"Extremisten radieren die breite Mitte aus"

Pandemie, Ukraine-Krieg, Teuerung: Wenn Krisen auf Krisen folgen, boomt die Querdenkerszene. Die Wiener Extremismusforscherin Julia Ebner hat sich undercover unter Impfgegner, Frauenhasser, Klimawandelleugner und Rechtsextremisten gemischt. In ihrem neuen Buch erklärt sie, was radikalisierte Menschen treibt, warum Verschwörungstheorien längst die bürgerliche Mitte erobert haben und was Russland damit zu tun hat.

von "Extremisten radieren die breite Mitte aus" © Bild: iStockphoto.com

Frau Ebner, Sie kennen die Extremistenszene wie keine andere. Wer sind diese Menschen?
Mir ist tatsächlich eine Gemeinsamkeit aufgefallen, die alle Gruppierungen von der dschihadistischen Szene bis hin zu Frauenfeinden und Querdenkern verbindet. Diese Menschen sind offen für extremistisches Gedankengut, weil sie mit einer persönlichen Identitätskrise kämpfen. Sie suchen im Außen nach einfachen Erklärungen für ihre eigenen Probleme. Sie projizieren ihren eigenen Frust auf eine dämonisierte Feindgruppe, die schuld an allem Unheil sein soll - zum Beispiel auf Migranten oder die "globalen Eliten".

Gefährdet ist also, wer psychisch instabil ist?
Es ist auf jeden Fall ein ausschlaggebender Faktor. Krisen wie Corona, der Ukraine-Krieg oder die Teuerung sind der ideale Nährboden für Extremismus, weil sie Verunsicherung und Frustration schaffen. In diesen Zeiten sind mehr Menschen auf der Suche nach einfachen Erklärungsmustern, wie sie Extremisten anbieten. Verschwörungsmythen erfüllen immer auch einen psychologischen Zweck.

Bis zur Pandemie war das Querdenkertum ein Randphänomen. Wann hat es die Massen erfasst?
Das Coronavirus war ein regelrechter Booster für die Extremistenszene. In Krisenzeiten machen wir auf kollektiver Ebene negative Erfahrungen, das macht uns als Gesellschaft sehr vulnerabel. Schon zu Beginn der Pandemie haben sich im Internet rasant Falschinformationen verbreitet - erst zur Krankheit selbst, dann zur Impfung. Die WHO hat schon früh vor einer "Infodemie" gewarnt, die sich parallel zur Pandemie ausbreitet.

»Bildung schützt nicht. Der Wunsch nach einfachen Erklärungen ist zu tiefst menschlich«

Das ist nichts Neues.
Nein, ein Blick in die Geschichte zeigt, dass auch zu Zeiten der Pest oder der Cholera Verschwörungsmythen kursierten. Etwa die Idee, dass Juden die Brunnen vergiftet hätten. Oder die Annahme, dass Ärzte Organhandel treiben würden. Auch die Bilder der "globalen Eliten" oder der bluttrinkenden Satanisten sind alte, antisemitische Projektionen auf Minderheiten, die im Zusammenhang mit Covid wieder aufgewärmt wurden und sich seither hartnäckig halten.

Nur, dass es diesmal das Internet gibt.
Durch das Internet und die sozialen Medien haben sich die Falschmeldungen der "Infodemie" blitzschnell auf der ganzen Welt verbreitet. Verschwörungsmythen sind schneller von Kontinent zu Kontinent gesprungen als das echte Virus.

Auf Anti-Corona-Demonstrationen sind Identitäre, Esoteriker und Durchschnitsbürger gemeinsam marschiert. Was war der kleinste gemeinsame Nenner?
Der kleinste gemeinsame Nenner war das Anti-Establishment-Gefühl. Am Anfang von Covid gab es notwendigerweise ein Informationsvakuum. Die Forschung ist erst mit der Zeit schlauer geworden, was das Virus betrifft. Das hat einen großen Raum zur Skepsis geöffnet. Dieses Vakuum wurde schnell und strategisch von Extremisten und Demokratiefeinden gefüllt. So haben sich Ärger und Misstrauen gegenüber Politik, aber auch gegenüber der Wissenschaft und den etablierten Medien in allen Gesellschaftsschichten breitgemacht. Nicht alle, die bei Impfgegner-Demos mitmarschiert sind, waren zwingend extremistisch oder gewaltbereit eingestellt. Es waren auch Familienmütter und -väter dabei, die einfach besorgt um ihre Kinder waren. Aber genau das stellt die größte Gefahr dar. Wenn es einen gemeinsamen Mobilisierungsfaktor gibt, dieses wachsende Misstrauen, können sich extremistische Ideen vom Rand der Gesellschaft bis in die Mitte fressen.

