Corona: "Das Problem
ist die Unsicherheit"

Seit Beginn der Corona-Krise verfolgen die meisten von uns täglich den Verlauf der Fallzahlen mit. Aber wie genau ist die Statistik zum Corona-Virus in Österreich eigentlich wirklich? Klemens Himpele, Chefstatistiker der Stadt Wien, erklärt im Interview mit news.at, wie die Zahlen des amtlichen Corona-Dashboards vom Gesundheitsministerium zu bewerten sind.

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ist die Unsicherheit" © Bild: iStockPhoto.com

Herr Himpele, im letzten Interview haben Sie gemeint, dass in der Politik oft eine Kontextualisierung von Statistiken fehlt. Macht man mit dem amtlichen Dashboard zu Corona so einen Elefanten aus einer Mücke?
Das Dashboard ist ein Versuch, Daten zeitnah zur Verfügung zu stellen. Diese mehrmals täglich aktualisierten Daten können fast nicht die Qualität haben, die eine saubere statistische Aufarbeitung immer haben sollte. Das hat zwei Gründe: Erstens ist in Ausnahmesituationen wie der Corona-Pandemie die Statistik oft nicht im Zentrum der Überlegungen – leider. Zweitens benötigt die amtliche Statistik für eine qualitätsgesicherte Aufarbeitung Zeit, die bis jetzt natürlich nicht da war. Weil wir noch viel zu wenig über das Virus wissen, gilt das nicht nur speziell für das österreichische Dashboard, auch Dashboards anderer Länder sind mit Vorsicht zu genießen.

Welche Aussage des Dashboards ist für Sie am überraschendsten?
Zum einen sind Genesene und Tote nicht im Dashboard abgebildet – medial kommuniziert werden sie schon. Die aktuell erkrankten Personen sind ja die Infizierten minus der Genesenen und der Verstorbenen. Das wäre eine durchaus relevante Kennzahl.

Zum anderen hat das Dashboard anfangs die Infizierten-Fälle in der Grafik nach politischen Bezirken absolut dargestellt, was zu der verzerrten Situation geführt hat, dass Wien mit 1,9 Millionen EinwohnerInnen mit dem gleichen Maßstab gemessen wurde wie Rust mit 1.979 EinwohnerInnen. Das ist in der Übersichtskarte inzwischen korrigiert und damit auch klar ersichtlich, dass die Hotspots in Bezirken von Tirol und angrenzenden alpinen Bezirken liegen. Das ist aber für die Planung von Quarantäne-Maßnahmen von enormer Bedeutung. Letztlich muss es natürlich darum gehen, die Krankheit überall so gut wie möglich einzudämmen

»Es war sicherlich richtig zu versuchen, die Daten schnell zu kommunizieren«

Macht es Sinn, Daten so kurzfristig auszuspielen bzw. so früh öffentlich zugänglich zu machen?
Das ist schwierig zu beurteilen. Es war sicherlich richtig zu versuchen, die Daten schnell zu kommunizieren. Allein schon deshalb, weil das Bedürfnis nach Information in der Bevölkerung sehr hoch war und immer noch ist, wenn es um das Thema Corona geht. Das Dashboard ist allerdings auch überarbeitet worden und ich bin mir im Nachhinein nicht sicher, ob es nicht klüger gewesen wäre, etwas zuzuwarten und dann gleich mit der richtigen Version online zu gehen. Das ist aber nicht als Kritik zu verstehen.

Grundsätzlich glaube ich, wäre eine entsprechende Wertschätzung der Statistik und ein generell besserer Datenzugang in Österreich wünschenswert. In manchen Fällen wäre auch eine bessere Datenlage wünschenswert, weil Statistiken eine wichtige Grundlage des demokratischen Diskurses darstellen. Dabei stellt sich mir allerdings die Frage, was das größere Problem ist: Ob die Daten aufgrund der Schnelligkeit unscharf sind, oder ob sich die Menschen nach wie vor recht schwertun, die Daten richtig zu interpretieren.

Die aktuellen Entwicklungen zur Corona-Krise in Österreich

Wie aussagekräftig ist das Dashboard Ihrer Ansicht nach generell, wenn man diese Daten-Unschärfe aufgrund der Schnelligkeit berücksichtigt?
Interessant finde ich schon, dass die Zahlen sehr stark akzeptiert und auch als präzise wahrgenommen werden. Im Nachhinein muss man wohl feststellen, dass es wahrscheinlich vernünftig gewesen wäre, die Definitionen von Anfang an klarer auszuweisen.
Das vermutlich prominenteste Beispiel ist die Frage, wer als Corona-Toter bezeichnet werden kann. Inzwischen ist klar, dass alle, die an oder mit dem Corona-Virus gestorben sind, also alle Verstorbenen mit einem positiven Testergebnis, gezählt werden. Das heißt, wir wissen nicht, wer tatsächlich an dem Virus gestorben ist.

