"Wenn es einen Missstand gibt, will ich ihn wissen"

Der Wiener Vizebürgermeister im großen News-Interview

Vor der Wahl noch unbekannt, nach der Wahl Wiener Vizebürgermeister. Was Christoph Wiederkehr in der Koalition zwischen SPÖ und Neos erreichen will, wer ihn politisch beeinflusst hat -und warum er laute Chefs nicht schätzt.

von Wien - "Wenn es einen Missstand gibt, will ich ihn wissen" © Bild: Ricardo Herrgott/News

News: Sie sollten sich für das Interview einen Ort in Wien aussuchen, der für Sie und Ihre Politik steht. Warum stehen wir auf dem Yppenplatz?
Christoph Wiederkehr: Weil ich in der Gegend wohne und diesen Platz gerne hab, weil er vieles von Wien widerspiegelt. Es gibt hier extreme Vielfalt, die Lokale haben sich gut entwickelt. Vor zwanzig Jahren war das ein toter Platz. Jetzt ist es ganz anders.

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Dieser Platz zeigt auch, dass Stadtentwicklung in Wien auch schon vorher gut funktioniert hat.
Er ist ein positives Beispiel dafür, was wir auch in der Fortschrittskoalition vorhaben. Unser Programm sieht vor, zusätzliche Märkte in Wien zu schaffen - vor allem in Grätzeln, die noch nicht so belebt sind, wie in der Donaustadt und in Floridsdorf. Wir wollen auch, dass auf den Märkten am Sonntag in der Gastronomie konsumiert werden kann, weil das zusätzliches Leben bringt. Darum geht es mir: Grätzeln belebt und beliebt zu machen.

In den Stadterweiterungsgebieten gibt es Grätzeln, wo die Menschen nur zum Schlafen hinfahren. Konkret, was ist da geplant?
Das ist eine wesentliche Frage der Stadtplanung. Stadterweiterungsgebiete mit Leben zu erfüllen, muss von Anfang an mitgedacht werden. Man muss Schulen, Kindergärten, Gesundheitsinfrastruktur mitplanen. Mein besonderer Fokus liegt auf einer klimafreundlichen Stadtentwicklung. Zu schauen, dass genug Grün mitgeplant wird, dass Solarenergie auf Dächern von neuen Gebäuden auch gebaut wird. Da gibt es irrsinniges Potenzial.

Die Neos sind aber nicht die Ersten, die damit kommen.
Zum Glück. Denn der Klimawandel ist eine Herausforderung für alle Großstädte, und Wien ist besonders betroffen. Wir haben im Regierungsprogramm das Budget für Baumpflanzungen erhöht und wollen über 20.000 Bäume pflanzen. Außerdem wollen wir mehr Platz für Radwege schaffen. Das sind wichtige Veränderungsschritte und das ist keine Frage von Parteizugehörigkeit, sondern von vernünftiger Stadtplanung.

Aber all das haben wir in den letzten zehn Jahren Rot-Grün auch gehört. Wo ist die pinke Handschrift?
Im Bereich Klimaschutz sind wir sehr ambitioniert, aber es gibt Themenbereiche, wo wir noch mehr mitbringen. Transparenz, wo wir mehr Informationsfreiheit ermöglichen und stärker gegen Korruption kämpfen werden. Es wird einen Antikorruptionsbeauftragten geben.

Wie schwierig war es, das mit der SPÖ zu verhandeln? Diese Partei regiert in Wien durchgehend seit 1945. Da könnte ein Antikorruptionsbeauftragter wie ein Eingeständnis wirken.
Es war ein gemeinsames Verständnis, dass man gegen Korruption aktiv werden muss. In jeder Großstadt, in jeder Bürokratie kann Korruption stattfinden. Wichtig ist, dass man achtsam ist und innerhalb der Stadt Möglichkeiten schafft, das auch aufzuzeigen, etwa über eine Whistleblower-Plattform. Das war nicht schwierig auszuverhandeln. Der härtere Brocken war, dass wir die Parteienförderung zwei Jahre lang nicht anheben und dadurch zwei Millionen Euro sparen.

