Europa, was nun?

In Frankreich protestierten Hunderttausende gegen die Steuerpolitik ihres Präsidenten. Ein Symptom, das auf ein tiefergehendes Ungemach verweist, meint der Schriftsteller und Historiker Martin Walker.

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Politik - Europa, was nun?

Flammen und Granaten auf den Champs-Élysées. Der Pariser Prachtboulevard gleicht einem Schlachtfeld. Menschen in Warnwesten, "Gilets jaunes" ("Gelbwesten") genannt, ziehen massenhaft, viele von ihnen randalierend, in Richtung Triumphbogen und skandieren "Macron, démission!": "Rücktritt, Macron!". Bars, Cafés und Geschäfte sind mit Planken verriegelt. Die Bilder, die uns in den vergangenen Wochen aus Frankreich erreichten, deuteten auf bürgerkriegsähnliche Zustände hin. Dabei bezeichneten sie keine einmaligen Vorkommnisse: Die gewaltsamen Proteste wiederholten sich Woche für Woche. Präsident Emmanuel Macron versuchte das Volk in einer Rede an die Nation zu beschwichtigen. Was geschieht nun mit der Grande Nation? Droht tatsächlich ein Bürgerkrieg?

Der Wahlfranzose und gebürtige Schotte Martin Walker, Schöpfer erlesener Kriminalromane um den französischen Provinzpolizisten Bruno Courrèges und ehemaliger politischer Korrespondent für die britische Tageszeitung "The Guardian", lebt seit 1999 mit seiner Familie in Frankreich. Mit News sprach der studierte Historiker über die "Gelbwesten", den Brexit und die Zukunft Europas.

Mister Walker, Gewalt bei den Demonstrationen der "Gelbwesten", Terror in Straßburg. Wie ernst ist die Lage in Frankreich?
Die Stimmung war aufgeheizt. Die Bilder, die in diversen Fernsehnachrichten gezeigt werden, sind düster. Aber die Proteste finden nur in bestimmten Gegenden statt. Ich lebe auf dem Land, war aber vor Kurzem in Paris und Bordeaux. Wo nicht demonstriert wird, verläuft alles ganz ruhig. Die Cafés sind geöffnet. Man geht dem Alltag nach.

Was war der Auslöser für die Proteste?
Die ersten Proteste fanden bereits im Sommer statt, als die französische Regierung beschloss, die Geschwindigkeit auf den Landstraßen von 90 auf 80 km/h zu reduzieren. Die Proteste der "Gelbwesten" begannen im September, als die Benzinpreise erhöht wurden. Mit den Steuern auf Treibstoffe sollten Umweltprojekte finanziert werden. Die Franzosen, die auf dem Land leben, sind aber auf ihre Autos angewiesen, denn es gibt kaum Busoder Bahnverbindungen. Die Proteste der "Gelbwesten" waren in Frankreich etwas ganz Neues. Jeder Autofahrer konnte dabei sein. Auch mich haben einmal ein paar Demonstranten freundlich gegrüßt, als sie auf dem Rücksitz meines Wagens eine Warnweste entdeckten.

Wie kam es zu den Massenprotesten in den großen Städten?
Die Proteste weiteten sich aus, als Macrons Steuererhöhungen bekannt wurde. Die betrafen auch Pensionisten, die sich den Demonstrationen anschlossen. Dann senkte Macron die Steuern auf große Vermögen, was eine Steuererleichterung für die Reichen bewirkte. Und vor einem Monat, da waren die Brexit-Verhandlungen noch im Gang, hat er Bankern Steuererleichterungen angeboten, um sie von London nach Paris zu holen. Die hätten weniger bezahlt als die Franzosen. Dass die "Gelbwesten" den Rücktritt Macrons forderten, verschaffte ihnen zunächst breite Unterstützung in der Bevölkerung.

Wird Präsident Macron zurücktreten?
Macron wird nicht gehen. Er hielt im Fernsehen eine Rede an die Nation, bei der er sich für die Situation im Land entschuldigte. Er versprach eine Erhöhung des Mindestlohns, Entlastungen für Pensionisten und andere Steuergeschenke. Das kostet Frankreich bis zu zehn Milliarden Euro. Die von der EU erlaubte Defizitgrenze wird damit überschritten, aber Macron hat es geholfen. Seine Rede verfolgten 23 Millionen Menschen, das waren mehr Seher als bei einer Fußballweltmeisterschaft.

