Rechtsruck der ÖVP

Die ÖVP Niederösterreich, Machtbasis und geistiges Zentrum der Partei, lässt sich auf eine Koalition mit der notorisch rechten niederösterreichischen FPÖ ein. Viele deuten diesen Pakt als Vorzeichen für eine neuerliche schwarz-blaue Koalition im Bund. Kritische Beobachter warnen: Die Inhaltsleere der ÖVP und die zunehmende Radikalisierung der FPÖ könnten zu ungarischen Verhältnissen in Österreich führen

von Johanna Mikl-Leitner © Bild: IMAGO images/SEPA.Media

Überall lange Gesichter, als Johanna Mikl-Leitner und Udo Landbauer vergangene Woche das schwarz-blaue Koalitionsabkommen präsentierten: bei den beiden Protagonisten dieser politischen Zweck-Ehe, die keiner wollte, bis sie aus Gründen des Machterhalts unausweichlich schien,-und erst recht bei der Öffentlichkeit, die sich auf einmal mit politischen Unterwerfungsgesten gegenüber Corona-Maßnahmen-Skeptikern, der Forderung nach Deutschpflicht in Schulhöfen, leidenschaftlichen Bekenntnissen zum Verbrennungsmotor und anderen Versatzstücken aus dem freiheitlichen Forderungskatalog konfrontiert sah.

Ein Kniefall vor der weit rechts stehenden niederösterreichischen FPÖ. Ein Tabubruch, der sogar die "Kronen Zeitung" tags darauf zu der Schlagzeile veranlasste: "Mikl-Kickl-Pakt als Zeitenwende". Es sei nun, so der Tenor des dazugehörigen Artikels, wohl auch im Bund wieder mit Schwarz-Blau zu rechnen.

Keine besonders riskante These nach den Ereignissen der letzten Wochen: In seiner "Rede zur Zukunft Österreichs" hatte ÖVP-Kanzler Karl Nehammer noch vor Abschluss des schwarz-blauen Deals in Niederösterreich deutlich gemacht, wo er die Zukunft des Landes sieht. Nicht in einer Koalition mit den Grünen. Nicht im Geiste des Fortschritts und der Aufklärung. Seine Prioritätensetzung in der Rede korrespondierte in vielem mit dem niederösterreichischen Koalitionspakt. Klimawandel halb so wild, Österreich ein Autoland und Gendern unnötig. ÖVP-Klubchef August Wöginger machte in einem "Report"-Interview dann endgültig klar, wohin die Reise geht: Ja, man werde mit den Grünen weiterarbeiten, versprach er. Aber nein, eine Koalition mit der Kickl-FPÖ sei danach nicht ausgeschlossen.

Kurswechsel

Das hatte die längste Zeit anders geklungen. An der Personalie Kickl war 2019 die türkis-blaue Koalition gescheitert. Kickl galt seitdem als Persona non grata in der ÖVP. Namhafte Vertreter der Partei schlossen eine Koalition mit der FPÖ unter seiner Führung stets aus. Noch letzten Frühling sagte ÖVP-Europaministerin Karoline Edtstadler im Interview mit dem Magazin "Profil":"Die FPÖ hat sich unter Herbert Kickl radikalisiert. Sie überschreitet beim Thema Antisemitismus permanent Grenzen, sie distanziert sich nicht ausreichend von Judensternen, von Vergleichen von Impfstoff mit Zyklon B und von 'Impfen macht frei'-Parolen auf ihren Corona- Demonstrationen. Ich bin sehr diskussionsfreudig -aber bei solchen Vorfällen fällt mir nichts mehr ein. Daher ist für mich persönlich eine Koalition mit dieser FPÖ ein No-Go."

Das scheinen maßgebliche Teile der ÖVP mittlerweile anders zu sehen. Kommt, wenn spätestens 2024 neu gewählt wird, in ganz Österreich antiwissenschaftliche, ausländerfeindliche Politik à la Niederösterreich? Definieren Mikl-Leitner und Landbauer die Grenzen dessen, was in einer schwarz-blauen Zusammenarbeit möglich ist, neu?

