Meinl-Reisinger: "Regierung
soll sich jetzt zusammenreißen"

Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger vermisst eine langfristige und alltagstaugliche Strategie der Regierung gegen Corona und befürchtet den Lockdown in Innsbruck und Wien. Nach der Wien-Wahl wollen die Neos in eine Koalition mit der SPÖ.

von Politik - Meinl-Reisinger: "Regierung
soll sich jetzt zusammenreißen" © Bild: Ricardo Herrgott

Nach sechs Monaten Corona diskutiert man auf dem Niveau von gegenseitigen Vorwürfen. Können wir mit der Krise nicht mehr sachlich umgehen?
Die Sachlichkeit haben wir Ende März verlassen: Mit Aussagen wie: "Jeder wird jemanden kennen, der an Corona gestorben ist." Da haben Expertinnen und Experten schon gesagt, dass das so nicht stimmt. Ich freue mich, wenn die Wien-Wahl vorbei ist, in der Hoffnung, dass dann bei den Regierenden Vernunft einkehrt. Mir ist, ehrlich gesagt, wurscht, ob das Match Kurz gegen Anschober, Bund gegen Wien oder Länder untereinander lautet. Corona in den Wahlkampf hineinzuziehen, ist eine Katastrophe. Währenddessen stecken wir in einem Chaos, weil man den Sommer verschlafen hat. Es wird schon lange nicht mehr an einem Strang gezogen. Ich wünsche mir, dass das Krisenmanagement in die Hände von Experten gelegt wird, wie in Schweden.

Solange zahlenbasiert vorgegangen wurde, hat das Krisenmanagement besser funktioniert?
Das sicher. Wobei ich fairerweise sagen muss: Hammer ist immer leichter als Tanz. Den Hammer mit Strafen, Verboten und Regeln kann diese Regierung sehr gut. Beim Tanzen ist es eher ein Eiertanz. Der wird noch schlimmer, wenn nun bald bis hinunter zu den Bezirkshauptmännern 104 Verordnungsgeber in Österreich Regeln aufstellen können. Da soll eine stringente Strategie stattfinden? Der Vorteil Schwedens ist, dass dort ein Chefepidemiologe mit seinem Team die Politik berät, und die Politiker nehmen sich zurück und folgen seinen Ratschlägen. Auch wir brauchen eine längerfristige Strategie. Corona ist ein Marathon, kein Sprint. Wir werden einen Weg finden müssen, halbwegs alltagstauglich mit diesem Virus zu leben. Wir können nicht dauernd aufmachen, zumachen, aufmachen, zumachen. Das ist eine Hü-hott-Politik. Das führt dazu, dass die Leute nur noch schauen, was gerade verboten ist, und im Umkehrschluss alles andere erlaubt erscheint, obwohl es nicht gescheit ist, anstatt dass sie auf Augenhöhe angeleitet werden, wie sie verantwortungsbewusst agieren.

»Wer entschuldigt sich bei uns für falsche Maßnahmen?«

Gegen den schwedischen Weg sprechen rund 5.900 Corona-Tote.
Mir geht es dabei nicht um das "Was", sondern das "Wie" - mit einer Expertenkommission. Schweden hat sehr viele Fehler gemacht. Sie haben zu Beginn die Alters-und Pflegeheime nicht gut genug geschützt. Aber Anders Tegnell hat sich hingestellt und sich entschuldigt. Wer entschuldigt sich bei uns für falsche Maßnahmen?

Gesundheitsminister Anschober für fehlerhafte Verordnungen?
Okay, das stimmt. Und dann hat er die nächsten verunglückten Verordnungen auf den Weg gebracht. Wenn der gleiche Fehler mehrfach passiert, ist es System. Und: Auch wir haben unsere Altersheime nicht so gut geschützt, dass wir mit dem Finger auf Schweden zeigen können. Wir waren durch den Lockdown geschützt, den wir ja zu Beginn unterstützt haben. Man könnte im Nachhinein sagen, das eine oder andere war zu scharf. Aber mit der Klugheit des späteren Wissens die Meinung zu ändern, wie es die FPÖ tut, das ist mir zu billig. Doch was wir nun sehen, ist: Es fehlt eine langfristige Strategie. Schweden hat die konsequent seit April, teilweise mit strengeren Maßnahmen als wir.

Wer ist schuld, dass es die Strategie nicht gibt?
Primär wäre der Gesundheitsminister dafür zuständig. Aber da Sebastian Kurz sich als Oberkrisenguru inszeniert hat, ist er dafür verantwortlich.

