Die Generation dazwischen

In Deutschland prägen die Vierzigjährigen das politische Geschehen. In Österreich ist die Altersgruppe rund um Sebastian Kurz krachend gescheitert. Was macht diese Politikergeneration aus? Sind sie die Pragmatiker zwischen den Alt-68ern und Fridays For Future oder einfach nur sehr karrierebewusst?

von Annalena Baerbock © Bild: IMAGO images/photothek

Annalena Baerbock macht derzeit offenbar viel richtig. In den deutschen Politikerrankings liegt die Außenministerin knapp hinter ihrem grünen Parteikollegen Wirtschaftsminister Robert Habeck auf Platz zwei. Dann kommt länger nichts. Dann erst Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD. Vor einem Jahr war Baerbock Kanzlerkandidatin ihrer Partei und in der öffentlichen Wahrnehmung zu jung, zu ehrgeizig, zu unerfahren für einen solchen Spitzenjob. Dazu kam eine unangenehme Plagiatsaffäre, Teile ihres Buches "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern", das im Juni 2021 erschienen ist, waren abgekupfert. Warum man als Politikerin im Wahlkampf überhaupt ein Buch geschrieben haben muss? Um den Lebenslauf zu optimieren? Mit diesem Versuch, gut dazustehen, sei die nun Gefeierte ebenso typisch für die Generation der Vierzigjährigen in der Politik wie mit ihrem Pragmatismus und ihrer Bereitschaft, in Kriegs-und Krisenzeiten grüne Dogmen zur Seite zu schieben, sagt die deutsche Autorin Nora Bossong. Sie hat mit "Die Geschmeidigen. Meine Generation und der Ernst des Lebens" ein Porträt der Altersgruppe, der sie auch selbst angehört, verfasst.

"Denken in Jahrzehnten"

Für Bossong sind die zwischen 1975 und 1985 Geborenen "eine Generation, die pragmatisch vorgeht, die es schafft, Brücken zu bauen. Anders als die Generation vor oder nach ihr, setzen die rund Vierzigjährigen nicht auf lautes Getrommel, sondern auf beharrliche Arbeit und auf Kompromissfähigkeit. Dabei wird auch kritisiert, dass sie zu kompromissfähig ist. Ich halte das allerdings für ein hohes Gut in der jetzigen Zeit. Ich bin überzeugt davon, dass unsere Generation Politik in Jahrzehnten denkt und nicht etwas aus dem schnellen Aktionismus heraus macht."

Bossong erklärt die Kompromissfreudigkeit dieser Generation im News-Gespräch so: "Sie geht zum Teil darauf zurück, dass man sich von der Generation der Eltern abgrenzen wollte, die stark durch 1968 geprägt ist." Entweder, die Eltern waren bei den Studentenprotesten dabei - die freilich in Deutschland vehementer waren als in Österreich -, oder sie waren auf der konservativen Gegenseite. Dieses teilweise radikale Engagement habe dazu geführt, dass die Kinder im Aktivismus zurückhaltender sind, glaubt Bossong. "Viele Kämpfe der Elterngeneration scheinen zudem durchgefochten zu sein, daher hat man sich eher auf das - negativ gesagt -Streberhafte, den eigenen Lebenslauf, konzentriert, oder -positiv -auf das pragmatische Arbeiten." Das kann ins Außenministerium führen oder wie bei Christian Lindner ins Finanzministerium.

Doch es ist nicht nur diese Abgrenzung, die die Generation prägt. Sie ist in einer Zeit aufgewachsen, in der es immer aufwärts ging. Krisen waren meist weit weg. Bossong schreibt in ihrem Buch: "Große Herausforderungen schien es für uns, die heute Vierzigjährigen, nicht mehr zu geben, wir meinten, uns nur noch ums Kleingedruckte kümmern zu müssen." Und: "Ein Mehr an Demokratie, Wohlstand, Frieden und Selbstverwirklichungschancen schien der Horizont unserer Gegenwart zu sein. Die Entwicklung, glaubten wir im Westen, vollzöge sich von selbst." Visionen blieben hinter dem Machbaren zurück, das Gemeinschaftliche hinter dem Individuellen, das führe zu einem zivilgesellschaftlichen Rückzug ins Private.

Neue alte Rollenbilder

Bereits gekämpfte Kämpfe der Feministinnen früherer Jahre kollidieren bei manchen in dieser Generation mit einem "tendenziell reaktionären Rückfall in alte Rollenmuster", sagt Bossong. "Ich höre Sätze wie: ,Nein, ich promoviere nicht, ich möchte nicht, dass ich vom Abschluss her über meinem Mann stehe.' Das finde ich bestürzend." Kindererziehung als (vorrangige) gesellschaftliche Aufgabe, Helikoptermütter, das finde man aber eher in Kreisen, die es sich leisten können. "Im Arbeitermilieu gehen beide arbeiten. Da reicht ein Gehalt nicht", sagt Bossong. Die Politik fördere mit ihren Maßnahmen dieses Familienbild, das gilt in Österreich wie in Deutschland.

