Wenn 400 Euro
zum Leben bleiben

Immer mehr Pensionisten haben in Zukunft immer weniger Geld. Deshalb hat die neue Regierung vergangene Woche einen Aktionsplan gegen Altersarmut angekündigt. Ob der helfen wird, ist fraglich. Drei Pensionisten aus Wien gewähren News einen Blick in ihr Leben und ihre Finanzen.

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zum Leben bleiben © Bild: News/Herrgott

Die Menschenschlange wird länger. Etwa 40 Frauen, Männer und Kinder stehen vor dem Gemeindesaal der Pfarre Alt-Ottakring in Wien. Sie warten dicht gedrängt hinter einem Absperrgitter auf Einlass. Die meisten von ihnen sind Alleinerziehende, Flüchtlinge - und Pensionisten. Sie umklammern die Griffe ihrer Einkaufstrolleys und Plastiksackerln. Unter ihnen wartet Renate H. Sie trägt eine hellblaue Daunenjacke, einen grauen Hut und ist geschminkt. Ein gepflegtes Aussehen ist der 70-jährigen Niederösterreicherin wichtig. Auch wenn sie, wie fast jeden Freitagmorgen, in der Schlange steht und auf die Lebensmittelausgabe der Caritas wartet.

Erst Friseurin, dann Tagesmutter

Vor zehn Jahren wurde das Projekt Le+O, also Lebensmittel und Orientierung, als Kooperation zwischen der Caritas, der Erzdiözese Wien und mehreren Pfarren ins Leben gerufen. Seitdem steigt die Zahl der Menschen, die das Angebot nutzen. Darunter sind immer mehr Pensionisten. Und die Zahl der armutsgefährdeten Senioren dürfte in Zukunft weiter drastisch ansteigen. Das prognostiziert der Pensionsexperte Bernd Marin. Die neue türkis-grüne Regierung will Altersarmut bekämpfen, sagt sie. Ein nationaler Aktionsplan soll dafür ausgearbeitet werden. Ob der helfen wird? "Die neue Bundesregierung wird sich daran messen lassen müssen, ob die Schlangen bei Le+O länger werden oder kürzer", sagt Klaus Schwertner, Generalsekretär bei der Caritas Wien.

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Bis es so weit ist, wird Renate H. immer wieder dort warten. Sie stammt aus dem Waldviertel. Als sie jung war, besorgte ihr ihre Mutter eine Lehrstelle als Friseurin in Wien. Damals hatte sie keine Berufswahl. In den frühen 70er-Jahren jobbte sie als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik für Impfstoffe. Sie verliebte sich und bekam eine Tochter, der Mann verließ sie. Sie verliebte sich wieder und bekam zwei Söhne. Der jüngste starb nach zwei Tagen. Der Mann verließ sie. Renate H. war am Boden zerstört. Eine Nachbarin versuchte sie aufzubauen, erzählte ihr von der Möglichkeit, sich um ein Pflegekind zu kümmern. Renate H. fragte beim Jungendamt an, und sie brachten ihr ein sechs Tage altes Baby.

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Von da an stand der Kontakt zur MA 11 und Renate H. rutschte zusätzlich zur Pflegschaft in den Beruf der Tagesmutter rein. Zum ersten Mal konnte Renate H. etwas in die Pensionskasse einzahlen. An manchen Tagen passte sie auf sechs Kinder im Alter zwischen sieben Monaten und sechs Jahren auf. Dazu noch auf ihre eigenen zwei Kinder und das Pflegekind. Mehr als 20 Jahre war sie Vollzeit angestellt. "Ich habe immer mehr als 40 Stunden gearbeitet", sagt Renate H. Seit 2007 ist sie in Pension. "Ich hätte sicher mehr Geld bekommen, wenn ich drei, vier Jahre länger als Tagesmutter gearbeitet hätte, aber ich habe es einfach nicht mehr geschafft", sagt sie und zuckt mit den Schultern.

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In die Menschenschlange vor dem Gemeindesaal kommt Bewegung. Ein Mann mit grau meliertem Haar und Bart, der ein rotes Caritas-T-Shirt trägt, verteilt an die Wartenden Zettel. Walter Schuh, 78 Jahre, ist hier einer von 24 freiwilligen Helfern an diesem Tag. "Wir geben Nummernzettel aus, damit die Menschen nicht schon Stunden vorher hierherkommen, um zu warten, sondern per Zufallsprinzip reingelassen werden", erklärt Schuh. Renate H. zieht heute die Nummer 41.

