Wir, die Normalen

Die Politik beruft sich neuerdings auf die "normalen Menschen". Jede Partei beansprucht das "Normale" für sich und zeichnet das Feindbild der "Anderen". Wie kommen die normalen Menschen eigentlich dazu?

von Renate Kromp © Bild: Ian Ehm/News

Tirol im heißen Spätsommer des Jahres 2022. Anton Mattle, erst vor Kurzem von der ÖVP als Spitzenkandidat für die Landtagswahl auf den Schild gehoben, kämpft mit seinem Bekanntheitsgrad. Er berichtet aus dem Wahlkampf aus seiner Sicht Erfreuliches: "Dann hat die Dame gesagt: 'Das g’fallt mir, Sie essen Eis wie ein Normaler.'" Am Ende brachte Anton Mattle sein Normalsein 34,7 Prozent der Stimmen. Er jubelte, denn das war weniger schlimm als erwartet. Normalerweise freut man sich über ein Minus von 9,55 Prozentpunkten nicht.

Voriges Jahr haben viele über Mattles Anekdote geschmunzelt. Mittlerweile aber sind "die Normalen" im tagespolitischen Getöse Dauergäste. Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner verschickt gerne Leserbriefe oder Gastkommentare, in denen sie darlegt, wer die "Normaldenkenden" ihrer Ansicht nach sind – kurz gesagt: Klimaaktivisten und Gender-Fans zählen nicht dazu – und warum ausgerechnet die ÖVP für diese Normalen die erste Adresse sei. In der SPÖ erklärte zuletzt Sven Hergovich, Mikl-Leitners Doch-nicht-Koalitionspartner und neuer Chef der Landesroten: Er werde immer dafür kämpfen, "dass es der normalen Bevölkerung, den arbeitenden Menschen, denen, die es sich nicht richten können, besser geht". SPÖ-Chef Andreas Babler saß im Publikum und lächelte wohlwollend. Auf Facebook lässt auch er gelegentlich durchblicken, was in diesem Land "nicht normal" ist.

»Man kann davon ausgehen, dass die meisten ihren Standpunkt 'normal' finden«

Und natürlich Herbert Kickl, der die Lufthoheit über den Normalen für sich beansprucht. "Wir sind nicht rechtsextrem, sondern normal", ist auf seiner Facebook-Seite das Video einer Bierzeltrede übertitelt. In seinen Forderungen beruft auch er sich auf "die normalen Menschen", die es so und nicht anders wollten. Und in einem "Profil"-Interview fragte er kokett: "Ich bin neugierig, wie lange es noch dauert, bis einem das Wort 'normal' verboten wird."

Da kann er lange warten, denn das Normale ist ein weites Feld. Politisch reicht es, wie man sieht, von links bis rechts. Man kann davon ausgehen, dass die meisten Menschen ihren Standpunkt "normal" finden und die gegenteilige Meinung manchmal nicht ganz so normal. Während der Pandemie empfanden Impfgegner ihre Meinung als die normale, Impfbefürworter wiederum die ihre. Ebenso wird es bei Klimaaktivisten und Vielfliegern, bei Rapid- und bei Austria-Fans, bei Fleischessern und bei Vegetariern, bei Beatles- und bei Stones-Fans sein. Die Liste lässt sich fortsetzen – auch mit ernsthafteren Beispielen.

Kurz gegoogelt: Der Begriff "normal" sei seit Anfang des 18. Jahrhunderts nachgewiesen, komme vom lateinischen "normalis". Das bedeutet "nach dem Winkelmaß, nach der Regel gemacht". Nur: Wer macht die Regel? Das Wörterbuch sagt, normal sei, "wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt". Doch ist die allgemeine Meinung auch veränderbar, und wir bewundern oft das, was entsteht, wenn jemand nicht nach der Norm denkt: das Kreative in der Musik, in Büchern, in Filmen oder in Erfindungen.

Was "normale" Menschen, ganz egal, wo sie (politisch) stehen, aber wahrscheinlich nicht ganz normal finden: von Politikerinnen und Politikern für deren Propagandazwecke benützt zu werden.

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