Statistiker Himpele: "Schaut
die Zahlen doch einfach nach!"

Echte Zahlen statt halber Wahrheiten: Das enthält das neue Buch "Statistisch gesehen" von Klemens Himpele, dem Chefstatistiker der Stadt Wien. Im Interview mit news.at erklärt er, wie man sich gegen Fake-News wappnen kann und wo man mit Statistik dann doch an ihre Grenzen stößt.

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die Zahlen doch einfach nach!" © Bild: iStockPhoto.com

Herr Himpele, spielen Sie Lotto?
Nein, habe ich tatsächlich noch nie gemacht! (lacht) Zahlenaffin bin ich aber immer schon gewesen. Umso wichtiger ist es mir, anderen die Zahlenphobie zu nehmen, die doch sehr weit verbreitet scheint. Aber gerade in Zeiten von Fake-News appelliere ich: „He, Leute, schaut die Zahlen doch einfach nach!“ Sie sind meistens alle verfügbar. Die Zahlen müssen halt stimmen. Ich werde jedes Mal allergisch, wenn mit irgendwelchen erfundenen Geschichten Zahlen herumhantiert wird, ein paar Beispiele dazu gibt es in meinem Buch.

Welcher Missbrauch von Statistik in der österreichischen Politik hat Sie persönlich am meisten aufgeregt?
Die Kontextualisierung fehlt einfach oft. Es wird eine Zahl genannt (die auch stimmen kann), aber ob das viel oder wenig ist wird überhaupt nicht eingeordnet. Da werden dann schon mal Mücken zu Elefanten.
Was häufiger vorkommt als falsche Daten ist die Betonung von bestimmten Zahlen – ohne dass der Kontext berücksichtigt wird. Beispielsweise bei Städtevergleichen. Gerade bei allzu knackigen Schlagzeilen mit Daten würde ich empfehlen, gut draufzuschauen und sich notfalls noch eine zweite Meinung dazu zu holen.

»Zahlen beißen in der Regel nicht«

Die österreichische Politik hat mit Statistik meist ein leichtes Spiel in der Bevölkerung: Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?
Auch in der Schule gab es nur wenige Leute, die Zahlen spannend fanden, für die anderen war es meistens furchtbar. Gerade in Zeiten von Fake-News, wo jeder über eigene Kanäle rausblasen kann, was er will, wird es immer wichtiger zu sagen, dass Zahlen und Statistiken öffentlich und einfach einsehbar sind. Mir ist schon klar, dass nicht jeder die Methode zur Ermittlung des BIP verstehen muss, aber die Einwohnerzahl einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nachzusehen, ist keine Arbeit. Und Zahlen beißen in der Regel auch nicht. Die Statistik ist über die Politik hinaus schon auch eine Grundlage des demokratischen Diskurses, das gehört zur Grundbildung dazu.

Was erwidern Sie Personen, die Statistiken nur dann glauben, wenn sie sie selbst gefälscht haben?
Dass sie Statistiken besser nur dann glauben sollen, wenn sie sie besser verstanden haben (lacht) . Warum nur hat man dieses Misstrauen Statistiken gegenüber? Glaubt jemand etwa ernsthaft, die Bevölkerungszahl in Österreich werde willentlich falsch erfasst?

Möglicherweise aus Furcht davor, dass damit Missbrauch betrieben wird?
Deswegen pocht man ja so auf die Unabhängigkeit und Transparenz statistischer Ämter. Man muss eines schon ganz klar sagen: Es ist heutzutage schon deutlich schwieriger geworden, Statistiken zu missbrauchen und Unwahrheiten unentdeckt zu verbreiten. Früher musste man Statistiken umständlich anfragen oder anfordern, um eine Aussage überprüfen zu können. Jetzt reicht ein Blick ins Internet und man hat nahezu unmittelbar Einsicht. Das ist auch gut so!

Was würden Sie als Experte bei der Betrachtung von Statistiken noch unbedingt empfehlen?
Bei Grafiken, was häufig vorkommt, auf jeden Fall, ob die Skalen richtig abgebildet sind und bei 0 beginnen. Und muss man einfach auch Größenordnungen kennen. Millionen und Milliarden sollte man schon auseinanderhalten können: Oft wird eine Zahl hergenommen und dazugeschrieben, dass sie groß sei. Aber ist sie das tatsächlich?
Auch bei der aktuellen Debatte und Corona ist es wichtig, die Zahlen richtig einzuordnen. So sind beispielsweise seit langem die Wachstumsraten das zentrale Thema, und jedenfalls (noch) nicht die absoluten Infektionszahlen. So etwas kann sich aber eben schnell ändern. Exponentielles Wachstum ist einfach schwer erfassbar.

