"Dieses Zimmer erinnert
mich an die SPÖ"

Max Lercher, Ex-SPÖ-Geschäftsführer und Nationalrat, kämpft nun für die rote Reproletarisierung - dank der bisherigen FPÖ-Klientel, eher ohne die Wiener Bobos.

von Politik - "Dieses Zimmer erinnert
mich an die SPÖ" © Bild: Heinz Stephan Tesarek

Herr Lercher, wir sitzen hier am gut 500 Jahre alten Bauernhof Ihrer Familie -genau in jenem Zimmer, dessen schrittweise Komplettsanierung Sie sich zur Lebensaufgabe gesetzt haben. Lässt dieser Raum Analogien zum derzeitigen Zustand Ihrer Partei zu?
Ja, durchaus. Natürlich könnte man diesen Raum da und dort schnell mit ein bissel Farbe überpinseln, gerade so, wie die Schwarzen das mit Türkis gemacht haben. Aber wenn man sich ehrlich ist, sieht man, dass das nicht reichen wird. Insofern erinnert mich das Zimmer schon an die SPÖ - denn die Sozialdemokratie muss dort, wo es nötig ist, grundlegend saniert werden.

»Ich weiß gar nicht, ob ich heute, zehn Jahre später, noch immer zur SPÖ gegangen wäre«

Was hat sich denn seit den Tagen, in denen Sie als Landesvorsitzender der Sozialistischen Jugend in die Partei hineinwuchsen, so gravierend verändert?
Ganz ehrlich, ich weiß gar nicht, ob ich heute, zehn Jahre später, noch immer zur SPÖ gegangen wäre. Irgendwann bin ich nämlich draufgekommen, dass mein reales Lebensumfeld dem entspricht, wovon andere in der SPÖ zwar reden, was sie aber leider nicht immer leben. Die SPÖ war für mich damals die Bewegung, die es für Menschen meiner Herkunft braucht. Mein Herkunftsmilieu ist die Arbeiterschaft, meine Mutter arbeitet bei der Post, mein Vater war Busfahrer. Ein Gusenbauer, ein Voves, die haben noch eine Gesellschaft propagiert, die auf sozialen Werten beruhte. "Sozialfighter statt Eurofighter", diese SPÖ-Kampagne habe ich heute noch immer Kopf.

Sorry, aber viele erinnern sich eher an Gusenbauers profunde Rotweinkenntnis.
Das ändert nichts daran, dass er für mich ein Hoffnungsträger war. Er ist ein intelligenter Mensch, der systematisch runtergeschrieben wurde: Da kommt der Gusenbauer, sagt zwar g'scheite Sachen und schaut aber leider nicht wie ein Herrenmodel aus und hat die Proletenhosen an. Ganz ehrlich, das erinnerte mich an bissel daran, wie es mir als Jugendlichem ergangen ist

Erzählen Sie doch.
Das fing schon beim Gewand an: Ich hatte im Gymnasium nicht die teuren Skaterschuhe von Adidas, sondern ein Modell mit dem Namen Fake -und der Name war Programm. Mir haben die Böcke ja gefallen, und sie waren okay, aber dann habe ich bemerkt, wie ich beobachtet werde und getuschelt wird. Das war das erste Mal, dass mir soziale Ungleichheit so richtig aufgefallen ist.

Und was erweckte das für Gefühle: Kränkung, Zorn?
Zuallererst Unsicherheit -da kommt man in eine Welt, in der einem auf einmal signalisiert wird: Was du bist, ist nicht gut genug. Das habe ich dann auch erlebt, als ich als Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Murau zur ersten Landesvorstandssitzung nach Graz gekommen bin. Ich habe nicht verstanden, was die dort reden. Damals hatte ich Karl Marx noch nicht so ganz begriffen, sondern war, wenn Sie so wollen, mehr der Max als ein Marx. Als ich ihn dann aber tatsächlich gelesen habe, habe ich begriffen, dass man das wirklich kapiert, wenn man es liest, weil Marx im Gegensatz zu anderen Autoren wirklich verstanden werden wollte. Ein Professor an der Uni hat dann einmal zu mir gesagt: "Wenn du Fremdwörter wirklich verstehst, kannst du so sprechen, dass du sie nicht benutzen musst, dafür aber verstanden wirst."