Gibt es diese Plattform ausschließlich für städtische Missstände?
Es geht um alle Missstände und Korruptionsfälle, die im Umfeld der Stadt stattfinden. Das kann auch sein, dass in der Bauwirtschaft oder in anderen Wirtschaftszweigen gegen das Interesse der Stadt gehandelt wird, etwa Absprache in Vergabeverfahren. Das kann anonym gemeldet werden.

Damit es nicht bei Opposition und Medien landet?
Die Opposition hat hier auf jeden Fall eine wichtige Funktion der Kontrolle. Es ist aber auch die Aufgabe der Regierenden, zu schauen, dass die Verwaltung effizient arbeitet und Missstände aufgedeckt werden. Darum soll im Lauf dieser Periode der Stadtrechnungshof gestärkt werden.

Bisher haben Sie sich als Aufdecker in der Opposition gesehen. Wie wird es Ihnen gehen, wenn Sie auf der Regierungsbank mit Skandalen konfrontiert werden?
Ich werde sagen: "Danke, dass ihr diesen Missstand aufgezeigt habt."

Auch, wenn er Ihr Ressort betrifft?
Wenn es ein realer Missstand ist, will ich ihn auch wissen. Ich halte nichts davon, Dinge unter den Teppich zu kehren, sondern sie müssen verbessert werden. Das ist mein Verständnis von Politik.

Sie ist da, um das Leben der Menschen zu verbessern, und nicht, um sich selbst genug zu sein. Sie sind für die Bildung zuständig. Ein schwerfälliges System, in dem Reformen langsam greifen. Was soll nach fünf Jahren Ihrer Amtszeit anders sein?
Bildungsreformen sind kein Sprint, sondern ein Marathon, aber auch den muss man ambitioniert starten. Die Verbesserung des Bildungssystems beginnt im Kindergarten als erste und wichtigste Bildungseinrichtung. Hier wollen wir die Stundenzahl für die Sprachför derlehrer von 300 auf 500 erhöhen, weil die Sprachfähigkeit und das Erlernen deutscher Sprache ganz wesentlich sind und schon im Kindergarten beginnen müssen. Auch für die Pflichtschulen haben wir sehr viel vor. Wir wollen mit dem Wiener Bildungsversprechen, einem großen Schulentwicklungsprogramm, die Schulen besser unterstützen. Es soll zusätzliche Schulpsychologen und -sozialarbeiter geben und an jedem Schulstandort eine administrative Kraft, die die Direktion und Lehrende von der Bürokratie entlastet, damit sich diese auf das Unterrichten konzentrieren können. Das ist ein wichtiger Hebel, um Talente zu entfalten. Internationale Studien zeigen, dass es an Österreichs Schulen zu wenig Unterstützungspersonal gibt.

© Ricardo Herrgott/News

Auch die Bundesregierung hat in ihrem Programm ein 100-Schulen-Projekt. Ist das Konkurrenz oder Ergänzung?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass gut zusammengearbeitet wird. Ich habe ein sehr gutes Einverständnis mit Minister Faßmann. Er war nach meiner Angelobung die erste Person, die ich angerufen habe, um mich mit ihm in Fragen der Schulentwicklung abzustimmen. Von den hundert Schulen in ganz Österreich sind natürlich zu wenige in Wien, um flächendeckend zu Veränderungen beizutragen, deswegen haben wir hier ein zusätzliches Programm in guter Einbindung und Absprache mit dem Minister. Das ist mein Verständnis von Bildungspolitik: Früher ist es viel zu sehr darum gegangen, wer gegen wen ist, und um parteipolitisches Hickhack.

Es gibt oft die Kritik, dass das Bildungssystem viel zu viel Zeit für Angstfächer und Schwächen verbraucht, wodurch Fächer, in denen Kinder richtig gut sind, zu kurz kommen. Am Ende steht eine Durchschnittsfalle. Wie vermeiden Sie die?
Es geht um individuelle Förderung, darum, dass jedes Kind in seinen Talenten gestärkt wird. Ich finde, das Schulsystem ist viel zu stark auf Defiziten aufgebaut. Kindern wird schon sehr früh beigebracht, was sie nicht können. Hier brauchen wir einen Mentalitätswechsel, indem wir Kindern sagen, worin sie gut sind, und sie genau darin fördern.