Es ist auch nicht immer klar, wie die Kranken den einzelnen Bundesländern zugeordnet werden, nach Testort oder Wohnort – oder wann ein Tag beginnt und endet. Zudem werden die Daten mehrmals täglich aktualisiert.

Lassen sich schon Rückschlüsse auf die Sterblichkeitsrate beim Corona-Virus in Österreich ziehen?
Das kann man seriös noch nicht beantworten, weil die sauber aufgearbeiteten Sterbedaten der Statistik Austria immer im Sommer des Folgejahres bekanntgegeben werden. Nur um einen Eindruck von der Dimension zu geben: Im Jahr 2018, das sind derzeit die aktuellsten verfügbaren Daten, sind in Österreich 83.975 Menschen gestorben. Das sind im Durchschnitt also 230 Menschen am Tag. Im März 2018 waren es 8.339 Menschen oder sogar 269 Menschen am Tag im Schnitt. Bei einer tendenziell alternden Bevölkerung steigt diese Zahl auch an.

Bis Ende März 2019 haben wir nach aktuellen Angaben 128 Menschen gehabt, die mit oder am Corona-Virus gestorben sind. Das sind 1,5 Prozent der März-Toten aus 2018. Das soll nichts relativieren, aber das macht deutlich, wie schwer es ist, aus den laufenden Daten herauszulesen, wie hoch die Übersterblichkeit tatsächlich ist, also wie viele tatsächlich an dem Virus gestorben sind und nicht mit dem Virus. Feststellen lässt sich das tatsächlich erst im Nachhinein.

»Es scheint ein Verständnisproblem zu geben, dass diese absoluten Zahlen relativ wenig aussagekräftig sind, wenn man nicht weiß, was sich dahinter verbirgt«

Gibt es darüber hinaus Angaben, die Ihrer Ansicht nach im amtlichen Dashboard fehlen?
Das Problem ist, dass man Vieles noch nicht ganz genau weiß. Relativ gesichert scheint, dass die Altersstruktur der Bevölkerung eine relevante Kennzahl ist, weil die Verläufe der Erkrankungen bei älteren Menschen schwerer sind als bei jüngeren. Wenn das Virus ein Seniorenheim trifft, ist das also schwerwiegender, als wenn eine Gruppe junger Skifahrer betroffen ist. Es scheint ein Verständnisproblem zu geben, dass diese absoluten Zahlen relativ wenig aussagekräftig sind, wenn man nicht weiß, was sich dahinter verbirgt.

Andere Zusammenhänge sind nach aktuellem Stand der Forschung noch nicht endgültig geklärt und daher auch nicht statistisch darstellbar. Das betrifft die Thematik der Vorerkrankungen, aber auch andere medizinische Überlegungen, ob Übergewicht oder die Luftqualität mit dem Corona-Virus in Zusammenhang stehen. Deshalb fehlen natürlich auch die Informationen dazu.

Wären mehr Tests zielführend?
In der großen Diskussion um Tests wurde beispielsweise von Michael Binder, dem medizinischen Direktor des KAV, darauf hingewiesen, dass bei einer sehr geringen Fallzahl an Erkrankungen in Österreich - davon kann man im Moment ausgehen - das Problem darin besteht, dass kein Test derzeit zu 100 Prozent zuverlässig ist. Wenn nur 0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung infiziert sind, wie der Gesundheitsminister berichtet, ist es nicht hilfreich, breit zu testen: Man erhielte so mehr falsch-positive als echt positive Befunde. Es gäbe also deutlich mehr Menschen mit positivem Befund, die nicht erkrankt sind als tatsächlich erkrankte.

Das würde in Folge enorme zusätzliche Ressourcen – also "contact tracing" bei eigentlich gesunden, aber falsch positiv diagnostizierten Personen - in Anspruch nehmen, mit geringem Nutzen. Daher testen die Bundesländer vor allem Menschen, bei denen eine Infektion wahrscheinlicher ist als beim Durchschnittsbürger.

Wie seriös würden sie Zahlen der Euro-MOMO-Statistik einschätzen?
Auch hier gilt, was ich zuvor für Österreich gesagt habe: Die echte Übersterblichkeitsrate wird man rückwirkend betrachten müssen. Man kann erst dann mathematische Modelle anlegen, wenn man saubere Daten hat. Die Daten von Euro-MOMO sind dennoch die besten Daten, die man im Moment bekommt – für Österreich sind es Daten der AGES. Trotzdem sind es nur Momentaufnahmen, die Trends widerspiegeln können, aber sicherlich nicht die absolut endgültig richtigen Zahlen.

