vis-à-Vis, sondern tauschte sich auch intensiv mit dem türkischen Präsidenten aus
Michael Ludwig Wiens SPÖ-Bürgermeister traf zuerst den türkischen Städtebund-Präsidenten und dann Erdoğan in Istanbul
Alexander Schallenberg Der ÖVP-Außenminister reiste vor Kurzem in Begleitung von Innenminister Karner in die Türkei
Die Außenpolitik ist die Bühne, die der Bundeskanzler und der Außenminister für sich alleine haben"
Peter Filzmaier Der Politikprofi streicht den medialen Nutzen internationaler Reisen hervor

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 28+29/2022.