Bei der Präsentation des rot-pinken Regierungsprogramms gab es auch Häme, welche Neos-Programmpunkte nicht vorkommen. Einer davon ist die Abschaffung von Pensionsprivilegien. Ihr Parteikollege Gerald Loacker kritisiert regelmäßig jene der Wiener Beamten. Hier sind keine Reformen geplant. Sind Sie zufrieden?
Es braucht immer Kompromisse in einer Koalition. In einer Alleinregierung hätten wir anderes ins Programm geschrieben. Die großen Brocken im Bereich der Pensionen liegen allerdings bei der Bundesregierung. So, wie das Pensionssystem jetzt aufgestellt ist, ist es langfristig nicht nachhaltig und generationengerecht.

Und das Wiener System?
Das ist natürlich auch eine Herausforderung, hier braucht es aber für die Betroffenen eine gewisse Planungssicherheit, was die eigene Pension betrifft.

Sie haben im Wahlkampf das Wiener Corona-Management als Katastrophe bezeichnet und den Rechnungshof eingeschaltet. Wie sieht Ihr Urteil jetzt aus?
Es hat sich massiv verbessert. Wir sehen bei der Siebentagesinzidenz bei den Neuinfektionen, dass Wien inzwischen am besten liegt. In Wien wird viel getestet und wir schaffen es, dass wir die Zahl der Neuinfektionen stabil halten.

Dass viel getestet wird, hat Stadtrat Hacker zum Zeitpunkt Ihrer Kritik auch gesagt.
Das haben wir aber auch schon in der Opposition gelobt. Wo es im Sommer noch Defizite gab, war bei der Nachverfolgbarkeit von Infektionen, weil es einfach zu wenig Personal dafür gab. Das wurde massiv aufgestockt und funktioniert jetzt vergleichsweise gut. Dass es immer noch besser gehen kann und muss, ist selbstverständlich. Derzeit sind die Herausforderungen aber eher bundespolitischer Natur. Von der Bundesregierung werden Ankündigungen gemacht, ohne diese durchgeplant zu haben. Im Bereich der Schulen weiß man nie, was als Nächstes passiert. Die Unsicherheit, die durch die Planlosigkeit der Bundesregierung verursacht wird, ist enorm.

Als Sie vor fünf Jahren in die Stadtpolitik gekommen sind, haben Sie eine Amtszeitbeschränkung von 15 Jahren gefordert. Manche Ihrer neuen Kollegen sind da, wie etwa Ulli Sima, schon drüber. Gilt die Forderung nicht mehr?
Ich bin immer noch der Auffassung, dass Politik keine Lebensaufgabe ist, sondern eine Berufung und ein Privileg, das einem von den Wählerinnen und Wählern geschenkt wird und auf Zeit beschränkt ist. Drei Perioden in einem Amt wären ein gutes Limit. Wir als Neos haben uns das als Selbstverpflichtung auferlegt.

In Ihrem Alter wäre es ohnehin seltsam, das auf Berufslebenszeit anzulegen - aber Sie garantieren, Sie steigen zum vorgegebenen Zeitpunkt aus?
Selbstverständlich. Man darf Dinge nicht nur fordern und predigen, sondern es geht in der Politik auch um Haltung. Ich bin jung in die Politik gekommen, hab die große Freude, jetzt ein Regierungsamt ausfüllen zu dürfen und hier mit meinem Elan und meiner Motivation für Verbesserungen zu sorgen. Dass ich noch andere Sachen machen werde als Politik, ist mir klar.

Und zwar was?
Jetzt habe ich gerade einmal begonnen.

Man kann ja trotzdem Träume haben.
Mein Traum ist jetzt, für Wien Verbesserungen zu schaffen.