Macht und Angst

Der Neos-Politiker Helmut Brandstätter, früher Chefredakteur des "Kurier", ist ein langjähriger und überzeugter Kritiker der türkis-blauen Koalition, wie sie Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache von 2017 bis 2019 praktizierten. Er hat ihr auch ein Buch gewidmet. "Kurz &Kickl: Ihr Spiel mit Macht und Angst", heißt es. Brandstätter erklärt den Titel: "Es geht immer darum, welches Menschenbild eine Partei hat. Kurz hatte keines. Er wollte eigentlich nur Macht. Bei der FPÖ war das anders. Da war das Menschenbild autoritär. Oder, wie Erhard Busek im Vorwort zu meinem Buch schrieb: Sie versuchen, den Menschen Angst zu machen, weil die sich dann nach dem starken Mann umschauen, der alles wieder gutmacht. Bei Macht und Angst haben Kurz und Kickl einander getroffen."

Viele Maßnahmen, die damals beschlossen wurden, hatten eindeutig autoritäre Züge, meint Brandstätter. Die Installierung von Generalsekretären in den Ministerien zum Beispiel. Die Tatsache, dass Kurz alle Abgeordneten alleine aussuchte. Der Umgang mit Medien. "Diese Leute haben aber auch die Sicherheit des Landes gefährdet. Das, was Kickl mit dem BVT gemacht hat, gefährdet die Sicherheit Österreichs bis heute. Wir sind offenbar nicht wieder Mitglied des Berner Clubs geworden, in dem sich die Geheimdienste austauschen. Ich weiß von einem westeuropäischen Botschafter in Wien, dass gewisse Informationen immer noch nicht an Österreich weitergegeben werden."

Hinweise darauf, dass die ÖVP sich wieder eine Koalition mit der FPÖ vorstellen kann, gebe es schon länger, sagt Brandstätter. Seit der Niederösterreich-Koalition sei sowieso alles klar. "Wenn man mit Liederbuch-Landbauer, Nazigruß-Bors und Waldhäusl, der mit Antisemitismus aufgefallen ist, eine Koalition eingehen kann, warum kann man dann nicht mit Kickl zusammenarbeiten? Einige in der ÖVP versuchen, zu beruhigen, indem sie sagen, wir würden zwar mit der FPÖ koalieren, aber Kickl nicht zum Kanzler machen. Das schaue ich mir an, wenn er 30 Prozent hätte und die ÖVP 20."

Die größte Gefahr einer neuerlichen rechts-rechten Koalition sieht Brandstätter, außenpolitischer Sprecher der Neos, in einer Verschlechterung der Beziehungen zu Europa. "Schüssel hat die FPÖ damals immerhin gezwungen, sich für Europa auszusprechen. Das ist Mikl-Leitner nicht mehr gelungen. Wenn wir uns weiterhin außerhalb der EU stellen, dann gefährdet das unsere Sicherheit und unseren Wohlstand massiv. BMW hat gerade eine Milliarde in Österreich investiert. Wenn nicht klar ist, wie wir uns in der EU verhalten, werden sie das nicht tun. Und das gilt für viele andere Investments auch. Unser Wohlstand hängt mehr als in anderen Ländern von der Europäischen Union ab. Ich weiß nicht, ob Kickl das weiß. Und wenn ja, ist es ihm egal. Es macht mir Sorgen, dass nur mehr eine Partei in Österreich uneingeschränkt für ein einiges Europa eintritt."

Neues Selbstbewusstsein

Der Koalitionspakt in Niederösterreich demonstriert das neue Selbstbewusstsein der FPÖ, die in allen Umfragen auf Platz eins liegt und sich für alternativlos hält. Keine Kompromisse mehr, keine Abgrenzung zu rechts außen. Ein Sieg auf ganzer Linie für Kickl. Die Partei, die ihn noch vor Kurzem zum Paria erklärt hat, stimmt einem Koalitionsabkommen zu, das eine tiefblaue Handschrift trägt. Nicht einmal zu oberflächlichen Freundlichkeiten lässt man sich mehr herab. Die Verachtung ist greifbar. Im selben Ausmaß, in dem die FPÖ triumphiert, zeigt die ÖVP Schwäche: So weit die Hosen herunterlassen musste sie in einer Koalition mit den Freiheitlichen noch nie. Der Eindruck entsteht: Der ÖVP geht es nur mehr um Machterhalt. Von Grundsätzen, christlichen Werten und Haltung ist nicht mehr viel übrig.