Kann aus den "Gelbwesten" eine ernst zu nehmende politische Bewegung entstehen?
Ich halte diese Bewegung für eine Eintagsfliege. Ich bezweifle, dass sie den Jahreswechsel überlebt. Viele Franzosen sind verärgert, dass sie ihre Weihnachtseinkäufe nicht machen können. Durch die Beschädigung nationaler Denkmäler, etwa des Triumphbogens, haben sie sich den Unmut der Bevölkerung zugezogen. In meiner Gemeinde auf dem Land formierten sich vor Kurzem schon die ersten Proteste gegen sie. Als die versuchten, den Verkehr zu stoppen, zerstörten die Gegner deren Barrikaden.

Unter den "Gelbwesten" befinden sich offensichtlich nicht wenige Gewalttäter. Woher kommen die?
Die Gewalt geht von einem bestimmten Flügel namens "Les Casseurs" (Randalierer, Anm.) aus. Der setzt sich aus einer Gruppe extremer Rechter und Linker zusammen. Die versuchen, die Proteste aufzupeitschen und Gewalt zu provozieren.

Besteht Grund zur Sorge, dass diese Gewalt weitere Ausmaße annimmt?
Mehr Sorge bereiten mir die EU-Wahlen, die im kommenden Frühjahr bevorstehen.

Weshalb?
Die Wahlbeteiligung in Frankreich wird sehr gering sein. Die extreme Rechte, aber auch die extreme Linke in Frankreich werden den Zorn im Volk schüren. Und wir werden ein ganz anderes Bild von Frankreich im europäischen Parlament bekommen. Wir werden überhaupt ein ganz anderes Bild von Europa bekommen. Ich vermute, dass die extreme Rechte in ganz Europa bei den EU-Wahlen ganz gut abschneiden wird.

Lässt sich erheben, wie die "Gelbwesten" wählen?
Man schätzt die Anzahl der "Gelbwesten" derzeit auf 200.000.40 Prozent von ihnen wählten Front National, die extrem rechte Partei, 20 Prozent von ihnen gaben ihre Stimme Jean-Luc Mélenchon, (Gründer der extremen linken Partei La France insoumise, unbeugsames Frankreich, Anm.). Aber was wir derzeit durch die Proteste der "Gelbwesten" in Frankreich erleben, ist nur ein Symptom für etwas, das in Europa viel tiefer geht.

Wofür?
Das alles ist Teil eines fundamentalen politischen Wandels in der westlichen Welt. In Amerika hat er bereits stattgefunden, wie die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten gezeigt hat. Auch in Ungarn, Polen, aber auch in Österreich gab es diesen Wandel. In Italien ist er an dieser seltsamen Koalition aus extremen Linken und Rechten festzustellen. Und in Großbritannien zeigt er sich durch das Votum für den Brexit.

Der Brexit soll im März 2019 vollzogen sein. Aber noch hat Premierministerin Theresa May die Abstimmung über den Vertrag, den sie mit der EU ausgehandelt hat, nicht zur Abstimmung ins Parlament gebracht. Hat die politische Stimmung in Europa Einfluss auf die Brexit-Abstimmung der Briten?
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein glühender Anhänger des Brexit, sehen die Proteste der "Gelbwesten" in Frankreich, die Proteste der Katalonier in Spanien, Italien im Chaos, Ungarn, Polen, die AfD in Deutschland, da denken Sie doch, was ist so wunderbar an diesem Europa? Ist es das wirklich wert, dort dabei zu bleiben? Europa sieht für den Rest der Welt wie ein knarrendes, altes System aus. Es gibt nicht einmal eine europäische Version von Facebook.

