Bildungsforscher: "Wir sind exakt so weit wie am Anfang"

Der Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann kritisiert eineinhalb Jahre Corona-Schulpolitik. Lernfreude sei wichtig, nicht möglichst große Stoffmengen.

von Leere Schulklasse © Bild: iStockphoto.com/onurdongel
Stefan Hopmann, geboren 1954 in Göttingen, ist seit 2005 Professor für Bildungswissenschaften an der Universität Wien. Davor war er an Universitäten in Deutschland und Norwegen tätig. Zu Hopmanns Forschungsschwerpunkten gehören vergleichende Untersuchungen zur Lehrplan-und Schulentwicklung, Qualitätsentwicklung in Bildungsund anderen sozialen Systemen sowie historisch vergleichende Didaktik. Stefan Hopmann gehört seit Beginn der Pandemie zu den scharfen öffentlichen Kritikern der österreichischen Corona-Schulpolitik.
Stefan Hopmann
© Picturedesk/Christian Müller Stefan Hopmann

Ist an Österreichs Schulen derzeit normaler Unterricht möglich?
Nein. Wir befinden uns nach wie vor in einer Ausnahmesituation, die von der Pandemie geprägt wird. Diese Pandemie hat psychisch, sozial, gesundheitlich etc. Auswirkungen auf alle am Schulbetrieb Beteiligten, und das hat natürlich Folgen.

Hunderte Klassen waren zuletzt in Quarantäne. Das reicht von ganzen Klassen bis zu Zweiteilungen -ein Teil der Klasse ist zu Hause, ein Teil darf in die Schule gehen. Können Lehrkräfte unter diesen Bedingungen überhaupt mit neuem Lehrstoff weitermachen?
Der Fehler des Ministeriums besteht doch schon die ganze Zeit genau darin, sich nicht die Frage zu stellen, wie man den Schulbetrieb pädagogisch umbauen könnte, um unter Pandemiebedingungen nicht permanent anfällig zu sein. Stattdessen wird das ganze Problem als ein technisches betrachtet, und man würde am liebsten so weitermachen wie vorher. Damit kommt man permanent in Schwierigkeiten. Wir sind eineinhalb Jahre nach Beginn dieser Pandemie exakt genauso weit wie am Anfang.

Was für eine Art von Umbau wäre Ihrer Ansicht nach denn notwendig gewesen, um der Situation gerecht zu werden?
Es wird immer so getan, als sei die Menge des Lehrstoffs, die man pro Schüler durchkaut, eine fixe, feste, unveränderliche Größe. Das ist historisch nicht der Fall, das ist in anderen Ländern nicht der Fall, und das ist auch fachdidaktisch und pädagogisch nicht der Fall.

Das heißt, statt hysterisch zu versuchen, möglichst viel Stoff in der verbleibenden Zeit durchzubringen, hätte man sagen können: Offenbar gibt es derzeit Dinge, die die Kinder mehr beschäftigen. Das Wichtigste, was wir aufrechterhalten müssen, sind Lernfreude, Lernfähigkeit, Gemeinschaft. Schrauben wir also unsere Erwartungen an Inhaltsmengen etwas zurück. Dann fällt auch nicht die Kirche um, wenn jemand eine Woche nicht da ist.

Das Schulsystem ist stark normiert. Es gibt eine Zentralmatura, es gibt Testungen, die das Niveau der Kinder und Jugendlichen auf einer bestimmten Schulstufe überprüfen sollen. Es gibt Lehrpläne
Lehrpläne sind nicht der Fehler. Aber sie sind früher nicht so gemeint gewesen, dass man alles machen muss, was da drin steht. Sie waren eine Auswahl des Möglichen, nicht eine Vorgabe des unbedingt Erforderlichen. Das ist der Fehler. Durch diese ganze Testeritis, durch die PISA-Folgen, ist der unsinnige Eindruck entstanden, dass die Menge des bewältigten Lehrstoffs ein Qualitätsmerkmal guter Schulen sei. Das ist historisch falsch, das ist empirisch falsch, das ist in jeder Beziehung falsch. Aber genau diese Fata Morgana erschwert die politischen Reaktionen auf die Pandemie jetzt so.

Sie meinen, man hätte zum Beispiel die Zentralmatura aussetzen müssen.
Andere Länder haben das gemacht. Man muss klar wissen: Solche Standardisierungen funktionieren schon im Normalbetrieb nicht. Wir arbeiten jetzt in Österreich seit 20 Jahren, weltweit seit 30,40 Jahren mit solchen Standardisierungen. Das hat noch nirgends zu besseren Leistungen und fast überall zu wachsenden sozialen Unterschieden geführt. Die Verbissenheit, mit der an dieser Strategie festgehalten wird, ist erstaunlich.