Der Politologe Fritz Plasser, langjähriger Kenner der ÖVP, sieht die Partei immer noch "fest auf dem Boden christdemokratischer Parteien" stehen. Der Rechtskurs der letzten Jahre habe mit der Konjunktur bestimmter Themen zu tun: "Im Bereich Asyl und Migration hat die ÖVP immer wieder sehr zugespitzt. Sie richtet dabei den Blick auf die FPÖ. Wenn diese aus taktisch-strategischen Gründen das Thema in den Vordergrund stellt, löst das Reflexe in der ÖVP aus, um ihre Wähler zu halten."

Im Vergleich mit dem Mitte-rechts-Lager in Europa sei die ÖVP aber "immer noch moderat", meint Plasser. Er sehe durch die Koalition in Niederösterreich auch keine Hinweise auf eine neuerliche schwarz-blaue Polit-Partnerschaft im Bund. "Diese Koalition war bis vor 14 Tagen nämlich sehr unwahrscheinlich, Mikl- Leitner hat eine Zusammenarbeit mit Herrn Landbauer nicht angestrebt."

Tiefe Krise

Andere Beobachter beurteilen die Situation skeptischer. Walter Ötsch zum Beispiel, Ökonom und Kulturwissenschaftler, Autor von "Haider light. Ein Handbuch für Demagogen"(2000) und "Populismus für Anfänger"(2017, mit Nina Horaczek). Er sieht die Volkspartei in einer tiefen Krise.

"Die Frage 'Wozu braucht man die ÖVP?' kann man theoretisch oder beschreibend nicht mehr beantworten", sagt Ötsch. "Sie ist ein funktionierender Machtapparat, der vor allem auf dem Land eine große Organisationsdichte aufweist. Nur wissen sie leider nicht mehr, was sie mit ihrer Macht anfangen sollen. Sie sehen die erfolgreiche Politikmache der Rechten und versuchen, sie nachzumachen."

Es sei der ÖVP nicht gelungen, den Abgang von Kurz zur Selbstbesinnung zu nutzen, meint Ötsch. "Man hätte Klarheit über den Politikstil von Kurz gewinnen und inhaltlich eine Reidealisierung schaffen müssen. Beides ist nicht passiert. In Niederösterreich koaliert jetzt die Kernmacht der ÖVP mit den Rechten in der FPÖ. Wenn das an der Basis der ÖVP durchgeht, ist es die gedankliche Vorbereitung auf die nächste schwarz-blaue Koalition im Bund." Die Unsicherheit in der Positionierung, das ständige Schielen nach rechts, das sind keine Alleinstellungsmerkmale der ÖVP. Auch andere bürgerliche Parteien in Europa, zum Beispiel in Deutschland, ringen um ihre Identität. In Zeiten von Corona, Krieg und der ungelösten Klimaproblematik gebe es keinerlei gestaltende konservative Ideen, sagt Ötsch. "Die konservativen Parteien haben das Bild der Welt verloren. Sie verstehen die Gegenwart nicht mehr."

Im Fall der ÖVP komme dazu, dass sie es verabsäumt habe, ihre Geschichte aufzuarbeiten. "Es waren fürchterliche Zeiten in den 30er-Jahren, und ich weiß auch nicht, wie man als Politiker hätte reagieren können. Die Vaterländische Front hat die Demokratie so ausgehöhlt, dass dann 1938 kein Widerstand gegen die Nationalsozialisten mehr vorhanden war. Es ist das historisches Versäumnis der ÖVP, dass sie sich damit nie ernsthaft beschäftigt hat. Man könnte sich ja heute davon abgrenzen und sagen, die Vorfahren haben Fehler gemacht, aber das ist nicht passiert. Und das ist heute ein Problem, weil die Erzählung über die Vergangenheit implizit auch immer eine Erzählung über die Gegenwart ist. Der Streit über die Geschichte ist essenziell für die Politik der Gegenwart."

