Lisz Hirn: "Man kann Politik nicht ignorieren"

Die Philosophin Lisz Hirn beschäftigt sich in ihrem neuen Buch damit, was Politik "böse" macht. Sie plädiert dafür, sich nicht frustriert abzuwenden, sondern (Mit-)Verantwortung zu übernehmen: "Wir müssen ja auch mit den Folgen leben"

von Lisz Hirn: "Man kann Politik nicht ignorieren" © Bild: Ricardo Herrgott News Ricardo Herrgott

Frau Hirn, Ihr neues Buch trägt den provokanten Titel "Macht Politik böse?". Das müssen Sie erklären. Was genau soll an Politik böse sein?
Ich habe den Eindruck, dass sich viele Menschen gerne engagieren -gerade auch viele junge -, aber den Gang in die Politik für sich ausschließen. Der Titel meines Buches ist natürlich überspitzt formuliert, soll aber dieses allgemeine Gefühl wiedergeben: das Misstrauen, den Verdacht, dass die Politik ein "schmutziges Geschäft" ist.

Politik ist aber nicht das Dämonische auf der anderen Seite, Politik sind letztlich wir alle. Machen es sich Kritiker oft zu leicht?
Kritik an Politikerinnen und Politikern ist notwendig, aber wir verdrängen gerne, dass auch wir Bürgerinnen und Bürger "politische Wesen" sind. Zu Beginn der Pandemie, im ersten Lockdown, hat man Stimmen gehört wie: Die Politiker spielen ja tatsächlich eine Rolle. Die verwalten oder repräsentieren nicht nur vor sich hin, die bestimmen tatsächlich über Menschenleben. Dieses plötzliche Bewusstsein, welch zentrale Rolle Politik in unserem Leben spielt, fand ich spannend.

»Es wird nicht moralischer, nur weil andere es auch falsch machen. «

Sie formulieren in Ihrem Buch zehn "Trugschlüsse" über Politik. Überkommene Prinzipien, auf die sich das politische Establishment gerne beruft...
...und auch Dinge, die ständig wiederholt werden, vor allem in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Beispielsweise: Es ist okay, weil es alle anderen ja auch tun. Das hören wir ständig, wenn es um Korruption und Freunderlwirtschaft geht. Egal, welche Verfehlungen sich ÖVP und FPÖ zuschulden kommen lassen, bei der SPÖ sei das ja auch nicht anders. Aber es wird nicht moralischer, nur weil andere es auch falsch machen. Es würde sehr helfen, Fehler zuzugeben und entsprechend zu reagieren. Oder der Glaube, dass alles geht, solange es nur legal ist. Beim ORF- "Sommergespräch" mit Bundeskanzler Nehammer war ich schon sehr überrascht, von einem christlich-sozialen Politiker zu hören, dass allein das Gesetz die Grenzen vorgeben soll. Natürlich, das Gesetz ist der Rahmen, aber die Bewertung, wem wir als Bürgerinnen und Bürger zutrauen, gewisse Normen umzusetzen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und das richtige Menschenbild zu vertreten, ist ja bitte keine Frage des Gesetzbuches. Gerechtigkeit ist bekanntlich nicht dasselbe wie Recht.

Das Buch: In ihrer neuen Streitschrift "Macht Politik böse?" zeigt Lisz Hirn zehn Trugschlüsse auf, die der Rede vom "politischen Sittenverfall" zugrunde liegen (Leykam-Verlag, 14,50 Euro).

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In dem erwähnten Interview fragte Nehammer provokant: "Wer legt fest, was Moral ist? Wer sagt, was gerade ethisch ist?" Was antworten Sie als Philosophin?
Moral meint, frei übersetzt, Gesamtheit der Sitten, Gebräuche und Normen, auf die eine Gesellschaft aufbaut. Man kann natürlich darüber diskutieren, welche das sind, und das sollte auch ständig passieren. Wer legt also fest, was Moral ist? Zum einen wir alle, und zum Zweiten ist es natürlich auch die Aufgabe von Expertinnen und Experten, Diskurse anzuregen.

