Rechtspopulismus in Europa: Moderne Rechte tragen Blazer

Nach Frankreich, Italien und Österreich hat es jetzt auch Deutschland erwischt: Die AfD stellt ihren ersten Landrat. EU-weit kleidet die neue Rechte alte, rechtsextremistische Weltbilder in salonfähige Gewänder. Woher der große Anklang kommt und wie er zu stoppen ist.

von Marine le Pen und Giorgia Meloni © Bild: imago/Italy Photo Press

Dammbruch bis Alarmsignal: Nach dem Erfolg der AfD im Thüringer Landkreis Sonneberg herrscht laute Besorgnis. Der Sieger ist ein rundlicher Mann im weißen Hemd, der fast schon schüchtern wirkt. Robert Sesselmann ist bundesweit der erste AfD-Landrat. Unter den Gratulanten: Björn Höcke, der Vorsitzende des Thüringer AfD-Landesverbands, der seit 2021 vom deutschen Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird.

Ungarn und Polen sind längst nicht mehr die einzigen Länder mit federführend gewordenem rechten Rand. Auch im Rest Europas besetzen Rechtspopulisten immer mehr Sitze in Rathäusern, Landtagen und Parlamentsgebäuden.

Höhenflug in Nord, West und Süd

Für die europäische Rechte war schon das Jahr 2022 extrem erfolgreich. Marine Le Pens "Rassemblement National" konnte die Zahl der Abgeordneten vervierzehnfachen. Ihr Langzeitprojekt, der Einzug in den Élysee-Palast, rückt immer mehr in Sichtweite. Die faschistisch verwurzelten "Fratelli d'Italia" gewannen die Parlamentswahl und machten Giorgia Meloni zur ersten Ministerpräsidentin Italiens. Im Wappen ihrer Partei: die grün-weiß-rote Flamme, die bei der italienischen Rechten symbolisch für die ewige Flamme auf dem Grab Mussolinis steht. In Skandinavien stiegen die rechtspopulistischen Schwedendemokraten zur zweitstärksten politischen Kraft auf. Ihr Chef Jimmie Akesson will sein Land im Stil von Donald Trump "wieder groß machen", Muslime sind für ihn die "größte Gefahr seit dem zweiten Weltkrieg".

Dieser Trend setzt sich auch im Jahr 2023 fort. Die spanischen Kommunalwahlen Ende Mai sind für das linke Lager katastrophal ausgefallen. Für den 23. Juli sind Parlamentswahlen angesetzt. Den Umfragen nach soll die konservative Partido Popular (kurz PP) mit rund 33 Prozent vorne liegen. Drittgrößte Kraft nach der sozialen Arbeiterpartei PSOE ist die rechtsextreme Vox-Partei. Diese könnte nach den Wahlen die Rolle des Königsmachers übernehmen.

Grafik: Europa wählt rechts.
© News Quelle: Statista

"Neue Rechte": Wolf im Schafspelz

»Früher war auf ersten Blick erkenntlich, wer ein Neonazi ist. Heute trägt man Anzug und Sportschuhe«

"Früher war auf ersten Blick erkenntlich, wer ein Neonazi ist", sagt die Politikwissenschafterin Teresa Völker. Skinhead, Springerstiefel und Bomberjacke seien Attribute, die bis in die 90er-Jahre als klare Indizien für eine rechtsextreme Gesinnung galten - und gesellschaftlich als "gefährlich" gelesen wurden. Diese klaren Codes seien heute Geschichte. Die "neue Rechte" lasse sich nicht mehr von "gewöhnlichen" Menschen unterscheiden. "Heute trägt man Anzug oder gewöhnliche Sportschuhe", sagt Teresa Völker. Man gebe sich unscheinbar, harmlos, normal. "Das Erscheinungsbild hat sich verändert. Der Kern, die Ideologie, ist jedoch gleich geblieben."