Kann der Austritt Großbritanniens aus der EU doch noch verhindert werden?
Man wird sehen, ob wir eine neue Abstimmung über den Brexit haben werden. Ich habe noch nie so ein politisches Chaos in Großbritannien gesehen wie jetzt. Das Land ist total gespalten. Freundschaften sind am Brexit zerbrochen, sogar Familien sind durch den Brexit entzweit. So etwas hat es noch nicht gegeben. Das ist sehr bitter.

Was befürchten Sie, wenn der Brexit umgesetzt wird?
Wenn Großbritannien tatsächlich die EU verlässt, wird es innerhalb von 48 Stunden Rationierungen von Lebensmitteln geben.

Wie ist das möglich?
Wir produzieren in Großbritannien nur 60 Prozent der Nahrungsmittel, die wir konsumieren. Wir importieren den Rest. Fast alle Produkte werden über den Ärmelkanal importiert. Die Lkws fahren die Waren von Calais nach Dover. Sie kommen mit dem Zug oder per Schiff. Täglich kommen 48.000 Lkws nach Großbritannien. Wenn die nicht sofort abgefertigt werden, wird das schwierig. Dann wird es nicht einen Engpass von Lebensmitteln, sondern auch von Medikamenten geben, weil viele Pharmazeutika importiert werden.

Viele geben der Zuwanderung Schuld am Rechtsruck. Sehen Sie das auch so?
Der Erfolg der populistischen Parteien ist nicht unbedingt auf die Migration zurückzuführen, sondern auf die Finanzkrise, die 2008 begonnen hat und noch immer nicht vorbei ist. Die meisten Menschen können nur mitansehen, wie ihr Lebensstandard stagniert oder immer weiter absinkt, während andere immer wohlhabender werden. Deshalb sind viele sehr misstrauisch gegenüber der Wirtschaft und der Politik geworden. Die Kluft zwischen Armen und Superreichen wird immer weiter. Das ist für viele nicht mehr zu tolerieren. Die alten sozialistischen Versprechen, dass es die Kinder einmal besser haben werden als wir, dass jeder einen Job hat, Pension und Krankenversicherung bekommt, gelten nicht mehr. Zur gleichen Zeit aber werden einige immer wohlhabender.

Wiederholt sich denn die Geschichte?
Eine ähnliche Situation gab es zu Beginn der Industrialisierung. Deshalb sollte uns das alles auch nicht überraschen. Damals aber sorgten die Mitte-links-Parteien für eine Balance in der Gesellschaft. Aber diese Parteien sind mit dem Rückgang der Industrialisierung fast verschwunden. Laut Meinungsumfragen liegen in England die Konservativen nur vor der Labour Party, weil man dieser Partei nicht vertraut. In Frankreich liegen die Werte der Sozialisten unter zehn Prozent. Was einst eine der großen Kräfte war, die das Gleichgewicht in der Gesellschaft hergestellt hat, die gefordert hat, dass man jedem gleichen Chancen verschafft: Diese politische Kraft hat ausgedient.

Was kann man tun?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Renault beschäftigte 1968 in seinem Werk in Frankreich 40.000 Arbeiter. Heute kann dieselbe Menge an Autos von 1.800 Arbeitern erzeugt werden. Man ersetzt Arbeiter immer mehr durch Automaten und Roboter. Wir wissen, dass wir diese Entwicklung nicht mehr aufhalten können. Deshalb müssen wir die Wirtschaft neu definieren. Wir müssen einen Weg finden, die Menschen auszubilden, und unser Sozialsystem anpassen. Und wir müssen wieder für Fairness in der Gesellschaft sorgen. Geschieht das nicht, werden wir große Probleme haben.

© News/Matt Observe

Zur Person: Martin Walker wurde 1947 in Schottland geboren, studierte in Oxford Geschichte, arbeitete für die renommierte britische Tageszeitung "The Guardian". 1999 zog er mit seiner Frau Julia nach Frankreich. Dort schuf er Bruno, Chef de police, der im fiktiven Ort Saint-Denis in der südwestlichen Provinz Périgord ermittelt. Im Jahr 2007 übernahm er ein internationales Institut für Zukunftsforschung namens A.T. Kearney in Washington, das er heute noch berät. Zuletzt erschienen: "Revanche", Diogenes, € 24,70