Unter den Impfgegnern waren auch Ärzte, Anwälte und Ingenieure. Sollte Bildung nicht immun gegen Verschwörungsmythen machen?
Der Wunsch nach einfachen Erklärungen ist etwas zutiefst Menschliches. Das ist vollkommen unabhängig vom Bildungsgrad oder gar der persönlichen Intelligenz. Eher ausschlaggebend ist die psychische Verfassung. Die Pandemie hatte viele Konsequenzen: Depressionen, Ängste und Ungewissheit haben auch vor der bürgerlichen Mitte nicht haltgemacht. Im Lockdown hat die Einsamkeit viele Menschen in extremistische Onlinegruppen getrieben. Bei anderen haben finanzielle Probleme zu Angst vor Statusverlust geführt. Das macht vor allem die Mittelschicht angreifbar. Bei älteren Generationen sind oft fehlende Digitalkompetenz zum Problem geworden. Wenn sie im Internet Falschmeldungen nicht von seriösen Quellen unterscheiden können, rutschen sie eher in extremistische Gruppen ab.

Wie sieht so ein Radikalisierungsprozess aus?
Den Anfangspunkt markiert oft eine recht unschuldige, teils legitime Skepsis gegenüber der Politik und der Medienlandschaft. Stark politisierte Medien sind besonders in den USA ein Thema. Im nächsten Schritt verknüpft man das Misstrauen mit persönlichen Ängsten - zum Beispiel vor dem Covid-Impfstoff, der als sehr tiefer Einschnitt in die persönliche Entscheidungsfreiheit empfunden wurde.

»Wer in die Verschwörungsspirale gerutscht ist, reagiert nicht mehr auf Fakten«

Aber wie entwickelt sich gesunde Skepsis zum Glauben an bluttrinkende Echsenmenschen?
Das liegt am nächsten Schritt: man baut ein großes Konstrukt aus emotionalisierenden Verschwörungsnarrativen, um diese Ängste weiter zu befeuern. Zum Beispiel, dass Bill Gates mittels Covid-Impfung der gesamten Weltbevölkerung Mikrochips implantieren will, oder dass eine Art weltweites Genexperiment geplant sei. Diese absurden Theorien geben Querdenkern das Gefühl, sie haben plötzlich die Wahrheit erkannt. Man begreift sich dann plötzlich als Teil einer exklusiven, "aufgewachten" Gemeinschaft. Diese Strategie gibt labilen Menschen ihren Selbstwert zurück und stiftet eine starke Gruppenidentität. Die geht so weit, dass Menschen ihre Verschwörungs-Peergroup mit ihrer biologischen Familie gleichsetzen.

Wie geht man am besten mit Familienmitgliedern um, die in die Querdenkerszene abgerutscht sind?
Wer schon tief in die Verschwörungs-Spirale gerutscht ist, reagiert nicht mehr auf Fakten. Dann braucht es einen Ansatzpunkt auf emotionaler Ebene. Das Wichtigste: auf jeden Fall weiter den Dialog suchen. Es kann frustrierend sein, aber Distanz ist das Kontraproduktivste, was man für diese Menschen tun kann. Wenn sich Verschwörungsmythos-Sympathisanten zusätzlich isoliert oder im Stich gelassen fühlen, werden extremistische Gruppierungen zum Freundes- und Familienersatz. Ein Kontaktabbruch ist oft der entscheidende Wendepunkt, der zum totalen Abdriften in radikale Szenen führt. Trotz allem sollten Angehörige und Freunde fragen: Welche psychologischen Bedürfnisse stecken hinter dem Interesse für Verschwörungstheorien? Wie kann ich das Gefühl der Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit bei der Person stärken? Denn wir alle sind Menschen, die in Zeiten der Schwäche anfällig sein könnten.

Paradoxerweise präsentieren sich Verschwörer oft als Verteidiger der Meinungsfreiheit. Wie passt diese Logik zusammen?
Eine Taktik, um Extremismus mehrheitsfähig zu machen, ist das Kapern von Sprache. Gewichtige Wörter wie Demokratie, Menschenrechte oder Freiheit werden umgedeutet oder gänzlich neu definiert. Zum Beispiel wird in vielen Verschwörungs-Communities das russische Putin-Regime glorifiziert, während man im selben Satz mit Begriffen wie Friede, Demokratie und Freiheit um sich wirft. Diese Gruppen verbreiten antidemokratische und autokratische Ideen unter dem Deckmantel der Menschenrechte. Das ist eine sehr erfolgreiche Taktik, weil es sich um eine in sich geschlossene, neue Logik handelt.