Das ist eine typische Politikerantwort.
Die nächsten fünf Jahre auf jeden Fall. Langfristig kann ich mir viel vorstellen. Ich bin ein stark unternehmerisch denkender Mensch, ich mag Innovation und Sachen neu zu schaffen. Ich kann mir auch vorstellen, eine Schule zu gründen oder in einer Schule zu arbeiten. Ich habe vielseitige Interessen. Derzeit ist mein Talent am besten in der Stadtregierung aufgehoben.

Um Weihnachten gab es Fotos von Bürgermeister Ludwig und Ihnen mit Ihren Partnerinnen vor dem Christbaum. Der von Ihnen angekündigte "Tritt in den Hintern der SPÖ", der Sie als Koalitionspartner sein wollten, sieht anders aus. Mit welchem Gefühl sitzen Sie bei solchen Fotos?
Mit einem guten, weil für mich eine Koalition auch eine Partnerschaft ist. Politik hat immer mit Menschen zu tun und mit Zwischenmenschlichem, da ist die persönliche Ebene extrem wichtig. Sie muss auf Respekt aufbauen, wertschätzend sein und man muss sich auf Augenhöhe begegnen. Da gehört auch dazu, dass man sich privat kennenlernt. Der "Tritt" ist eine inhaltliche Diskussion, die wir in der Koalition natürlich immer wieder führen, weil es unterschiedliche Auffassungen gibt. Die werden intern diskutiert, aber dann nach außen gemeinsam vertreten.

Was wäre der Moment, wo Sie ungemütlich werden?
Mir ist Handschlagqualität sehr wichtig. Wenn ich etwas ausmache, muss das auch halten. Da sind Bürgermeister Ludwig und ich uns nicht unähnlich. Was ich gar nicht vertragen kann, ist, wenn unehrlich gearbeitet wird. Da kann ich sehr ungehalten werden, auch wenn ich sonst ein sehr freundlicher, gelassener Mensch bin. Vertrauen ist für mich in der Politik eine der wichtigsten Kategorien, sowohl beim Koalitionspartner als auch bei Mitarbeitern.

Wenn es nicht klappt: Sind Sie dann eher der Laute oder der Bitzler?
Ich halte nichts davon, wenn Führungskräfte das, was sie wollen, durch Aggression oder lauten Ton vermitteln. Aber ich kommuniziere sehr klar, was ich erwarte und auch, wenn ich unzufrieden bin. Ich habe in meinem Berufsleben noch sehr selten jemanden angeschrien, und darauf bin ich stolz.

Ihre Hobbys sind Tischtennisspielen und Lesen, haben Sie verraten. Was lesen Sie gerade?
Über die Silvestertage habe ich mit der Biografie von Barack Obama begonnen. Er ist eine spannende Persönlichkeit und war ein großartiger Präsident. Vor allem wenn man sich ansieht, was zuletzt in den USA passiert ist. Obama hat dagegen auf Zusammenarbeit und Gemeinschaft geachtet.

Ein politisches Vorbild?
Als Vorbild hätte ich ihn nicht gesehen. Als ich in meiner Jugend politisiert wurde, war Heide Schmidt für mich sehr inspirierend. Ihr Buch habe ich über Weihnachten gelesen. Ich lese aber nicht nur politische Biografien, sondern sehr gerne Romane und Literatur der Jahrhundertwende: Zweig oder Thomas Mann. Zuletzt habe ich Camus gelesen.

"Die Pest"?
Ja. Was sonst in diesen Zeiten? Aber es ist nicht das Einzige, das ich von ihm gelesen habe.

ZUR PERSON
Christoph Wiederkehr, 30 Der Salzburger hat Jus und Politikwissenschaft studiert und neben dem Studium beim Verfassungsgerichtshof gearbeitet. Seine politische Karriere begann Wiederkehr bei den Junos, dem Jugend-und Studierendenableger der Neos. 2015 kandidierte er erstmals für die Neos bei der Wiener Gemeinderatswahl, 2018 übernahm er dort von Beate Meinl-Reisinger den Klubvorsitz. Seit November 2020 ist er Vizebürgermeister.