Immer weiter nach rechts

Die Inhaltsleere, die Ötsch bei der ÖVP diagnostiziert, führe sie seit geraumer Zeit immer weiter nach rechts. "Im Wahlkampf 2017 hat es eine Fernsehdebatte zwischen Kurz und Strache gegeben, in der beide gewetteifert haben, wer die größere Nähe zu Viktor Orbán hat. Ich denke, das hat diesen Weg der ÖVP klar vorgezeichnet. Die Frage ist, ob man Ungarn noch als Demokratie bezeichnen kann. Ich würde sagen: Nein. Wir sind in Richtung Ungarn unterwegs. Vielleicht sind die Gegenkräfte noch stark genug. Aber letztlich sind es Minderheiten, die dagegenhalten, wie man an den Stellungnahmen zur schwarz-blauen Koalition in Niederösterreich sieht. Die Selbstverständlichkeiten, die man vor zehn Jahren noch in der österreichischen Politik hatte, ein Selbstverständnis von Republikanismus, Demokratie und Menschenrechten, eine Selbstverständlichkeit des Antifaschismus, das ist erodiert."

Das Hauptproblem, sagt Ötsch, sei dabei nicht die FPÖ: "Sie hat ihr Politikprogramm, das sie immer wieder abspulen wird. Es ist auch egal, welche Skandale sie hat, sie kommt mit neuen Protestthemen immer wieder." Das Problem sei die ÖVP. "Die Frage ist: Wo sind die meinungsbildenden, ideologischen, weltanschaulichen Kräfte innerhalb der ÖVP? Was bedeutet es heute, konservativ zu sein und gleichzeitig auf dem Boden der Demokratie zu stehen? Das ist alles nicht beantwortet. Und solange sie diese Antworten nicht haben, werden sie gemeinsam das Land nach rechts schieben, haben aber kein Bewusstsein dafür, dass sie es tun. Das ist die Gefahr." Denn das polarisierende Denken der Rechten, erklärt Ötsch, habe eine eingebaute Eskalationsspirale. "Harte Politik gegenüber Flüchtlingen reicht nicht, weil es immer weiter überboten werden muss, damit die FPÖ die Diskurshoheit behält. Jedes Entgegenkommen gegenüber den Positionen der FPÖ schiebt das Land immer nur weiter nach rechts. Diese Spirale kann man in vielen Ländern beobachten: wie sich Trump systematisch radikalisiert hat, man kann für die AFD ein ungefähr 15-stufiges Eskalationsmodell formulieren, und man kann die Radikalisierung der FPÖ seit dem Jahr 2000 beschreiben. Kickl ist radikaler als Strache, und der rechte Flügel der FPÖ ist jetzt in Niederösterreich in der Regierung."

Radikalisierung der FPÖ

Dass die Kickl-FPÖ immer radikaler wird, das hat nicht nur Europaministerin Edtstadler letzten Mai gut beschrieben, das bestätigt auch Bernhard Weidinger, Forscher am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands und Kenner der rechtsextremen Szene. Seine Einschätzung: "Abgesehen von ihrer Gründungszeit, in der noch NSDAP-Kader den Ton angaben, stand die FPÖ nie weiter rechts als heute. Das gilt nicht für alle Landesgruppen im selben Ausmaß, wohl aber für die Bundespartei und Niederösterreich."

In Vorbereitung auf ihre Regierungsbeteiligung 2000 und 2017 habe die FPÖ sich jeweils gemäßigt. Und in beiden Fällen habe das Ausscheiden aus der Regierung und die begleitende Parteikrise zu einer Refanatisierung geführt. Nach Ibiza -und im Zuge der Pandemie -sei diese besonders gründlich ausgefallen. "Wie umfassend die FPÖ sich heute außerhalb des liberalen Grundkonsenses stellt und wie ungeniert sie dabei den rechten Rand umarmt, ist jedenfalls in den letzten Jahrzehnten präzedenzlos."

Für Österreich bedeutet es nichts Gutes, sollte sich die ÖVP zu einer Zusammenarbeit mit der Kickl-FPÖ hergeben. Denn Kickl habe vielfach bekundet, bei einer neuerlichen Auflage von Schwarz-Blau auf einer weitgehend kompromisslosen Umsetzung freiheitlicher Positionen zu bestehen, sagt Weidinger. "Wer sich die von führenden Freiheitlichen in den letzten Jahren beschworenen internationalen Vorbilder ansieht, von Viktor Orbán bis Alexander Lukaschenko, wird sich davon jedenfalls keinen Frühling der liberalen Demokratie erwarten."