Ob Annalena Baerbock und andere Politikerinnen dieser Generation für einen Gegentrend stehen?"Sie ist ein gutes Role Model dafür, dass der Mann die Erziehungsarbeit übernimmt - freilich mit mehr finanziellen Ressourcen als in einem anderen Haushalt. Aber ich verstehe nicht, warum sie sich als Mutter stilisiert, wenn es etwa um die im Grunde wahnsinnig dumme Wodka-Wette mit Russlands Außenminister Lawrow geht." Baerbock hatte das Trinken abgelehnt: "Wenn mittags Wodkatrinken ein Härtetest ist ich habe zwei Kinder geboren." Bossong findet diese Ansage unangenehm für kinderlose Frauen. Und: "Da macht sie sich ja kleiner als sie ist. Sie ist immerhin Außenministerin, und das sicher nicht nur, weil sie zwei Kinder geboren hat, sondern weil sie andere Fähigkeiten hat."

Geschmeidig: Ist das gut oder schlecht?

Joschka Fischer hat als Jugendlicher Steine geschmissen. Diverse österreichische Politiker von heute (vor allem Grüne) saßen 1983 in der Hainburger Au und verhinderten ein Kraftwerk. Karrieren der heute Vierzigjährigen hatten andere Anfänge, sagt Bossong. "Da war es eher so, dass man sehr früh etwas Altkluges hatte, sich nicht auflehnte, sondern die Rolltreppe nach oben sprintet und sich dem Milieu, in dem man Karriere macht, gut anpasst." Geschmeidig, das Attribut, das die Autorin ihrer Generation verpasst, kann ins Negative wie ins Positive kippen. Angepasst-opportunistisch oder konsensorientiertpragmatisch-lösungsorientiert.

Österreichische Sonderfälle

Natürlich gibt es auch in Österreich diesen Politikertypus. In der Regierung stammen Alma Zadic, Leonore Gewessler, Susanne Raab und Karoline Edstadler aus der Generation 40. Und es gab in den vergangenen Jahren eine etwas speziellere Variante: Sebastian Kurz als ÖVP-Chef und Bundeskanzler fiel als 1986 Geborener zwar nicht ganz in die von Bossong betrachteten Geburtsjahrgänge 1975 bis 1985, aber jene Menschen, die ihn begleitet und beraten haben, passen ins Schema. Pragmatisch war die Generation Kurz, wenn es darum ging, alte ÖVP-Werte infrage zustellen, weil anderes erfolgversprechender war. Der eigenen Karriere wurde vieles untergeordnet. Es mischte sich Selbstbewusstsein mit Hybris, was Kurz und seine Mitstreiter letztendlich auch wieder aus der Politik beförderte. Bossong: "Kurz hatte wohl das, was ich als die negativen Elemente des Geschmeidigen sehe, etwas zu sehr: die Karriereleiter im Sprint hocheilen, alles muss sitzen, der totale Überflieger. Er war noch früher als Baerbock oder Christian Lindner (FDP) in einem noch höheren Amt, und dann ist alles wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Das Selbstbewusstsein hat zu sehr eine Schlagseite von Selbstüberschätzung gehabt." Dass Kurz sich bei seinem Rücktritt auf seine junge Familie berufen habe, passt einerseits ins Bild, "aber es war nicht das Allerglaubwürdigste, was ich je im politischen Diskurs gehört habe." Ob es in Deutschland Vergleichbares geben könnte? Bossong: "Das war schon herausragend, auf eine gewisse Art österreichisch. So würde es das in Deutschland nicht spielen."

Was dieser Generation fehlt

Selbstbewusstsein bis zur Selbstüberschätzung nennt Bossong allerdings über die österreichische Causa hinaus als einen negativen Zug dieser Altersgruppe. "Demut und Bescheidenheit sind etwas, was unsere Generation noch ein bisschen mehr annehmen könnte. Da gibt es Nachholbedarf." Und eine andere interessante Schwäche: Die Generation der Vierzigjährigen kennt z. B. die Gräuel des Nationalsozialismus, die frühere Jahrgänge direkt oder aus den Erzählungen ihrer Eltern erfuhren, oft nur aus dem Schulunterricht. Sie argumentiere moralisch auf dem Boden einer historischen Schuld, die man gelernt, aber nicht erlebt hat. Noch einmal ein Verweis auf Joschka Fischer: "Als er über den Bundeswehreinsatz auf dem Balkan entschieden hat, hat er mit einer ganz anderen Inbrunst gesprochen, als es Baerbock heute im Fall des Ukraine-Kriegs tun kann.,Ich habe gelernt, nie wieder Krieg. Ich habe aber auch gelernt, nie wieder Auschwitz.' Das waren seine berühmten Worte. Wenn Baerbock das heute sagt, hat das nicht ganz so viel Hallraum."

Spricht man mit älteren Politikerinnen und Politikern über ihre Arbeit und die Zukunft, fällt eines auf: Die Generation der Vierzigjährigen kommt kaum vor. Sie wird übersprungen, die junge Protestbewegung Fridays For Future scheint "die nächste Generation" zu sein. Den 68ern sind jene, die heute protestieren, näher, selbst wenn man sich inhaltlich nicht nahe steht.