Dieser Kern ist ein bestimmtes Weltbild, geprägt von Ethnonationalismus und Nativismus, gekreuzt mit antidemokratischen Strömungen. "Es richtet sich kategorisch gegen gewisse Gruppen und hat einen klar menschenverachtenden Kern: zum Beispiel Rassismus", sagt Völker. Die "neue Rechte" seien alte, radikale Inhalte in neuer, salonfähiger Verpackung. Das Ziel der intellektuellen Strömung: Rechtsextremismus anklangsfähiger zu machen, die Ideologie breiter in der Gesellschaft zu verankern.

Unterschwellig schon immer da

Ob Kickls FPÖ, Weidels AfD oder Le Pens Front National: Sie alle treten in schicken Sakkos auf, inszenieren sich als brave Bürger. Sie sind auf den Zug der "neuen Rechten" aufgesprungen. Das Weltgeschehen beschert ihnen ein Momentum. "Rechtsradikale Parteien sind perfekte Krisenkommunikatoren", sagt Politikwissenschafterin Teresa Völker. Finanzkrise, Pandemie, russischer Angriffskrieg - all diese Krisen bieten Möglichkeiten, Angst zu schüren. "Damit lässt sich leicht mobilisieren. Das macht Menschen für einfache Lösungen und Sündenbock-Denken sehr anfällig."

Marine Le Pen
© IMAGO/ABACAPRESS Marine Le Pen

Laut Teresa Völker kommt die aktuelle Hochphase des europäischen Rechtspopulismus keinesfalls aus dem Nichts. "Dem sichtbaren Erstarken der letzten Jahre ist ein langer Prozess vorangegangen", sagt sie. Rechtes Gedankengut habe schon die letzten Jahrzehnte über immer wieder auf der Straße, in Debatten, in den Köpfen der Leute fußgefasst. Die sogenannte Migrationskrise sei kein Wendepunkt für rechtspopulistischen Erfolg gewesen - das impliziere, dass die Richtung zuvor eine andere gewesen sei. "2015 war eher ein Verstärker, der sowieso vorhandene Tendenzen hochbrodeln ließ."

Kultur schlägt wirtschaftliche Not

Heute sind in Europa keine Staaten mehr zu finden, die scheinbar "immun" gegen rechte Ideologien sind. Doch lange galt Portugal als Bollwerk gegen den Rechtsextremismus. Obwohl der Küstenstaat besonders hart von der globalen Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2008 getroffen wurde, blieben nennenswerte Erfolge für Rechtsparteien aus. Erst 2019 wurde die Protestpartei Chega zum nennenswerten Akteur auf dem portugiesischen Politparket, seither ist sie zur drittstärksten Kraft im Parlament aufgestiegen. Die Frage drängt sich auf: Warum erst so spät?

"Wenn ein Land wirtschaftlich starken Schaden nimmt, muss das nicht automatisch bedeuten, dass die Rechte dort erstarken wird", sagt Teresa Völker. Der Wohlstand sei nur ein Faktor von vielen: Demokratiebewusstsein, der Zustand der übrigen Politiklandschaft, kulturelle Aspekte und die historische Vergangenheit ergeben bei jedem Land einen anderen, einzigartigen Mix der Voraussetzungen. "Wie stark ist die nationale Identität ausgeprägt? Sind Rassismus oder negative Positionen zu Migration fest verankert? Die Faktoren können sich von Land zu Land unterscheiden", sagt Teresa Völker. "Letztendlich kann es kein politisches System geben, das voll immun gegen rechte Ideologien ist."

Demokratie versus Extremismus

"Es gibt keine universellen Rezepte gegen Rechts", sagt die Politikwissenschafterin. "In Deutschland, vor dem Hintergrund des Holocausts, müssen die neue Rechte und deren Gegenspieler anders agieren als etwa in Frankreich, um erfolgreich zu sein", sagt Teresa Völker. So brächten auch Polen oder Ungarn einen anderen historischen Hintergrund mit als Spanien, Italien oder Schweden. Einen gemeinsamen Nenner gebe es aber: "Eine intakte, gut funktionierende Demokratie ist der beste Schutz gegen das Erstarken der neuen Rechten."