Woran liegt es, dass nicht davon abgegangen wird?
Dieses Narrativ hat einen Vorteil, deswegen ist es so schwer totzukriegen: Man kann so tun, als liege der Fehler bei den Betroffenen selbst. Die Schülerinnen und Schüler lernen halt nicht genug, und das wird sichtbar. Die Familien unterstützen sie nicht genug, das wird sichtbar. Denken Sie an die Debatte über die Schulverweigerer. Anstatt sich zu fragen, warum die Leute von der öffentlichen Schule die Schnauze voll haben, überlegt man, wie man sie unter Druck setzen kann. Das Narrativ besagt, die Betroffenen sind selber schuld, statt sich zu fragen, was bitteschön an einem Schulbetrieb falsch ist, der schon im Normalzustand die Schülerinnen und Schüler unzureichend erreichte und jetzt unter Pandemiebedingungen von Elend zu Elend tappt.

So betrachtet müsste der Schaden, der durch die Coronapandemie entstanden ist, noch größer sein als gemeinhin angenommen.
Viel größer, als er sein müsste. Könnten Sie Ihre Matura jetzt noch bestehen?

Bestimmt nicht.
Das kann niemand, höchstens die Leute, die Lehrer geworden sind. Es ist auch völlig egal. In die Schule gehen Sie doch gar nicht, damit Sie sich diese Einzelheiten merken, sondern damit Sie lernen, sich mit andern vernünftig über Sachverhalte zu verständigen. Das ist das Entscheidende. Wir wissen aus der Forschung, dass solche Fähigkeiten für die langfristige Lernentwicklung sehr, sehr viel bedeutsamer sind, als ob Sie ein bisschen mehr oder weniger Mathe können.

»Alle tun so, als würde das Abendland untergehen, wenn zehn Gramm Maturawissen fehlen«

Es gibt also keinen Grund zur Sorge, durch Quarantäne, Lockdowns etc. könnten Bildungslücken bei den Kindern und Jugendlichen entstehen, die nur mehr schwer einzuholen sind?
Noch mal: Es gibt keinerlei Forschung, die belegt, dass exakt die Teilkompetenzen, die hier verlangt werden, irgendeine Zukunftsbedeutung haben. Es ist extrem unterschiedlich, was zum Beispiel in Mathematik in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten gelernt wurde, ohne dass es messbare Folgen gibt. Es gibt aber sehr wohl messbare Folgen davon, ob ein Schulsystem möglichst vielen das Gefühl vermittelt, gut zu lernen, oder ob das zunehmend zum Privileg weniger wird. Ich stelle die Frage, die ich Ihnen gestellt habe, auch jedem Politiker bei jeder Podiumsdiskussion: Wer von den Anwesenden würde seine Matura morgen bestehen? Keiner. Und trotzdem tun alle so, als würde das Abendland untergehen, wenn zehn Gramm Maturawissen fehlen.

Es gibt aber Universitätsprofessoren in Österreich, die beklagen, dass die jungen Leute mit zu wenig Vorwissen von den Schulen an die Universitäten kommen.
Quatsch. Dieser Streit ist exakt so alt wie die Erfindung der Matura. Womit hat er zu tun? Die Universität wollte von Anfang an, als im 19. Jahrhundert der Übergang von der Schule zur Universität geregelt wurde, möglichst viel Vorleistung an die Schule delegieren und die Schule sich natürlich möglichst auf ihr eigenes Programm konzentrieren. Ich könnte Ihnen jetzt für die letzten 160 Jahre aus jedem Jahrzehnt Kommentare von Universitätsleuten schicken, wonach die Schule immer mehr versagt und die Studierenden immer schlechter vorbereitet sind. Das ist Teil des Spiels, möglichst viel der Selektionsverantwortung nach unten durchzureichen.

Dann wird die Jugend gar nicht immer dümmer?
Mich kotzt diese Debatte an. Es gibt keine Forschung, die besagen würde, heutige Maturanten würden von Rechtschreibung bis Integralrechnung ihren Vorgängern irgendwie unterlegen sein. Es gibt immer nur anekdotisches Wissen. Oh, meine Studierenden haben die Kommasetzung noch nie so schlecht beherrscht wie heute. Das sage ich seit 40 Jahren, ehrlich. Mir graut jedes Mal, wenn ich Arbeiten lesen muss. Und ich würde auch sofort behaupten, die haben alle Rechtschreibung verlernt, weil sie nur mehr SMS tippen können. Aber es ist falsch. Es gibt keinerlei Beleg dafür, dass die jungen Leute heute weniger können als früher. Sie können zum Teil sehr viel mehr.

»Es trifft hauptsächlich Kinder und Jugendliche, die keine außerschulischen Ressourcen haben«

Wie hätte sich die österreichische Bildungspolitik nun in der Coronapandemie verhalten sollen, um den Schaden gering zu halten?
Man hätte sich schon längst besser auf den technisch-organisatorischen Pandemiebetrieb vorbereiten können. Was in den letzten Wochen passiert ist, ist reines Chaos. Ansonsten hätte man den Schulen sagen können: Ihr müsst je nach Situation eure Lösung finden. Für uns ist wichtig, dass kein Kind zurückbleibt. Alle Kinder kommen so durch, dass sie ihre Lernfreude, ihre Lernfähigkeit und ihre Gemeinschaftsfähigkeit erhalten. Das Fatale an der akademischen Selbstüberzeugung, also der Lernfähigkeit, ist Folgendes: Ist der Glaube, ein Fach lernen zu können, erst einmal zerstört, ist es wahnsinnig schwer, ihn wieder herzustellen. Durch den ganzen Quatsch mit Kompetenzen und Tests wird vorsätzlich Flurschaden erzeugt. Das stört nur leider die politisch Verantwortlichen überwiegend nicht - Schulpolitik ist bekanntlich immer Politik für die Kinder der Anderen. Selbst pflegen sie ihre Kinder in anderen Schulen zu haben und ihnen auch von Haus aus jene Unterstützung gewährleisten zu können, die es braucht, um diesen Irrsinn zu überstehen. Es trifft hauptsächlich Kinder und Jugendliche, die solche außerschulischen Ressourcen nicht haben.