Der geschmeidige Pragmatismus der Vierzigjährigen -er kann auch unsichtbar machen.

Christian Lindner, 43

Der Lehrersohn aus dem Wuppertal versuchte sich schon früh als Unternehmer. Eine Internetfirma, die er mit 21 Jahren gründete, meldete später Insolvenz an -einer der wenigen Brüche in seinem Lebenslauf. Nebenher studierte er Politikwissenschaften, Staatsrecht und Philosophie und war Reserveoffizier bei der Luftwaffe. Mit 16 trat er der FPD bei, war Landesvorsitzender der Liberalen Schüler, Landtags-und Bundestagsabgeordneter sowie Generalsekretär der Partei. Nachdem es die FDP bei der Wahl 2013 nicht in den Bundestag geschafft hatte, übernahm Lindner den Vorsitz, schaffte 2017 den Wiedereinzug und 2021 den Sprung in die Bundesregierung. Lindner ist Finanzminister und damit eine derzeit prägende Figur der Ampelkoalition.

Annalena Baerbock, 41

Ihre Eltern, er Maschinenbauingenieur und Manager, sie Sozialpädagogin, nahmen sie als Kind mit zu Menschenketten gegen das Wettrüsten und Anti-Atomkraft-Demos. Die ehemalige Leistungssportlerin (Trampolin) studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Europarecht. Sie war Mitarbeiterin in diversen grünen Büros und hatte mehrere politische Funktionen. Ab 2013 war sie Bundestagsabgeordnete, ab 2018 mit Robert Habeck Bundesvorsitzende der Grünen. 2021 setzte sie sich als Spitzenkandidatin durch. Nach anfangs großem Zuspruch nahm Kritik an ihrem geschönten Lebenslauf und wegen plagiierter Stellen in einem Buch zu. Heute ist sie Außenministerin.

Alma Zadic, 38

Alma Zadic flüchtete als Zehnjährige mit ihrer Familie aus dem Bosnienkrieg nach Österreich. Studierte Rechtswissenschaften. Ihre Dissertation über Justiz im ehemaligen Jugoslawien brachte ihr Plagiatsvorwürfe ein. Sie wurde Wirtschaftsanwältin, ging zunächst als Nationalratsabgeordnete für die Liste Pilz in die Politik, wechselte aber 2019 zu den Grünen. Heute ist sie Justizministerin.

Sigrid Maurer, 37

Die Tirolerin Sigrid Maurer war von 2009 bis 2011 ÖH- Vorsitzende. 2010 warf sie Flugzettel von der Zuschauergalerie im Parlament und erhielt 18 Monate Hausverbot. 2013 wurde sie grüne Nationalratsabgeordnete. Nach dem Wiedereinzug der Grünen ins Parlament 2019 wurde sie Klubobfrau und sucht Kompromisse mit ihrem ÖVP-Gegenüber August Wöginger.

Beate Meinl-Reisinger, 44

Beate Meinl-Reisinger, die Juristin aus Wien war Mitarbeiterin von EU-Abg. Othmar Karas sowie Familienstaatssekretärin und ÖVP- Wien-Spitzenkandidatin Christine Marek. Unzufrieden mit den Schwarzen gründete sie gemeinsam mit Matthias Strolz die Neos, deren Parteichefin und Klubobfrau im Parlament sie seit 2018 ist. Sie ist in politischen Debatte hart, Neos in Regierungsfunktion sind aber -pragmatisch.

Sebastian Kurz, 35

Ist zwar selbst etwas jünger als die Generation der Geschmeidigen, seine Berater und Begleiter passen aber ins Schema. Ideologisch bis zu einem gewissen Grad anpassungsfähig, karrierebewusst. Kurz selbst kam als Jugendlicher zur ÖVP, arbeitete sich vom JVP-Obmann zum Integrationsstaatssekretär und Außenminister hoch. 2017 übernahm er die Partei und das Kanzleramt. Alles penibel geplant.

Elisabeth Köstinger, 43

Die Kärntnerin verbrachte ihre gesamte bisherige Berufslaufbahn in der Politik. Sie war zunächst bei Landjugend und ÖVP-Bauernbund aktiv, wurde später EU-Abgeordnete. Sie gilt als eine der engsten Weggefährtinnen von Kurz, war für ihn ÖVP-Generalsekretärin und Wahlkampfleiterin, kurzzeitig Nationalratspräsidentin, dann Ministerin. Harte Verhandlerin türkiser Interessen. Trat im Mai zurück.

Susanne Raab, 37

Die Juristin heuerte nach dem Studium im Innenministerium an, wo sie als Abteilungsleiterin für Integrationskoordination Sebastian Kurz kennenlernte. Dieser holte sie 2020 als Ministerin für Frauen, Gleichstellung und Integration in die Regierung. Als sie erklärte, keine Feministin zu sein, hagelte es Kritik. Wie auch Köstinger, Zadic, Meinl-Reisinger zeigt sie, dass Kind und Politik vereinbar sind, wenn der Partner die Betreuung übernimmt.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 23/2022.