Kellnern bis 67 Jahre

Etwas früher dran ist Pensionist Arif M. Der 69-jährige Serbe trägt eine speckige Schiebermütze aus Leder und eine alte Winterjacke. Er schiebt seinen blauen Einkaufstrolley vor sich her und durch den Gemeindesaal. Vorbei an den Tischen, auf denen die Lebensmittel in Obstkisten aufgestapelt sind. Arif M. lebt seit 1972 in Wien. Damals zog es den gelernten Gastronomen in den Westen, um mehr Geld zu verdienen. Erst arbeitete er als Hilfsarbeiter im Schlachthof Sankt Marx und mistete die Ställe der Pferde und Schweine aus. Nebenbei lernte er Deutsch. Dort verdiente er 4.000 Schilling, also keine 300 Euro. Er konnte davon leben, sagt er. Nur, dass er da in die Pensionskasse eingezahlt hat, glaubt er nicht. Nach einem Jahr bekam er eine Stelle in der Wäscherei eines Hotels. Das Gehalt war noch geringer, aber er durfte dort wohnen. Es folgten Jobs auf einer Baustelle, als Spediteur und in einer Gärtnerei. Angemeldet war er nicht immer. Irgendwann bekam er eine Festanstellung als Kellner. Die behielt er 38 Jahre lang.

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Erst vor zwei Jahren, nach einem Krankenhausaufenthalt, musste sich Arif M. eingestehen, dass er nicht mehr arbeiten kann. Seitdem bezieht er eine Pension von 863 Euro. Das ist weit unter der Armutsgrenze in Österreich -die liegt bei 1.060 Euro (netto 14-mal pro Jahr). Arif M. bekommt keine Zuschüsse für Miete oder Strom. Er weiß nicht, wie er so was beantragen muss. Er versucht, so sparsam wie möglich zu leben. Seine 29-Quadratmeter-Wohnung kostet 287 Euro. Darin sind 50 Euro enthalten für Renovierungsarbeiten. Seine Wohnung schaut jedoch renovierungsbedürftig aus. Die Farbe blättert von der Wand, er muss mit Strom heizen, die Toilette ist draußen auf dem Gang. Für Strom, Fernsehen und eine Ablebensversicherung zahlt er 133 Euro. So bleiben ihm 443 Euro. Sparen kann er nichts. Sein Luxus sind Zigaretten und der Hund Elli. Dann bleiben ihm 200 Euro für Lebensmittel. "Ich leihe mir am Monatsende oft Geld bei Freunden und Verwandten. Wenn die Pension dann auf dem Konto ist, zahle ich alles zurück, bis es wieder von vorne losgeht", beschreibt Arif M. sein System.

Durchschnitt und trotzdem arm

Zurück in der Schlange. Caritas-Mitarbeiter Walter Schuh ruft die Nummer 41 auf. Renate H. darf in die Eingangshalle. Hier wärmen sich schon die auf, die bereits reindurften. Sie sitzen an Tischen, trinken Kaffee oder Tee und essen Mamorkuchen. Es ist laut wie auf dem Jahrmarkt. Renate H. drängt sich an Kinderwägen und Stühlen vorbei und holt sich einen Kaffee, essen kann sie heute nichts. Sie musste sich ihre Zähne richten lassen. Ein finanzieller Absturz für Renate H. Sie rechnet vor: "Ich bekomme jetzt 1.143 Euro Pension. Davon muss ich jeden Monat 450 Euro Miete zahlen, 300 Euro für Strom, Heizung, Internet, Telefon und Medikamente, weil ich Diabetes habe. Mir bleiben also 393 Euro zum Leben", sagt sie. Mit dieser Kalkulation liegt die Pensionistin etwas über dem österreichischen Durchschnitt. Denn der liegt bei Frauen laut der Pensionsversicherungsan stalt (PVA) in Österreich bei 1.033,24 Euro. Trotzdem wird es für Renate H. jeden Monat eng. Ihre neuen Zähne musste sie vor Weihnachten bezahlen. 450 Euro haben die gekostet. Dafür hat sie ihr Konto überzogen. In diesem Monat konnte sie 200 Euro zurückzahlen. "Ich lebe billig. Esse kein Fleisch, keine Wurst. Ich esse überhaupt viele Dinge, die ich vorgekocht habe, und dafür gehe hier einkaufen."

