Mireille Ngosso: Zurück zur Basis

Ein Jahr nach "Black Lives Matter" zieht SPÖ-Gemeinderätin Mireille Ngosso Bilanz. Was von #BLM geblieben ist und wie sich ihre Rolle innerhalb der SPÖ verändert hat.

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Bilanz - Mireille Ngosso: Zurück zur Basis

No Justice, no Peace", rufen die Menschen, die sich im Zuge der "Black Lives Matter"-Bewegung engagiert haben, auch heute noch. Knapp ein Jahr ist es her, dass der Tod des Afroamerikaners George Floyd weltweit für Demonstrationen gesorgt hat, die in den USA in eruptiven, bürgerkriegsähnlichen Ausnahmezuständen gipfelten. Ein Jahr schreibt auch die "Black Lives Matter"- Demonstration in Wien. Mehr als 50.000 Menschen marschierten gegen Ausgrenzung und Rassismus und setzten so ein klares Zeichen. Gerechnet hat man damals mit nur knapp 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.

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"Black Lives Matter"

Ärztin, Aktivistin und SPÖ-Gemeinderätin Mireille Ngosso war an vorderster Front mit dabei. Seit 2010 ist die Afroösterreicherin in der SPÖ aktiv. Zum Thema Rassismus wollte sie sich lange Zeit nicht breitenwirksam äußern. Vergangenes Jahr wurde ihr allerdings bewusst, welche Vorbildwirkung sie gerade für junge Afroösterreicher und -österreicherinnen einnimmt. "Es war ein Befreiungsschlag für mich, endlich die Möglichkeit zu haben, in einer direkten Art und Weise über Rassismus zu sprechen und aufzuzeigen, dass es auch in Österreich strukturellen Rassismus gibt und dass Menschen mit Migrationsbiografie es in Österreich deutlich schwieriger haben", so die Politikerin.

Lange Tradition des Racial Profiling

Dies ist nicht nur Ngossos subjektives Empfinden, sondern Tatsache. Erst kürzlich kam eine Studie der EU-Grundrechtsagentur FRA zu der Feststellung, dass Schwarze Menschen, Roma und Sinti von der Polizei hierzulande überdurchschnittlich oft angehalten werden. Racial Profiling hat in Österreich eine lange Tradition. Ebendies ist ein zentraler Punkt des "Black Voices"-Volksbegehrens, das im Zuge der "Black Lives Matter"-Bewegung ins Leben gerufen wurde. "Wenn wir keine politischen Strukturen schaffen, dann können Aktivistinnen und Aktivisten so laut sein, wie sie wollen. Es wird sich nichts ändern. Deshalb muss der Schutz von Schwarzen Menschen und POCs (Anm. "People Of Color") gesetzlich verankert werden", so Ngosso. Arbeitsmarkt, Bildung, Polizei, Repräsentation und Gesundheit sind besondere Schwerpunkte des Volksbegehrens. Eine zentrale Forderung war außerdem die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Betroffene von Polizeigewalt. Ein Projekt, das auch im Regierungsprogramm von ÖVP und Grünen verankert ist.

»Es muss endlich einen unabhängigen Ort geben, an dem Betroffene Beschwerde einbringen können«

Anlaufstelle lässt auf sich warten

Bis heute lässt diese Anlaufstelle aber auf sich warten. Beschwerden können bis dato nur über die jeweilige Landespolizeidirektion eingebracht werden. "Es muss endlich einen unabhängigen Ort geben, an dem Betroffene Beschwerde einbringen können", bekräftigt Ngosso. "Unser oberstes Ziel ist deshalb, dieses Volksbegehren ins Parlament zu bringen."

Befruchtender Aktivismus

Seit "Black Lives Matter" hat sich in Ngossos Leben vieles zum Positiven verändert. Seelische Spuren hat das Jahr 2020 aber dennoch hinterlassen. "Das letzte Jahr war definitiv befreiend, aber es war auch anstrengend. Dennoch habe ich unglaublich viele Verbündete gefunden, auch innerhalb der Partei." Diese Zustimmung habe sie in ihrem Selbstbewusstsein enorm gestärkt, so die Ärztin. "Ich merke, dass ich sowohl als Politikerin als auch als Schwarze Frau selbstsicherer geworden bin." Angriffe und Drohungen steckt sie dennoch nicht einfach so weg. Ihre Assistentin sortiert Mails und Briefe vor und bringt Drohungen umgehend zur Anzeige, damit Ngosso beleidigende Nachrichten gar nicht erst zu Gesicht bekommt. Eine Form von Selbstschutz, die notwendig ist, um auf Kurs zu bleiben. "Ich musste für mich eine Grenze finden. Ich bin schließlich auch Politikerin, und nicht nur Aktivistin. Ich möchte strukturelle Diskriminierung zwar benennen, aber eben auch mit einer gewissen Diplomatie vorgehen."