Zivilgesellschaft als Gegenwaffe

Das wirksamste Werkzeug, um den Geist der Demokratie zu stärken, ist laut Teresa Völker recht eindeutig: es heißt Bildung in der Zivilgesellschaft. Dabei gehe es nicht nur um Vorträge in Schulen. "Wenn viel Geld in das Stützen der Zivilgesellschaft fließt - zum Beispiel in Form von Radikalisierungsprävention und politischer Bildung - ist die Bevölkerung wesentlich resilienter aufgestellt."

Der zweite Platz hinter Bildung: Aufklärungsarbeit. Hochwertige Berichterstattung unabhängiger Medien sei essenziell für eine intakte Demokratie. Während soziale Plattformen rechten Parteien die Möglichkeit geben, ungefiltert zu kommunizieren, können die Medien die Aussagen kritisch beleuchten. Die Aufgabe von Medien ist es, "Wachhund" der Demokratie zu sein. "Wichtig ist dabei ein reflektierter Umgang mit rechten Parteien", sagt Völker. "Berichterstattung ist nicht gleich Aufklärung." Wer Deutungsrahmen und Begriffe rechter Akteure zu wörtlich übernimmt, tappt in die Falle - und bietet rechten Ideologien eine Plattform. "Diese Form der Sichtbarkeit hilft rechten Kräften. Dessen muss man sich bewusst sein."

Vorsicht vor Instrumentalisierung

AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel
© IMAGO/Bernd Elmenthaler AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel

Ende Juni druckte die deutsche Zeitschrift "stern" ein kontroversielles Gesicht auf ihr Cover: die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel. Die blonden Haare in einen strengen Zopf zurückgebunden, weißes Hemd, blauer Blazer. Darunter die Frage: "Was können Sie eigentlich außer Hass, Frau Weidel?" Das Wort "Hass" wurde dabei in Frakturschrift gesetzt, so wie es zur Zeit des Nationalsozialismus üblich war.

"Das Cover bewerte ich als problematisch", sagt Teresa Völker. Der Platz am Titelblatt gebe der AfD-Vorsitzenden eine gewisse Legitimität. "Welcher Artikel hinter dem Cover steckt, wird von den meisten Menschen nicht gesehen." Was die meisten Leute eher wahrnehmen: Die AfD ist jetzt Teil der öffentlichen Debatte, ihre Positionen seien wohl eine Diskussion wert. "Die Message ist: Wer es auf ein Titelblatt schafft, muss wichtig sein. Diese Aktion spielt der AfD direkt in die Hände."

Zusammenarbeit legitimiert

Dasselbe Prinzip gilt für Koalitionen mit rechten Akteuren, wie es sie schon mit der österreichischen FPÖ oder den italienischen "Fratelli d'Italia" gibt. "Wenn konservative Parteien rechtsextreme Inhalte übernehmen oder mit einer rechtsradikalen Partei koalieren, kann das nach hinten losgehen", sagt Teresa Völker. "Das suggeriert der öffentlichen Wahrnehmung: Diese Partei hat etwas zu melden, ihre Positionen sind legitim." Das zeige zum Beispiel Deutschland. "Politiker von der CDU/CSU haben teilweise Aussagen getätigt, die auch von der AfD stammen könnten. Dadurch machen sie deren Ansichten salonfähig. Bei der nächsten Wahl entscheiden sich Menschen dann eher für das ,Original', das Themen wie Migration schon vorher besetzt hat - sie wählen dann eher die AfD."

Gekommen um zu bleiben?

Neben Aufklärungsarbeit und kritischen Medien gibt es laut Teresa Völker eine dritte entscheidende Säule im Kampf gegen Rechts: die Mündigkeit des Einzelnen. "Ob der Rechtskurs gekommen ist, um zu bleiben, liegt an uns allen", sagt die Politikwissenschafterin. "Keine und keiner darf sich aus der Verantwortung ziehen. Wer im Café sitzt und schweigt, wenn am Nebentisch jemand rassistisch beleidigt wird, trägt zur Normalisierung und Akzeptanz rechter Positionen in der Gesellschaft bei. Es sind auch die vielen kleinen Momente des Alltags, die eine FPÖ, AfD oder PiS-Partei ins Parlament bringen."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 28-29/2023 erschienen.