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Wenn der Antrag eine Hürde ist

Für 3,80 Euro bekommen sie, Arif M. und die anderen hier etwa 15 Kilo Lebensmittel. Darunter Gemüse, Obst, Joghurt, Brot, Tee. Alles Dinge, die Supermärkte der Caritas spenden. Jeder, der einen Mitgliedsausweis hat, darf hier einkaufen. So ist sichergestellt, dass das System nicht ausgenutzt wird und die Menschen wirklich arm sind, die hierherkommen.

Renate H. schämt sich nicht dafür. "Ich habe immer gearbeitet, und jetzt erleichtert mir dieses Angebot mein Leben." Etwas unfair behandelt fühlt sie sich trotzdem. "Wenn ich weniger gearbeitet hätte, würde ich heute die Mindestsicherung bekommen. Dann müsste ich keine Fernsehgebühren bezahlen und würde einen Zuschuss für Medikamente bekommen." Tatsächlich unterstützt die Mindestsicherung Wiener und Wienerinnen, die ein Einkommen von weniger als 917,35 Euro haben. Also hätte auch Arif M. einen Anspruch auf einen Zuschuss - wenn er wüsste, wie das geht. Die Pensionistin Gabriela Z. bekommt diesen Zuschuss. Die 62-jährige Wienerin ist gelernte Wäschebeschließerin, ein Job, den es heute nicht mehr gibt. Sie kennt die Unterschiede zwischen Seide, Leinen und Baumwolle. Einige Jahre hat sie in einer großen Wäscherei im 16. Wiener Gemeindebezirk gearbeitet. Dann wurde sie schwanger, nach zwei Jahren verließ sie der Mann. Gabriela Z. schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Immer nur auf 20-Stunden-Basis, damit sie sich um den Sohn kümmern konnte. Sie arbeitete als Hausbesorgerin, als Verkäuferin, im Gastgewerbe und als Bedienerin im Finanzministerium. Nicht überall wurde sie angemeldet, und das war Gabriela Z. ganz recht. So blieb am Ende des Monats mehr Geld übrig.

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"Als ich vor zwei Jahren in Pension gegangen bin, wurde ich informiert, dass ich das Minimum bekomme", sagt Gabriela Z. Das Minimum, das sind in ihrem Fall 885 Euro. Dazu bezieht sie einen Zuschuss von 109 Euro für Miete. Für den Rest der Miete, Fernwärme, Strom, UPC und Handy zahlt sie etwa 500 Euro. Ihr bleiben 494 Euro. Gabriela Z. sagt, das sei für sie okay. Wenn etwas kaputtgeht, muss sie nur einen Kostenvoranschlag einholen, und dann wird es vom Staat bezahlt. Das wusste die 62-Jährige im vergangenen Sommer aber noch nicht. Sie kaufte sich sofort einen neuen Kühlschrank, als der alte kaputtging und schickte die Rechnung an das Sozialamt. Das lehnte ab, und Gabriela Z. konnte sich nichts mehr zu essen kaufen. Die Caritas half ihr mit Lebensmittelmarken aus. Aber der Gang zur Caritas war für die Pensionistin schwer. "Erstens habe ich mich in diesem Bezirk überhaupt nicht ausgekannt, zweitens waren dort so viele ausländische Menschen, da habe ich mich unwohl gefühlt, und ich bettle auch nicht gerne", sagt sie. Überhaupt geht die Pensionistin ungern raus. Sie bleibt lieber alleine. "Das kostet auch weniger Geld", sagt sie.

Vor der Pfarre in Ottakring ist Renate H. jetzt fertig mit ihrem Wocheneinkauf. Sie ist froh, dass sie Semmeln bekommen hat. Dann kann sie Knödel zubereiten. "Die lassen sich immer sehr gut einfrieren und machen satt."

Ursprünglich ist dieser Beitrag in der Printausgabe von News (05/2020) erschienen!