»Gusenbauer gegen Schüssel, das war noch ein echtes Match«

Aber zurück zu Gusenbauer. Was hat Sie als jungen Menschen an dem so fasziniert?
Heute ist ungeklärt, worauf sich die SPÖ fokussiert, damals gab es noch fundamentale Kritik am Wirtschaftssystem, die man an der Figur Gusenbauer ablesen konnte. Gusenbauer gegen Schüssel, das war noch ein echtes Match: Der Schwarze sagte "Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut". Der Rote sagte: "Zuerst muss es den Leuten gut gehen, dann geht's auch der Wirtschaft gut."

Den kleinen Leuten?
Den Erwerbstätigen, den Klein- und Mittelbetrieben, uns allen. Ich finde, was dann danach passierte, hat uns viel Glaubwürdigkeit in der Zielgruppe gekostet, für die wir eigentlich gegründet wurden: Warum soll der Arbeiter dich plötzlich wieder gern haben, wenn ich ihm 20 Jahre hindurch erkläre: "Nein, nein, die Marktlogik passt schon, du hast dich halt nicht genug bemüht." Da brauche ich mich dann nicht zu wundern, wenn er mir im 21. Jahr nicht mehr zuhört. Da wurde und wird eine wirtschaftspolitische Linie verfolgt, die dem Kapitalismus ein soziales Antlitz gegeben hat. Und unser Versprechen, den Markt so zu regeln, dass es für alle passt -das wurde nicht gehalten. Und da sind uns dann ganz, ganz viele Rote abgefallen.

© Heinz Stephan Tesarek

Würden Sie sich trotz Ihres Studiums als Proleten bezeichnen?
Natürlich. Es ist ein Vorurteil, dass Studierte keine Proleten sein können. Im Ernst: Ich sage mit Stolz, dass ich ein Prolet bin, weil ich finde, das entspricht einem Lebensgefühl, das die Sozialdemokratie schon lange nicht mehr zulässt. Du musst den Leuten, für die du eintrittst, auch eine kulturelle Heimat geben. Denn ohne tieferes Verständnis und nur mit Belehrungen gewinnt die SPÖ keine Stimme zurück.

Was ist denn jetzt eigentlich die Zielgruppe Ihrer Partei? Zynisch könnte man sagen: die klassischen FPÖ-Wähler.
Ja. Das sehen aber nicht alle so. Es gibt einige in der Partei, die glauben: Wenn man kurzfristig Wahlen über das Bürgertum gewinnt, reicht das. Aber wenn das auf lange Sicht die einzige Basis wird, so entspricht das nicht dem, wofür wir gegründet wurden. Wenn man ehrlich analysiert, wofür es die SPÖ gibt, dann kommt man zum Schluss: Wir müssen dafür sorgen, dass die freiheitlichen und auch Teile der türkisen Wähler zu uns zurückkehren. So, und daran scheiden sich in der Partei die Geister.

Sie sprachen einmal von den "reaktionären Linken" - was meinten Sie damit?
Ich gebe zu, das ist ein gemeiner Begriff, und ich will die urbane Intellektualität ja wirklich nicht vergrämen, die ist ein wichtiges Segment -aber sie darf nicht die inhaltliche Linie vorgeben. Wenn sie uns wählt, ist das sehr erfreulich, aber für die haben wir nicht unseren ureigensten Auftrag. Dennoch versuchen wir, gesellschaftspolitische Allianzen mit ihr zu formen, obwohl sie nie einen Systemwandel in diesem Land zulassen würde. Ihr geht es jetzt schon so gut, dass sie uns nie darin unterstützen würde, das System für die vielen kleinen Leistungsträger des Alltags zu verändern.