»Die SPÖ ist ein Abbild der Gesellschaft, und deshalb gibt es auch hier Stimmen, die für das Thema Rassismus nicht so viel Verständnis mitbringen «

Der Aktivismus schürt ihre Motivation, Politik aktiv mitzugestalten. Ngosso bringt somit das Potenzial, Graswurzelbewegungen in der SPÖ wieder sichtbar zu machen - und daraus politisches Kapital zu schlagen. Eine Chance für die Partei, die in den vergangenen Jahren immer stärker um Zustimmung in der Bevölkerung, vor allem unter den Jungen, ringen musste. Dass manche Parteimitglieder von dieser Linie erst überzeugt werden müssen, verunsichert Ngosso nicht: "Die SPÖ ist ein Abbild der Gesellschaft, und deshalb gibt es auch hier Stimmen, die für das Thema Rassismus nicht so viel Verständnis mitbringen und eine andere Sichtweise auf die Dinge haben. Davon lasse ich mich aber nicht irritieren. Es gibt genug Statistiken, die beweisen, dass struktureller Rassismus kein Mythos ist."

Die nächste Generation

Vor allem Menschen in der zweiten und dritten Generation mit Migrationsbiografie könnten für die aufstrebende Politikerin bedeutsam werden. Ngosso versteht die Ängste und Hoffnungen der jungen Menschen und benennt sie. Dafür nutzt sie soziale Medien intensiv, um ihre Agenda unters Volk zu bringen und sich mit ihnen auszutauschen. Dadurch könnte sie es außerdem schaffen, junge Menschen aus ihrer Politikverdrossenheit herauszuholen. "Ich wünsche mir diese Veränderungen vor allem für die nächsten Generationen. Es ist wichtig, dass wir Kinder schon von klein auf für das Themen Antirassismus sensibilisieren."

Starke Frauennetzwerke

Am 25. Juni findet die Wahl zum Bundesfrauenvorsitz in der SPÖ statt, wo Ngosso als eine von drei Kandidatinnen ins Rennen gehen wird. Ihre Kandidatur hat für Aufsehen in der Partei gesorgt, hatte die scheidende SPÖ-Frauenchefin Gabriele Heinisch-Hosek doch bereits die Welserin Eva Maria Holzleitner als Wunschnachfolgerin vorgestellt. Diese bekommt nun durch Ngosso und die niederösterreichische Landesfrauenvorsitzende Elvira Schmidt überraschend starke Konkurrenz. Konkurrierend sieht Ngosso ihre Rolle allerdings nicht: "Ich freue mich, dass ich die Möglichkeit bekommen habe, zu kandidieren und dass wir als Frauenorganisation eine solche Vorreiterrolle einnehmen können. Damit können wir zeigen, wie breit unsere Organisation mittlerweile aufgestellt ist und wie viele unterschiedliche, engagierte Frauen es hierzulande gibt. Wir können uns endlich auf Themen konzentrieren und damit zeigen, dass wir Demokratie tatsächlich leben."

Die Kontakte zu Frauen in den Bundesländern zu stärken, ist ihr erklärtes Ziel. "Unabhängig davon, wie die Wahl ausgeht, ist es wichtig, dass wir ein starkes Netzwerk schaffen. Ein Netzwerk, in dem wir gemeinsam zivilgesellschaftliche Veränderungen forcieren können. Ich wünsche mir, dass wir die größte Frauenbewegung Österreichs werden." Die Frauenbewegung erlebt europaweit viele Rückschläge, so Ngosso, und spielt damit auf das verschärfte Abtreibungsrecht in Polen an. "Und hierzulande haben wir eine Frauenministerin, die keine Frauenpolitik macht und sich kaum zu den 14 Femiziden in diesem Jahr äußert. In so einem Amt erwarte ich mir eine kämpferische Frau, die unsere Rechte verteidigt. Im Gegensatz dazu sehe ich aber, dass sich in der Zivilgesellschaft vermehrt Frauen organisieren. Unser Platz sollte deshalb genau dort sein, an ihrer Seite."

Gerade als Oppositionspartei könnte die SPÖ dadurch Boden unter den Füßen zurückgewinnen. "Wir müssen unsere Mobilisierungskraft von der Straße holen. Als Opposition bietet sich uns die perfekte Möglichkeit, jetzt unsere Themen zu platzieren und Frauen wieder abzuholen."

Von der Elite zur Basis

Auch privat setzt Ngosso auf starke Netzwerke. Sie ist nicht nur Ärztin, Politikerin und Aktivistin, sondern eben auch Mutter: "Ohne meine Familie könnte ich das alles nicht stemmen." Dadurch hat sie einen unverstellten Blick auf die Anforderungen, die man heutzutage an Frauen stellt -und in welchen Bereichen Frauen alleingelassen werden. "Wir müssen es schaffen, dass Care-Arbeit gerecht verteilt wird. Es kann nicht sein, dass Frauen nur deshalb entlastet werden, um dann noch mehr Arbeit und Verantwortung schultern zu können."

Eine weitere Baustelle, der Ngosso sich annehmen will. Dass der Kampf gegen systematische Ungleichheit ein harter wird, ist ihr bewusst. "Menschen mit Migrationsbiografie sind es gewohnt, zu kämpfen", sagt sie. "Ich bin mein ganzes Leben lang nach Niederlagen wieder aufgestanden." Politik, die von der Basis und nicht ausschließlich von Eliten ausgeht, wäre in diesen Zeiten zumindest erfrischend.