»Das Problem ist die Unsicherheit«

Die EuroMomo-Statistik sieht zu Jahresbeginn der Vorjahre wochenweise nicht viel anders aus als jetzt, teilweise sogar schlechter. Ist Corona unter diesem Aspekt dennoch ein Grund zur Sorge?
Wenn man sich die Zahlen des Diagnostischen Influenzanetzwerks Österreichs vor Augen führt, so sind die mit Influenza assoziierten Todesfälle in Österreich stark schwankend – und können Todesfälle durch Sars-CoV-2 in der Statistik überlagern. 2015/2016 gab es geschätzt 259 mit Influenza assoziierte Todesfälle, im Jahr darauf 2016/2017 4.436 Todesfälle. Daran sieht man, dass auch die Verläufe sehr unterschiedlich sind. Solche Effekte überlagern in den Sterbezahlen dann andere Phänomene wie eben Covid-19.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich will damit nicht COVID mit Influenza vergleichen, sondern das Datenproblem beschreiben, dass sich aus den starken Schwankungen ergibt. Ob das Problem bei Corona die Höhe der Sterblichkeitsrate ist, ist endgültig noch nicht geklärt. Das Problem ist die Unsicherheit: Wir wissen zu wenig über die Krankheit und haben auch keine Impfung oder effektive Behandlungsmöglichkeiten – im Gegensatz zur Influenza. Richtig ist, dass Österreich bislang glimpflich durch diese Pandemie gekommen ist. Hoffen wir, dass es so bleibt.

Glimpflich scheint vorerst besonders Wien als größter Ballungsraum Österreichs davongekommen zu sein. Wie lässt sich das erklären?
Üblicherweise war es historisch so, dass man bei Städten von einem großen Nachteil bei Pandemien gesprochen hat: Die höhere Bevölkerungsdichte ist zwar wirtschaftlich ein Vorteil, Krankheiten verbreiten sich aber schneller. Kontakthäufigkeit ist ein entscheidender Punkt, der im urbanen Raum sehr hoch ist.

Dicht besiedelte Gebiete sind international betrachtet auch jetzt teilweise sehr stark betroffen, um mit New York und Madrid zwei Beispiele zu nennen. Und deswegen ist es schon überraschend, wie gut das bisher in Wien verlaufen ist. Sicherlich auch, weil man richtige Maßnahmen gesetzt hat und weil die Wienerinnen und Wiener sehr diszipliniert sind.

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Hat Wien die Krise bislang auch im nationalen Vergleich gut weggesteckt?
Es ist noch zu früh, um darüber Aussagen treffen zu können. Bisher liegen die Zahlen in Wien im Durchschnitt. Was sicherlich gut war, dass von Anfang an Maßnahmen gesetzt worden sind, beispielsweise, dass Tests zuhause durchgeführt worden sind und die Leute nicht mit der U-Bahn durch die Stadt fahren und sich lange in Wartezimmern aufhalten mussten. Über die bundesweiten Maßnahmen hinaus wissen wir auch von einer Studie des Wifo, dass es in Wien tendenziell mehr Home-Office-fähige Arbeitsplätze gibt als im Bundesschnitt, was die Kontakte seit Mitte März auch deutlich reduziert haben könnte.

»Natürlich besteht die Möglichkeit, dass die Zahlen wieder nach oben gehen«

Verleiten die derzeitigen Zahlen zum Irrglauben, dass Österreich salopp formuliert schon über den Berg ist?
Natürlich besteht die Möglichkeit, dass die Zahlen wieder nach oben gehen, das Virus ist ja nicht weg. Wenngleich auch auf erfreulich niedrigem Niveau, haben wir nach wie vor einige Infizierte. Die Zahlen zeigen, dass die Anzahl der Genesenen steigt und die der Neuerkrankungen sinkt. Das ist ein guter Trend, aber natürlich gibt es noch genug Menschen in Österreich, die diese Krankheit in sich tragen und damit auch anstecken können. Damit kann die Ausbreitung jederzeit wieder losgehen und das wird genau die spannende Frage sein, wie es in den nächsten Wochen und Monaten gelingt, Mechanismen des Zusammenlebens zu finden, die diese Ausbreitung verhindern und gleichzeitig dennoch ein möglichst gutes ökonomisches und soziales Leben zu gewährleisten.

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Man ist also besser beraten, sich auf die Maßnahmen zu konzentrieren als auf die Zahlen zu schauen?
Nein, die Zahlen sind leitend für die Art der Maßnahmen. Daten in einer hohen Qualität sind umso wichtiger, um zu erkennen, falls Sars-CoV-2 in Österreich wieder aufflammt. Durch die lange Inkubationszeit ist es ohnehin schwierig, das rechtzeitig zu erfahren. Ziel bleibt es also, schnell zu erfahren, wo etwas passiert, um dann auch entsprechend agieren und eindämmen zu können. Die Daten werden also tendenziell wichtiger als unwichtiger.

Zur Person: Klemens Himpele, geboren 1977 in Emmendingen (Baden-Württemberg), studierte Volkswirtschaft sozialwissenschaftlicher Richtung an der Universität in Köln. Seit 2012 leitet der Wahl-Wiener die Magistratsabteilung Wirtschaft, Arbeit und Statistik der Stadt Wien.