Kurz hat sich beklagt: Er hätte schärfere Maßnahmen gesetzt, habe sich aber nicht durchgesetzt.
Er hat vor allem Sorge gehabt, dass es auf ihn zurückfällt, wenn die Zahlen steigen. Das ist halt auch nicht die feine englische Art, wenn sich jemand so abputzt.

© Ricardo Herrgott

Was würden Sie denn in den Krisenplan schreiben?
Also zunächst würde ich nicht schreiben, sondern Experten bitten, die Strategie auszuarbeiten. Im Frühjahr hatte so mancher das Ziel, das Virus komplett auszurotten. Das ist komplett illusorisch, das funktioniert nicht einmal in einem Inselstaat wie Neuseeland. Realistische Ziele müssen sein: dass unser Gesundheitssystem nicht kippt, Risikogruppen zu schützen und eine Balance, in der man nicht mehrere Bereiche gegeneinander ausspielt. Wie schaut es mit der Wirtschaft und den Arbeitsplätzen aus, aber auch mit dem Bildungssystem? Der Regierung war es überhaupt kein Anliegen, dem Bildungsbereich Priorität einzuräumen. Wir sehen jetzt schon die Kollateralschäden. Man kann in einer längerfristigen Strategie schon festhalten, dass zumindest Kindergärten und Volksschulen nicht mehr zusperren.

"Koste es, was es wolle" hat für diese nicht gegolten?
Nein, das ist eine spannende Erkenntnis, dass nicht alle Bereiche gleich bewertet werden. Ich hab ja auch Sätze gehört wie: "Schulen und Kindergärten haben keine volkswirtschaftliche Relevanz" was ich für absolut falsch halte. Hier wie auch bei der Frage, welche medizinischen Bereiche in der Krise ins Hintertreffen geraten sind, zeigt sich: Es war schon im April klar, dass diese monothematische Herangehensweise des Krisenmanagements immer nur auf Infektionszahlen zu schauen auf Dauer nicht richtig ist

»Es ist doch keine Strategie, zu sagen: Ich lasse es erst laufen und dann mache ich wieder alles zu. Das bringt am Ende alles um«

Konkret: Was würden Sie anders machen?
Ich glaube, dass es etwas Alltagstaugliches geben muss, mit dem wir über Monate leben können. Ich höre von Fantasien, dass man demnächst Innsbruck für zwei Wochen in den Lockdown schickt und im November Wien. Das ist ja haarsträubend. Es ist doch keine Strategie, zu sagen: Ich lasse es erst laufen und dann mache ich wieder alles zu. Das bringt am Ende alles um. Wenn man die Orte des Infektionsgeschehens kennt, kann man z. B. sagen, man schränkt Veranstaltungen und Partys ein. Und es braucht clevere Maßnahmen für die Wirtschaft. Die Idee eines Freeze oder Winterschlafes für Betriebe das kann man machen, aber dann muss man sie auch schlafen lassen. Man kann nicht sagen, sperrts auf, um ein paar Wochen später zusagen, wir cutten die Sperrstunde auf 22 Uhr. So bringt man Unternehmen sicher um.

Was passiert in der Gesellschaft, wenn man Gruppen gegeneinander ausgespielt?
In meiner Wahrnehmung ist die Gesellschaft nicht auf so einem Niveau, wie es die Politik ist. Ich hab noch niemanden getroffen, der nicht versteht, dass es in Ballungsräumen andere Herausforderungen gibt. Ich hab auch noch niemanden getroffen, der sagt, wegen der Jungen haben die Alten ein Risiko. Ich erlebe sehr viel mehr Vertrauen in der Gesellschaft, als es die Politik den Menschenentgegenbringt. Das ist für mich das Augenscheinlichste an allen Corona Maßnahmen: Die Regierung misstraut den Menschen ganz grundsätzlich, dass sie nicht in der Lage sind, eigenverantwortlich zu agieren, und daher strenge Regeln brauchen. Und den Unternehmern misstraut man, sie könnten sich eine Förderung holen, die ihnen nicht zustehen. Daher gibt es einen Batzen Bürokratie, anstatt dass man sagt: "Wir helfen einmal, und in fünf Jahren schauen wir, ob du nicht zu viel bekommen hast, und falls doch, werden wir mit scharfen Regeln zurückfordern." Das Ergebnis ist, dassdie Leute der Bundesregierung auch nicht mehr vertrauen.