Vorsichtig ausgedrückt. Populismusforscher Ötsch sieht es so: "In zehn oder 15 Jahren wird man in Österreich sagen, dass niemand den Niedergang der Demokratie gewollt hat. So wie am Schluss niemand gewollt hat, was 1938 in Österreich passiert ist. Natürlich hat es niemand gewollt. Aber man hat es getan. Aktuell droht kein Hitler. Aber es könnte passieren, dass sich Österreich in Richtung Ungarn oder Polen entwickelt. Und dagegen müsste, wenn einem die Werte der Demokratie wichtig sind, eine große Bewegung entstehen. Aber ich sehe keine."

Die innerparteilichen Reaktionen auf den neuerlichen schwarz-blauen Tabubruch in Niederösterreich fielen in der Tat verhalten aus. Die frühere Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky verkündete via Facebook, aus Protest gegen den "zunehmenden Rechtsruck der Partei" aus der ÖVP austreten zu wollen. Othmar Karas, Vizepräsident des Europäischen Parlaments und Niederösterreicher, schrieb auf Twitter: "Landbauer und Waldhäusl übertrumpfen einander mit Gedankengut, das mit dem Menschenbild der ÖVP unvereinbar ist", vergaß aber auch nicht darauf, der SPÖ einen Teil der Verantwortung zuzuschieben.

Aus weiten Teilen der ÖVP war nichts zu hören. Es sei ein weiteres Erbe der Ära Kurz, meint Neos-Politiker Helmut Brandstätter, "dass Leute, die ihren eigenen Kopf mitgebracht haben, aussortiert wurden und nur mehr die Steuerbaren übriggeblieben sind."

Ein desillusionierter Schwarzer, der lieber anonym bleiben möchte, analysiert die Entwicklungen der letzten Jahre so: "Die gemeinsame Regierung mit der FPÖ von 2000 bis 2007 führte die ÖVP eine großen Schritt von der politischen Mitte nach rechts. Unter Kurz wurde die VP zur rechtspopulistischen Partei mit immer wiederkehrenden Angriffen auf die Höchstgerichte und damit den Rechtsstaat, permanenten Angriffen auf die EU, Freundschaft mit Orbán und dem alle anderen Probleme Österreichs zudeckenden Thema der Migration. Innenminister Kickl durfte schalten und walten, wie er wollte." Und zur aktuellen Situation: "Mikl-Leitner würde unterschreiben, dass die Erde eine Scheibe sei, wenn die FP dies wollte. Und sie würde die Schulen anweisen, diese Erkenntnis zu unterrichten."

"Geistige Leere"

Einer, der sich aus der Deckung wagt und offen sagt, was er denkt, ist Heinrich Neisser. Der ehemalige ÖVP-Politiker, Ende der 80er-Jahre Minister für Föderalismus und Verwaltungsreform in der Bundesregierung Vranitzky II, danach Klubobmann und zweiter Nationalratspräsident, stand Koalitionen mit der FPÖ schon immer skeptisch gegenüber. "Ich war auch kritisch, als Schüssel eine Koalition mit der FPÖ eingegangen ist," sagt er. "Aber der hat zumindest die Fähigkeit gehabt, die FPÖ-Leute in der Regierung im Zaum zu halten. Und er hatte eine klare europäischen Einstellung."

Die ÖVP, sagt Partei-Veteran Neisser, brauche eine geistige Erneuerung. "Ich sehe bei ihr nichts, das in die Zukunft weist. Das ist mir völlig unverständlich. Wenn sie nicht bald damit beginnt, einen grundlegenden inhaltlichen Prozess zu starten, wird sie in Zukunft bestenfalls als Dachverband der Landesorganisationen bestehen bleiben. In der Rede Nehammers war nichts, wo man sagt, das ist die Zukunft der Partei. Sie hat nur der Präsentation des Parteiobmanns gedient."

Als Christdemokrat, klagt Neisser, habe man in der ÖVP heute keine verlässliche Heimat mehr. "Diese Partei hat es aufgegeben, das Christlich-Soziale zur Richtlinie ihres Verhaltens zu machen. Es gibt eine geistige Leere, und es ist niemand in der Lage, diese zu füllen. Der Vereinsamungsprozess in der ÖVP dauert schon länger. Seit dem Tod von Erhard Busek fühlt man sich noch einsamer und alleine. Die Frage, ob man sich politisch noch engagiert, wird sich irgendwann stellen."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 12/2023.