»Österreich hat eine große Stärke, das Leben zu genießen.«

Sie belegen in Ihrem Buch, dass Österreich in vielen Punkten besser dasteht als Deutschland. Ab welchem Zeitpunkt wäre es statistisch legitim gewesen, dass die Österreicher ihren Minderwertigkeitskomplex ablegen?
Würde man das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt als Maßstab hernehmen, hat Österreich Deutschland schon im Jahr 1999 überholt. Spannend ist ja auch, dass man als großen Nachbarn immer nur Deutschland heranzieht und Italien keine Beachtung schenkt. Die Frage ist auf Sozialsysteme bezogen auch: Wo will man denn als Staat gesellschaftlich eigentlich hin?
Österreich hat eine große Stärke, das Leben zu genießen. . Und Österreich kümmert sich dabei sehr um die Zukunft und investiert erheblich mehr als Deutschland, eben nicht diese „Geiz ist geil“-Mentalität. Man hat so viel in Österreich, warum man sich also nicht selbstbewusster hinstellt, ist mir manchmal auch ein Rätsel. Das Land funktioniert, Wien funktioniert. Und das sage ich jetzt, weil ich in Wien wohne, ich vermute, dass zum Beispiel Salzburg auch funktioniert (lacht) .

Rot und in weiterer Folge Rot-Grün wird in Wien ja zum Beispiel gerne und oft vorgeworfen, Schuldenkönig und Geldverbrenner zu sein. Lässt sich das statistisch nachweisen?
Nein. Beim Schuldenstand liegt Wien genau in der Mitte der Bundesländer. Der entscheidende Punkt ist, dass man Länder- und Gemeindeschulden zusammenzählen muss, weil Wien beides ist. International ist ein Vergleich schwierig, weil die Budgets unterschiedlich gewichtet sind. In Deutschlands Städten sind Polizei und Hochschulen zum Beispiel Ländersache, das macht Wien mit München oder Hamburg nur bedingt vergleichbar. Bereinigt man diese Schwierigkeiten, steht Wien mit Ausnahme von München sogar immer noch besser da als die meisten deutschen Großstädte.

Sie bezweifeln, dass das BIP ein gutes Modell ist, um den Wohlstand einer Gesellschaft abzubilden. Welchen Gegenvorschlag hätten Sie dazu?
Es gibt hier schon viele Gegenvorschläge. Bei der Statistik Austria gibt’s den Versuch mit „Wie geht’s Österreich?“ ein ganzes Indikatoren-Bündel abzubilden. Eine statistische Tücke beim BIP ist ja beispielsweise, dass eine Umweltkatastrophe zu einem steigenden BIP führt, weil die Reinigungskosten relevant werden, die Lebensqualität steigert sie aber nicht.
Letztlich müsste man definieren, was Lebensqualität ist und das dann auch dementsprechend abbilden. Das reine – in BIP gemessene – Wirtschaftswachstum ist es eher nicht mehr.

»Kein Bürgermeister kann mit seiner Stadtplanung etwas fürs Wetter«

Wie ernst kann man denn diese ganzen Lebensqualitäts-Indizes nehmen, die immer wieder über Städte publiziert werden?
Man muss wissen, dass Indizes immer ein Stück weit normativ sind. Man muss ja als Index-Ersteller eine Entscheidung treffen, was hineinkommt und was nicht. Und natürlich auch, wie man die Kriterien gewichtet. Die beiden bekanntesten Untersuchungen, Mercer und Economist, enthalten Vieles, was durchaus sinnvoll ist. Vieles lässt sich als Stadt aber auch gar nicht direkt beeinflussen, zum Beispiel das Klima. Es mag zwar stimmen, weil viel schönes Wetter einen Einfluss auf die Lebensqualität hat, kein Bürgermeister kann mit seiner Stadtplanung allerdings etwas fürs Wetter.
Was mir aber noch wichtig ist in diesem Zusammenhang. Bei Mercer aktuell auf Platz 10 ist Basel. Wer jetzt glaubt, dass man deshalb schlecht dort lebt, der dürfte sich irren. Im Prinzip lebt man ist fast allen angeführten Städten gut, es kommt eben nur noch auf persönliche Präferenzen an.

Was macht Wien besonders, außer dass die Stadt mehr Gurken produziert als ganz Restösterreich?
Nimmt man die Ökologie her, hat Wien deutlich bessere Werte als andere Bundesländer aufgrund der Dichte und des öffentlichen Nahverkehrs. Wien ist übrigens auch das demografisch jüngste Bundesland, sehr studentisch geprägt, mit hohem Bildungsstand. Das ist aber generell ein urbanes Phänomen.
Wenn man mich fragt, was die hohe Lebensqualität von Wien ausmacht, dann antworte ich immer damit, dass die Stadt mein Leben sehr leicht funktionieren lässt. Aber so etwas ist statistisch eben schwer messbar.

Wo stößt Statistik sonst noch an ihre Grenzen?
Bei fast allem, was gefühlte Realitäten sind. Selbst da gibt es immer wieder Versuche, das zu erheben, aber letztendlich sagt das dann doch zu wenig aus. Es gibt übrigens auch eine Reihe von Daten, die in Österreich fehlen. Man weiß zum Beispiel relativ wenig über Vermögen, das hat damit zu tun, dass es keine Vermögenssteuer und damit auch keine entsprechende Statistik gibt.

Zur Person: Klemens Himpele, geboren 1977 in Emmendingen (Baden-Württemberg), studierte Volkswirtschaft sozialwissenschaftlicher Richtung an der Universität in Köln. Seit 2012 leitet der Wahl-Wiener die Magistratsabteilung Wirtschaft, Arbeit und Statistik der Stadt Wien.

© Ecowin Verlag

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