Apropos Russland: In ihrem Buch schreiben Sie, dass es zwischen 2015 und 2017 mehr als 700 russische Desinformationskampagnen im deutschsprachigen Raum gab.
Ja, genau. Damit sind Fake-News-Kampagnen gemeint, die vom russischen Kreml über Twitter, Facebook und Telegram verbreitet werden. Außerdem haben die russischen Staatsmedien Ableger im Westen, die zu Propagandazwecken verwendet wurden - zum Beispiel die Fernsehsender RT Deutschland oder das Nachrichtenportal Sputnik. Im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 und 2021 in Deutschland wurde strategisch Desinformation verbreitet. Seit 2015 wurde vor sämtlichen Wahlen Stimmung gegen Migration gemacht. Während Covid war die Impfdebatte ein heißes Thema. Hier gab es eine interessante Diskrepanz: In russischsprachigen Staatsmedien wurde die Impfung durchwegs positiv beworben. Im deutschsprachigen Kontext hat Russland klar Impfgegnernarrative befördert. Ziel dieser Strategie ist es seit Jahren, westliche Gesellschaften zu spalten.

Im Fachbuch "Massenradikalisierug"* mischt sich Julia Ebner undercover unter verschiedene Extremistengruppierungen, um deren brandgefährliche Taktiken freizulegen. (Suhrkamp)

Der Plan scheint aufzugehen.
Definitiv. In Österreich haben Persönlichkeiten des rechten Randes, aber auch mehrheitsfähige Politiker der FPÖ russische Impf-Verschwörungstheorien aufgegriffen. Das Ziel ist das Aufrütteln der existierenden Machtverhältnisse in Europa. Russland will die westliche Weltordnung destabilisieren. Das harte Polarisieren ist im Sinne Putins, wegen der wachsenden Feindseligkeit zwischen den beiden Lagern gibt es auch in liberalen Demokratien immer mehr radikale Unterstützer für den Ukraine-Krieg. Die Frage ist, wie weit wir uns als Gesellschaft noch spalten lassen.

Haben wir Russland in den letzten Jahren unterschätzt?
Nicht unbedingt. Es ist bekannt, dass der russische Einfluss auf die politische Landschaft und die Polarisierung in Europa sehr groß ist. Was Desinformationskampagnen betrifft, geht Russland seit Jahren extrem strategisch vor. Die größte Stärke Russlands ist nicht das Militär, wie man momentan auch in der Ukraine sieht, sondern der Informationskrieg. Russland hat es schon weit vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine geschafft, Europas Gesellschaften in Themen wie Migration oder Covid zu spalten.

Sie schreiben, dass Extremisten aus allen Ecken im Ukraine-Krieg in einen neuen, gemeinsamen Knotenpunkt zusammenfließen. Warum ist das so?
Erstens: Schon Anfang des Jahres 2022 hat sich abgezeichnet, dass sich das Thema Covid dem Ende zuneigt. In der extremistischen Szene musste man sich auf ein neues Thema verlagern. Der Ukraine-Krieg kam wie gerufen. Zweitens: In nationalistischen, frauenfeindlichen und homophoben Gruppierungen wird Putin aus verschiedenen Gründen zum Helden stilisiert. Er steht für "traditionelle Werte" und spricht Nostalgiker an, die sich in eine konservativere Vergangenheit zurückwünschen. Putin als radikale Kontrastfigur zu den Werten einer liberalen Demokratie macht ihn für Establishment-Gegner sehr interessant. Der UkraineKrieg ist zum Stellvertreter-Kulturkrieg geworden: liberale Demokratien gegen ein autoritäres, illiberales Regime.

Wie lange werden uns die Folgen dieser "Infodemien" begleiten?
Die extremen Ränder haben schon große Teile der Gesellschaftsmitte erobert. Das wird noch lange eine große Herausforderung bleiben. Die hyperpolarisierte Debatte, die wir mittlerweile haben, spaltet auch durchschnittliche Familien in sehr identitätsbasierte Lager, die kaum mehr miteinander reden wollen. Wenn die Mitte ausradiert wird, verbreiten sich extremistische Ideen wesentlich leichter. Die Verschwörungsideologien werden uns höchstwahrscheinlich länger als die Krisen, aus denen sie entstanden sind, begleiten. Wir haben es mit einem großen Schaden zu tun.

Zur Person

Julia Ebner
© imago images/Future Image Julia Ebner forscht in London und Oxford zu Extremismus

Julia Ebner, geboren 1991 in Wien, forscht am Institute for Strategic Dialogue in London sowie am Centre for the Study of Social Cohesion an der Universität von Oxford zu Extremismus. Als Expertin arbeitet sie mit Regierungsorganisationen und Polizeiorganen zusammen. Sie berät außerdem die Vereinten Nationen, die Nato und die Weltbank in Fragen des Extremismus. Der Öffentlichkeit ist sie durch Auftritte bei Markus Lanz, den Tagesthemen und dem heute-journal bekannt. Ihr Buch "Radikalisierungsmaschinen"* wurde 2020 als "Wissenschaftsbuch des Jahres" ausgezeichnet, war "SPIEGEL"-Bestseller und stand auf der Sachbuch-Bestenliste.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 15/2023.

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