Es ist aber wohl davon auszugehen, dass Nehammer tatsächlich ganz genau weiß, wie die Verfehlungen seiner Partei moralisch einzuordnen sind, oder?
Ich denke schon. Aber das ist nicht die Frage. Es gibt genug Ethikkommissionen und Ähnliches in der Politik, auch in den Parteien. Wofür gibt es die dann? Und natürlich, wenn man christlich-sozial im Namen trägt, steht man auch für gewisse Werte und Haltungen, die wiederum gewisse Wählergruppen ansprechen.

Gibt es also zu wenig Moral in der Politik?
Das glaube ich nicht, aber es gibt verschiedene Auffassungen von Moral. Und auch eine Art, sie zu instrumentalisieren, und zwar je nach Lager unterschiedlich. "Rechte" Kommunikation beruft sich gerne darauf, dass Moral nichts oder kaum mit der Politik zu tun hätte, und zitiert dafür ihren Säulenheiligen Machiavelli. Zugleich wird aber z. B. ständig gegen die korrupte Elite und andere Großparteien geschimpft. Ein deutlicher Widerspruch. Beim linken Lager sehe ich diesen moralischen, eigentlich moralisierenden, Zeigefinger, und das ist auch ein Problem. Die Frage ist also, was ist korrektes und was moralisches Verhalten? Natürlich kann ich mich oberflächlich korrekt verhalten, das ist aber noch nicht moralisch.

Dieser Doppelbödigkeit von politischer Sprache widmen Sie sich in einem eigenen Kapitel. Stichwort politisch korrekte Ausdrucksweise: Reicht es, das richtige Wort zu verwenden, um die Wirklichkeit zu verändern?
Das kann natürlich nur ein Anfang sein. Die Frage ist, wie die Diskurse, die von der Zivilgesellschaft oder von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Kultur angeregt werden, politisch instrumentalisiert werden. Werden sie wirklich nachhaltig in die Gesellschaft implementiert, gibt es also messbare Verbesserungen, wenn es z. B. um Geschlechtergerechtigkeit oder die Abbildung verschiedener Minderheiten in der Sprache geht? Man hat schon manchmal den Eindruck, dass es politisch bequemer ist, die Schreibweise zu ändern, als eine echte Änderung in Angriff zu nehmen.

Politiker lügen, betrügen mitunter und verstecken sich gerne hinter Floskeln. Trotzdem, meinen Sie, sind sie nicht obsolet. Wieso?
Fachleute sind wichtig, um die Politik zu beraten. Und was wären wir ohne Sektionschefs und -chefinnen, die die Amtsperioden der Politiker überdauern. Aber es ist nicht Aufgabe des Politikers, nur die Erkenntnisse der Wissenschaft oder der Experten zu kommunizieren, sondern das Gesamtbild, die Stimmungen, das soziale Gleichgewicht, die soziale und politische Gerechtigkeit im Auge zu behalten. Das Beispiel des grünen Ex-Gesundheitsministers und Mediziners Wolfgang Mückstein hat gut gezeigt: Medizinisch kann etwas empfohlen oder sogar alternativlos scheinen, aber die politische Aufgabe besteht ja darin, ganz unterschiedliche Gruppen an einen Tisch zu holen, und dann nachvollziehbare und machbare Entscheidungen zu treffen. Da kann es zu Interessenkonflikten zwischen Wissenschaft und Politik kommen -sie arbeiten nach anderen Kriterien. Auch dass Topmanager die besseren Politiker sind, darf bezweifelt werden wie ich im Buch ausführe.

»Die Frage ist ja auch: Wie weit sind wir bereit, eine Politik zu unterstützen, die unseren Lebensstil oder sogar Lebensstandard ändert?«

Das bestehende demokratische System mit Parteien, Politikern etc. ist also in groben Zügen gesetzt, trotz aller Mängel. Wie kann es verbessert werden?
Es gibt genug Theoretikerinnen und Theoretiker, die sich damit beschäftigen, wie man Systeme korruptionssicherer machen kann. Oder wie man Anreize schaffen kann, um mehr und andere Menschen - vielleicht alleinerziehende Frauen -aktiv in die Politik zu bekommen. Oder wie wir die Jugend mehr abbilden können. Es gibt dazu bereits kleine Projekte, die man breiter ausrollen könnte. Gerade jetzt in der Krise. Die Frage ist ja auch: Wie weit sind wir bereit, eine Politik zu unterstützen, die unseren Lebensstil oder sogar Lebensstandard ändert?