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Es vertraut auch keiner mehr der Corona Ampel.
Das verstehe ich auch. Die ist, politisch motiviert, getötet worden. Dabei halte ich die für eine gute Idee. Es müssten nur dort Experten das Wort habenund nicht der politische Bazar. Die Regierung soll sich jetztwirklich zusammenreißen, denn die Leidtragenden sind die Menschen. Womöglich in einem noch schlimmeren Ausmaß, als viele jetzt glauben. Denn die Regierung hat sich ja ein Covid Gesetz geben lassen, mit dem sie einen noch schärferen Lockdown machen kann als im März. Darum waren wir im Parlament auch dagegen. Erst hat die Regierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht und Tests und die Logistikdahinter versemmelt. Und nun sagen sie, wenn es gar nichtmehr geht, sperren wir haltwieder zu.

Die Zustimmung zum Lockdown im Frühjahr war hoch. Wäre sie das wieder?
Da bin ich mir nicht so sicher. Denn die Leute wissen, dass man jetzt über diese Krankheit viel mehr weiß.

Würde es Verständnis dafür geben, mit einem Lockdown die Wintersaison zu retten?
Es ist klar, dass der Tourismus eine große Rolle spielt. Darum gibt es wohl Überlegungen zu einem Lockdown für Innsbruck. Das ist nicht, was ich mir unter einem alltagstauglichen Weg vorstelle. Letztlich geht es um Vertrauen. Touristen kommen, wenn sie auf ein gutes Management vertrauen, sie kommen nicht, wenn es chaotisch wirkt. Wir warenextrem scharf beim ersten Lockdown und dann zu schnell beim Aufsperren. Da stand der Gedanke des Sommertourismus im Vordergrund. Das war sehr kurzfristig gedacht. Denn nun im Winter trifft es uns doppelt hart.

Sie haben die Bürokratie bei den Wirtschaftshilfen kritisiert. Finanzminister Blümel kritisiert seinerseits die Paragrafenreiterei der EU-Kommission bei der Bewilligung von Staatshilfen.
Das passt hinten und vorne nicht zusammen. Aber er macht sowieso nur noch Wahlkampf und will möglichst viele Rechts-außen-Wähler der FPÖ ansprechen. Das sieht man vom künstlichen EU-Bashing bis hin zur Kontrolle von 76 Kebab-Standln in Wien. Er hat selbst Probleme, ein Budget richtig vorzulegen, und macht eine Aktion scharf gegen türkische Standln, weil die einen Murks in ihrer Buchhaltung haben. Das ist eine Wirtschaftspartei? Mittlerweile sind der ÖVP ein paar Sicherungen durchgeknallt und sie hat gar keinen Bezug zur Wirtschaft.

»Die Grünen sind zwar jetzt im Zentrum der Macht, machen aber wenig daraus«

In den Wahlkampf hinein spielt auch das Flüchtlingslager in Moria. Wird Hilfe nach der Wien-Wahl leichter sein?
Ganz ehrlich - wenn es ohne Wahlkampf leichter wäre, dann ist das überhaupt die größte Chuzpe. Die ÖVP soll sich einmal zusammenreißen und das Richtige tun und nicht nur auf ihre Umfragen schauen. Wir thematisieren Moria schon seit Langem. Schon vor Corona haben wir gesagt, da sind zu viele Menschen drinnen. Warum muss die Politik warten, bis es brennt, verdammt noch mal? Die Grünen werden dafür gebasht, und ich finde auch, sie sind zwar jetzt im Zentrum der Macht, machen aber wenig daraus. Aber mir geht es vor allem um die ÖVP. Ich kann nicht nachvollziehen, wie man sich als Abgeordneter als christlich definieren und in Sonntagsreden von Mitmenschlichkeit reden kann und dann beinhart der von Kurz vorgegebenen Linie folgt. Ja, Österreich hat viel geleistet. Trotzdem ist es eine Frage der europäischen Solidarität, Kinder zu holen. Das passiert ja auf europäischem Boden.

Die ÖVP argumentiert, dann müsste man ja auch armen Kindern im Rest der Welt helfen. Und das gehe nicht.
Ich war viel auf Reisen. Ich habe in Indien mehr Armut gesehen als irgendwo anders. Aber Moria ist europäischer Boden, da geht es um unsere Werte. Ich verstehe die Griechen sogar, die sagen: "Wenn wir die Lager räumen, machen wir uns erpressbar." Aber die Kinder kann man dort rausholen.

Soll die EU den Friedensnobelpreis zurückgeben?
Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall tragen viele Nationalstaaten dazu bei, dass dieses Friedensprojekt zur Farce gerät. Man ist in die Knie gegangen gegenüber den Visegrád-Staaten, Ungarn und Österreich.