Es wird also die falsche Klientel bedient, jene, die vom Prestige her mehr bringt, aber quantitativ überschaubar ist?
Auch wenn irgendwelche Meinungsforscher Anderes verkünden -die SPÖ und das Großbürgertum, das funktioniert nur in urbanen Zentren. Doch wenn wir österreichweit wieder auf 30 oder, noch besser, 35 Prozent kommen wollen, brauchen wir Stimmen aus dem Nichtwählerbereich, von den Türkisen aber auch den Blau-Wählern. Nur so, und das hat bereits Kreisky erkannt, schaffen wir die historische Aufgabe, die Mehrheitsverhältnisse in unserem Land wieder zu verändern. Was hilft es mir, wenn ich mit den Neos und den Grünen wechselseitig um drei, vier Prozent kämpfe, aber der türkis-blaue Block gleich groß bleibt? Wenn wir von Kreisky was mitnehmen wollen, dann ist es das: Wir müssen als Sozialdemokratie einen Teil des FPÖ-Milieus an uns binden, das ist auch eine ganz wichtige antifaschistische Aufgabe, um nicht das ganz, ganz Dunkle wieder zum Vorschein kommen zu lassen. Denn die sogenannten Arbeiter, ich nenne sie heute die Erwerbstätigen, bildeten schon immer auch das Fundament und den Nährboden für das nationale Lager, das hat sich immer schon überschnitten.

Aber wie holen Sie nun jenen Teil der FPÖ-Wählerschaft ab, der durch ausländerfeindlichen Ressentiments punziert ist, ohne sich dabei selbst zu verraten?
Mit mehr Glaubwürdigkeit, was ihre Lebenswirklichkeit betrifft: Wenn ich mit Blau-Wählern diskutiere, ist das Ausländerthema viel schneller abgehakt, als viele meinen. Wenn ich ihnen dann sage, dass an heimischen Firmenstandorten, wo Millionengewinne gemacht werden, trotzdem Leute gekündigt werden, dann sagen sie: "Siehst du, genau dort brauchen wir euch, aber da hören wir nix!" Das ist doch ein Schrei nach Liebe, und um den zu hören, nicht nur den anfänglichen ausländerfeindlichen Rülpser, braucht man kein geschultes Gehör, sondern nur ein offenes Ohr. Einen überzeugten Nazi brauche und will ich natürlich nicht. Aber ganz ehrlich, viele Blaue wären bereit, wieder die Sozialdemokratie zu wählen, wenn wir ihnen nur einigermaßen glaubhaft vermitteln würden: Ja, wir haben Fehler gemacht, und wir haben erkannt, dass wir in einigen Bereichen bedingungslos für die Verbesserung eurer Lebensqualität kämpfen müssen.

Heißt, die Roten müssen jetzt endlich mit Pauken und Trompeten die große Umverteilungsdebatte samt Reichensteuer und Viertagewoche starten?
Klar, das ist ein Teil davon, da bin ich voll dafür. Der Sozialstaat, der den Leuten Schutz gibt, muss ja schon allein aus seiner inneren Logik heraus umverteilen.

»Wenn ich heute zehn Rote frage, wofür die SPÖ steht, bekomme ich elf Antworten«

Aber warum wird das nicht breiter thematisiert?
Die Kraft der politischen Kampagne besteht ja in der Gemeinsamkeit. Wenn ich heute zehn Rote frage, wofür die SPÖ steht, bekomme ich elf Antworten. Und das ist ein Problem. Wenn ich was erreichen will, muss ich vehementer auftreten. Was wir jetzt brauchen, ist der gesetzliche Mindestlohn von 1.700 Euro netto nach burgenländischem Modell. Das ist das Mindeste, was der Sozialstaat über Gesetze definieren muss. Und das ist etwas, wofür wir als SPÖ vereint kämpfen müssten. Dann hätten wir endlich eine Erzählung für viele jener Menschen, die uns schon lange nicht mehr zuhören.