Die lässt man zurück?
Die lässt man in Österreich zur Zeit eiskalt zurück. Natürlich bietet man dann 14 Tage Sommerkurs an, ich hoffe, das hat viel Spaß gemacht. Aber die langfristige Lernentwicklung bewegen solche Formen von Nachhilfe im besten Falle nicht nachteilig.

Wo führt das hin, weiter gedacht?
Wir laufen darauf zu - was es ja in manchen entwickelten kapitalistischen Ländern wie den USA schon längst gibt -, dass die Leute im Prinzip in unterschiedlichen Lebenswelten unterwegs sind. Nicht in dieselbe Schule gehen, nicht in dieselbe Kirche gehen, nicht in dasselbe Krankenhaus gehen. In Ländern wie Japan, in bestimmten Teilen der USA oder in bestimmten Teilen Englands ist mit der Wahl des Kindergartens entschieden, welche Universität Sie erreichen können.

Auf diesem Weg sehen Sie Österreich?
Wenn es so weitergeht, ja. Wobei Österreich ja eigentlich eine fantastische Geschichte hat, so etwas nicht zu machen. Wir sind nicht umsonst eines der Länder, die, was Wohlfahrtspolitik betrifft, international gut dastehen. Nur sind wir leider gerade dabei, das zu verlieren. Uns fehlen Lehrlinge und qualifizierte Arbeiter, wir haben einen Haufen Jugendliche, die gar keinen Abschluss mehr machen. Abgesehen vom Pädagogischen, Moralischen und vom Psychologischen ist es ja auch ökonomisch der reine Wahnsinn. Wir brauchen diese Kinder und Jugendlichen, wenn sie erwachsen sind. Wir können es uns gar nicht leisten, sie in solchen Heerscharen lernunfähig zu machen.

Das Schulsystem steckt durch Corona in einer Krise, wie es sie seit vielen Jahrzehnten nicht gegeben hat. Kann es ein Zurück zum vorherigen Normalzustand geben, oder bleiben nachhaltige Änderungen?
Es wird vielleicht nachhaltige Veränderungen geben. Die Frage ist, welche. Ich befürchte, es geht, wie beschrieben, in Richtung mehr Segregation, mehr Ungleichheit, mehr Umverteilung von unten nach oben. Aber in jeder Krise steckt ja auch die Chance eines neuen Anfangs. Das könnte dazu führen, dass sich die gesellschaftliche Einsicht breit macht, dass unsere Höher-schneller-weiter-Logiken an ihr Ende gekommen sind und es jetzt darauf ankommt, klug und nicht linear zu wachsen. Aber sicher bin ich mir da nicht.

Hat sich durch Corona gezeigt, dass es in der Schule auf andere Inhalte ankäme?
Nicht unbedingt. Denn was ist Schule? Der Ort, an dem die ältere Generation an die jüngere Generation weitergibt. Das Wichtigste, das ich in der Schule lerne, ist, die vorherrschenden Modi zu verstehen, damit ich begreife, was bisher gemacht wurde. Und das entweder weitermachen oder etwas anders machen kann. Natürlich bin ich dafür, dass mehr mit digitalen Medien gemacht wird und so weiter. Nur werden Sie schnell feststellen, dass der Pflichtschullehrplan heute zu über 80 Prozent identisch mit dem von 1850 ist. Und das ist gar kein Fehler. Die grundlegenden Rechen-,Lese-und Schreibfähigkeiten sind ja keine anderen geworden.

Ein Kind, das jetzt in die dritte Klasse Volksschule geht, hat nur ein Semester ohne Corona erlebt. Wird es davon nachhaltig geprägt?
Das wird bleiben. Es ist ein Generationen-Ding. So wie der Mauerfall für die Ostdeutschen. Diese abgrundtiefe Verunsicherung über Planbarkeit und die Gewissheit des Lebens wird die Weltwahrnehmung dieser Kinder ihr Leben lang prägen. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen zu Hause und in der Schule so viel Sicherheit und Gewissheit wie möglich geben, damit sie nicht völlig verloren sind in dieser ungewiss gewordenen Welt. Das Wichtigste ist, diesem Drittklässler Vertrauen mitzugeben. Das Vertrauen: Ich bin sicher, du kannst alles, dir gehört die Welt, wenn du willst. Egal, wie es jetzt in der Schule läuft.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (39/2021) erschienen.