Zum Wiener Wahlkampf: Neos-Chef Christoph Wiederkehr hat einmal gesagt: "Alles, nur kein SPÖ-Bürgermeister." Nun dienen sich die Neos der SPÖ als Koalitionspartner an.
Christoph hat in allem recht gehabt, was er kritisiert hat. Aber er hat auch schon früh gesagt, dass man Blümel nicht zum Bürgermeister machen kann, denn was hat die ÖVP für ein Programm? Da geht es nur noch um rechts außen. Wiederkehr war der Erste, der der Dreierkoalition eine Absage erteilt hat. Mit zunehmendem Wahlkampf habe ich auch den Eindruck, dass die Leute das immer weniger wollen. Denn so, wie sich die ÖVP und Blümel aufführen, spürt man, dass es nur um Wahltaktik geht. Was soll denn das heißen, mehr Türkis für Wien? Ich habe selten einen so inhaltsleeren Spruch gehört. Also: Das Spannende ist, dass SPÖ und Neos in Umfragen zusammen 49 Prozent haben. Und: Andienen ist sicher etwas anderes. Wir haben in den letzten Jahren gezeigt, dass wir sehr hart in der berechtigten Kritik an der SPÖ sind und unsere Werte nicht an der Garderobe abgeben würden.

© Ricardo Herrgott

Sie glauben, Sie könnten sich besser durchsetzen als die Grünen im Bund?
Sicher sogar. Ich hätte diesen Koalitionsvertrag niemals unterzeichnet.

Die Grünen sagen, es hätte sonst Türkis-Blau gegeben.
Das versteh ich, aber das höre ich von ihnen bei jeder Sache, die in die Hosen geht. Das ist zu wenig. Und gerade was Flüchtlingspolitik und Integration angeht, sehe ich leider keinen Unterschied zur FPÖ.

Manche in der SPÖ meinen, mit den Neos wäre es wie eine rote Alleinregierung, weil die Neos so klein sind.
Da hätte ich überhaupt keine Sorgen. Aber schauen wir mal, ob sich Ludwig traut, mit uns zu reden. Im Bereich Bildung gäbe es einiges zu tun, weil die SPÖ bei vielem jahrelang weggeschaut hat. Mehr Transparenz ist wichtig. Beim Klimaschutz passiert zwar Gutes mit den Grünen, aber auch viel Aktionismus statt längerfristiger, konsequenter Planung. Da wären wir mit Expertise dabei. Auch bei den Wirtschaftshilfen würden wir gerne drüberschauen. Ob es der Weisheit letzter Schluss ist, dass sich Wien an Juwelieren beteiligt, weiß ich nicht. Und wir brauchen Entbürokratisierung, weniger Schikanen für Unternehmen. Es gab den Fall eines Unternehmers, der hat sich wegen Schikanen an eine Zeitung gewendet, und prompt hatte er ein paar Tage später die nächste Prüfung. Das ist echt arg in Wien. Du lernst sehr schnell, dass du besser die Pappen hältst, weil sonst bekommst du von der SPÖ eine drüber. Das ist ein Wahnsinn in so einer weltoffenen Stadt.

Mit diesen Vorzeichen könnte es schwierig werden, mit der SPÖ zu koalieren.
Schauen wir. Wenn nichts weitergeht, braucht's uns nicht. Dann können wir auch Opposition sehr gut.

Haben Sie das Posting von Robert Menasse auf Blümels Facebook-Seite gelesen?
Ja, mit ein paar Dingen hat er sich vertan, denn nicht alles ist der SPÖ zu verdanken, wie er schreibt. Aber er hat recht, wenn er fragt: "Was heißt mehr türkis?" Worum geht es denen eigentlich außer Macht? Auch auf Bundesebene. Kurz ist angetreten mit dem Motto "Zeit für Neues", aber was hat er seither gemacht? Jetzt tut man so, als könnte man nach Corona zur Tagesordnung übergehen, als gäbe es die gleichen Jobs und die Wirtschaft würde gleich funktionieren. Das ist einfach falsch. Wir haben sowieso einen Strukturwandel durch Klimakrise, Digitalisierung, Globalisierung. Wir haben dadurch enorme Bildungsherausforderungen und tun so, als könnten wir einfach so weiterwurschteln. Da frag ich mich: Was ist mit der neuen ÖVP und ihrem Reformtrieb? Ich seh nix.

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Entzaubert die Krise Sebastian Kurz?
Das weiß ich nicht. Im Moment performt die Regierung nicht gut. Aber auf jeden Fall ist es zu wenig, wenn sich Kurz vor allem diese Frage stellt: "Wie stehe ich da?" Und das tut er. Das ist für einen Regierungschef zu wenig in so einer Krise.

Dieses Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (40/2020) erschienen