Warum wird ausgerechnet in Zeiten, in denen Heerscharen um ihren Job zittern oder ihn verloren haben, eine Zuwanderungs- und Staatsbürgerschaftsdebatte gestartet, die für viele in erster Linie mit der Angst vor Lohndumping verbunden ist?
Ehrlich, das frage ich mich auch. Zu dem Inhalt kann man ja gerne stehen, wie man will - aber mir sagen alle, mit denen ich rede, dass dieses Thema strategisch sehr unglücklich gewählt wurde. Wenn man so ein Thema schon bringen will, dann braucht man zunächst bei all jenen, denen es Angst macht, wieder Glaubwürdigkeit. Wenn ich beim Hackler keine Glaubwürdigkeit besitze und den dritten Schritt vor dem ersten gehe, brauche ich mich nicht wundern, wenn ich von den Menschen eine drüberkriege.

Was war der Kardinalfehler im bisherigen SP- Themensetting?
Der Kardinalfehler war: Wir haben die Wirtschaft, so, wie sie heute funktioniert, nicht mehr hinterfragt. Wir haben die Marktlogik in keiner Art und Weise mehr in Frage gestellt - aber die hat überall hineingewirkt, und wir haben diesen Druck auf fast alle Schichten zugelassen.

© Heinz Stephan Tesarek

Warum ist Ihre Partei gerade in Zeiten wie diesen nicht viel, viel gewerkschaftsgetriebener?
Die Wahrheit ist doch die: Wenn ich mit Betriebsrätinnen und Betriebsräten spreche, dann sagen die mir, dass eine Entfremdung zur SPÖ-Politik stattgefunden hat. Was wir bräuchten, wäre Einigkeit und nicht eine Vielzahl widersprüchlicher politischer Erzählungen -und vor allem eine interne Streitkultur. Wir müssen die Klasse haben, uns intern im übertragenen Sinne die Köpfe einschlagen zu können, um eine Lösung zu finden und dann nach außen hin an einer gemeinsam vorgetragenen Gesellschaftskritik zu wachsen.

Teil eins funktioniert ja ohnedies schon ganz gut.
Ja eh, Teil eins funktioniert leider. Aber ohne Teil zwei ist Teil eins leider sinnlos.

Nun muss man ja kein Psychiater sein, um zu sehen, dass die öffentliche Performance Ihrer Partei derzeit ziemlich neurotische Züge trägt. Was braucht es denn für eine neue Gruppendynamik?
Das absolute Bekenntnis, dass es nicht um einzelne Protagonisten oder um einen selbst geht, sondern ausschließlich um das Leben der Bevölkerung, die uns bezahlt.

Sie waren knapp ein Jahr lang Bundesgeschäftsführer, dirigierten somit das unmittelbare Machtzentrum in der Löwelstraße. Woran sind Sie letztendlich gescheitert?
Ganz ehrlich, ich hätte das natürlich gerne noch länger gemacht, aber ich betrachte mich noch lange nicht als gescheitert, nur weil sich die Parteivorsitzende - was ihr absolut zusteht - in der Geschäftsführung für ihre damaligen Vertrauensleute entschied. Ich hätte jetzt wirklich nicht den Eindruck, dass ich wegen der Qualität meiner Arbeit abgesetzt wurde. Ich habe mit Statutenreform und Grundsatzprogramm etwas aufgebaut, das einen grundlegenden Wandel in dieser Partei herbeiführen sollte. Als ich abgelöst wurde, lagen wir in den Umfragen bei immerhin knapp unter 30 Prozent. Was ich allerdings schon unterschätzt habe, waren die Verharrungskräfte in der zweiten und dritten Reihe, denen es wichtig war, dass das System nur ja nicht verändert wird. "Ich will mehr Idealisten und weniger Opportunisten." - dieser Satz von mir hat viele aufgeschreckt.

Eine Zeit lang galten Sie ja sogar als eine Art linker Gegen-Kurz.
Bin ich das nimmer? Im Ernst: Wir verfangen uns immer in der internen Personaldebatte, wer denn von uns Kanzler werden soll. Ein Maurer weiß aber, dass der Dachstuhl erst dann aufgesetzt werden kann, wenn das Fundament passt. Die Grundfrage ist also: Sind wir bereit, am Fundament zu arbeiten?

Ja, und vor allem: ab wann?
Ab sofort!

Dieses interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (28+29/2021) erschienen.