Damit sind wir wieder beim Thema Moral. Sie argumentieren, dass wir möglicherweise gar keine moralischen Politiker wollen, weil die unangenehme Entscheidungen treffen würden.
Ich bin der Meinung, dass sich viele Politiker deswegen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, wenn es um Veränderungen geht, weil es nicht nur Druck aus der Partei, sondern auch ein demokratisches Dilemma gibt: Wenn du eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, der zum Beispiel Autofahren, Fleischkonsum oder das Fliegen wichtig ist, verärgerst, droht dir -und deiner Partei bzw. deinen Unterstützern - bei der nächsten Wahl ein Stimmverlust. Wie weit sind wir also bereit, Nachteile oder Einschnitte für unsere moralischen Überzeugungen in Kauf zu nehmen?

Wir haben die Politiker, die wir verdienen, resümieren Sie sinngemäß im Nachwort.
Das klingt zynisch, hat aber einen wahren Kern. Weil wir Politikertypen möglich machen, die dann diese Art von Korruption betreiben. Damit will ich die Verfehlungen keineswegs entschuldigen, dennoch müssten wir uns die Frage stellen: Wenn wir dieses schlechte Bild von Politikern haben, wer will diesen Beruf, diese Aufgaben dann noch machen? Wen schrecken wir ab und wen ziehen wir damit an? Da ist eine Kulturänderung nötig.

Wo soll diese Veränderung anfangen? Oben, bei den Verantwortlichen, oder unten, bei den Wählern?
Wir haben nicht die Wahl, zu sagen, oben oder unten, es muss beidseitig sein. Aber wir sehen schon, dass Zivilgesellschaft in der Politik etwas verändern kann. Egal, wie man zu den Corona-Demonstrationen steht oder zu den Lobau-Aktivistinnen und -Aktivisten: Sie setzen Politik unter Druck. Politik muss auf diese Äußerungen reagieren. Sich bewusst zu werden, dass auch der einzelne Bürger Veränderungen bewirken kann, ist ein wichtiger Schritt in diesem Prozess.

»Dieses Verständnis -"ich will damit nichts zu tun haben, die Politik ist zu 'verdorben'" -, das funktioniert in einer Demokratie nicht. «

Ein Appell dafür, dass sich jede und jeder der eigenen Verantwortung und der Handlungsmöglichkeiten bewusst wird...
... und nicht nur über Politik schimpft. Man kann Politik nicht ignorieren. Dieses Verständnis -"ich will damit nichts zu tun haben, die Politik ist zu 'verdorben'" -, das funktioniert in einer Demokratie nicht. Wir sind alle für alles, was hier passiert, mitverantwortlich, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen ja auch mit den Folgen leben.

"Macht Politik böse?", fragen Sie im Titel Ihres Buches. Zum Abschluss, Frau Hirn: Macht sie nun böse?
So sehr, wie wir sie als Bürgerinnen und Bürger sein lassen. Indem wir zum Beispiel darauf Wert legen, dass Medien kritisch berichten können, indem wir uns als Bürgerinnen und Bürger informieren, indem wir Zivilcourage zeigen, indem wir demonstrieren, wählen, an Bürgerbeteiligungsprojekten teilnehmen und so weiter, können wir dazu beitragen, dass sich die politische Kultur verbessert. Die Politiker, über die wir uns so gerne aufregen, haben etwas mit uns zu tun, nicht nur, weil wir sie gewählt haben. Und wir können und sollten mit Nachdruck den Anspruch stellen, dass die, die uns vertreten, gewissen moralischen Standards genügen müssen.

ZUR PERSON: Die Philosophin und Dozentin Lisz Hirn ist Autorin mehrerer Bücher, u. a. "Wer braucht Superhelden? Was wirklich nötig ist, um unsere Welt zu retten" (2020), "Geht's noch! Warum die konservative Wende für Frauen gefährlich ist" (2019) und "Macht und Illusion. Wie Medien unsere Auffassung der Wirklichkeit beeinflussen" (2014). Hirn, gebürtig aus der Steiermark, betreibt auch eine Philosophische Praxis in Wien und unterrichtet an mehreren Universitäten.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 37/2022.