Mit Ablaufdatum

ÖVP und Grüne bewegen sich auf eine Neuwahl zu. Von der Papierform her dürften sie kein Interesse daran haben, sie haben jedoch keine Perspektive mehr. Das verstärkt verhängnisvolle Entwicklungen.

von Mit Ablaufdatum © Bild: Privat

Es ist noch einmal gut gegangen für die Koalition: August Wöginger, Klubobmann der neuen Volkspartei, teilte mit, dass er den Immunitätsausschuss des Nationalrats um seine Auslieferung ersuchen werde. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) möchte Ermittlungen gegen den Oberösterreicher aufnehmen. Es geht um den Verdacht auf Anstiftung zum Amtsmissbrauch. Wöginger soll über Beziehungen geholfen haben, dass ein Parteifreund Vorstand des Finanzamtes Braunau werden konnte. Er selbst betont: "Ich möchte, dass es hier rasch zur Aufklärung kommt, und es wird sich schnell herausstellen, dass an den Vorwürfen nichts dran ist."

Bis zuletzt war diese Bereitschaft fraglich gewesen. So wurde argumentiert, der Fraktionschef habe bei der Stellenbesetzung einfach nur das Anliegen eines kandidierenden Bürgers in einer Art und Weise weitergeleitet, wie das jeder engagierte Volksvertreter tue. Rechtsexperte Werner Zögernitz, einst Klubdirektor der Volkspartei, empfahl, ihn nicht an die WKStA auszuliefern.

An Wahl vorbeigeschrammt

Für die Grünen wäre das eine Zumutung gewesen. Sie standen unter Druck, Ermittlungen notfalls auch gegen türkisen Widerstand zu ermöglichen. Das wäre jedoch mit einem Koalitionsbruch gleichgesetzt worden - wegen einer vermeintlichen Lappalie hätte man sich folglich auf eine Neuwahl noch im Frühjahr einstellen müssen.

Die Geschichte zeigt, wie dünn das Eis geworden ist, auf dem die Zusammenarbeit der Regierungsparteien beruht. Es kann jederzeit Schluss sein. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) mögen gute Gründe haben, bis 2024 durchzuhalten, es tun sich jedoch Risse auf.

Katastrophale Aussichten

Von der Papierform her würde allerhand gegen eine Neuwahl sprechen, es wäre sogar verrückt, sich darauf einzulassen: für die ÖVP, weil sie sich in einem "dramatischen Zustand" befindet, wie der Politikwissenschaftler Fritz Plasser in einem Interview mit der "Tiroler Tageszeitung" analysierte. Sie hatte sich allein auf Sebastian Kurz ausgerichtet, er schaffte es, Hunderttausende Menschen zu begeistern. Jetzt, nach seinem Abgang, sind die Hoffnungen enttäuscht, die Partei orientierungslos. Bei einer Wahl am kommenden Sonntag würde sie gut ein Drittel ihrer Stimmen des Jahres 2019 verlieren und möglicherweise sogar hinter die SPÖ zurückfallen. Schlimmer: Es ist nicht einmal sicher, ob sich eine "Große Koalition" ausgehen würde. Nicht nur das Kanzleramt könnte abhandenkommen, sondern auch die ganze Macht auf Bundesebene.

Die Grünen würden sehr wahrscheinlich zweistellig bleiben, eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der ÖVP würde sich aber nicht mehr ausgehen. Im Moment erreichen die beiden Parteien gerade einmal 36 Prozent. Alternative? Alles ist offen. Nicht einmal ein rot-grün-pinkes Bündnis hat derzeit eine Mehrheit. Das bedeutet, dass Grüne damit rechnen müssten, bei einer Regierungsbildung allenfalls nur eine Nebenrolle zu spielen. Kein Vergleich zum "Besten aus beiden Welten", das sie mit der Kurz-ÖVP vor zwei Jahren praktizierten und bei dem sie wenigstens ein paar Klimaschutzprogramme durchbrachten.

Trotzdem gibt es Dynamiken, die es auf eine vorgezogene Wahl hinauslaufen lassen: In der Regierung ist es seit dem Abschied von Sebastian Kurz zu keinem Neustart gekommen. Die Frage, wie die Stimmung sei, beantwortetet ein Mitglied mit "gute Frage". Man sehe einander selten, die meisten Sitzungen hätten zuletzt virtuell stattgefunden. Zu Nehammer hat Kogler zwar einen guten Draht, der auch für längere Zeit eingeschränkte Gesprächsmöglichkeiten überdauern könnte, das ist jedoch zu wenig.

»Es wäre naiv zu glauben, dass sich schwarz-türkise Landeshauptleute dem Schicksal ergeben«

Wer hat in der ÖVP das Sagen? Man wisse nicht, wer in der ÖVP das Sagen hat, beklagt einer aus seinem Umfeld. Die gängigste Antwort lautet: die Landeshauptleute. Doch da fehlt noch jemand: Nicht im Sinne Nehammers, aber im Interesse von Kurz war die Veröffentlichung des bisher geheim gehaltenen "Sideletters" zum Regierungsprogramm, in dem unter anderem ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen enthalten war. Grüne wittern hier Rache dafür, dass sie die Ablöse des Ex-Ex-Kanzlers im Herbst durchgesetzt haben. Im konkreten Fall war sie schmerzlich für sie: Kogler erntete massive Kritik aus den eigenen Reihen, sich auf eine solche Nebenabsprache eingelassen zu haben.

Durch den ÖVP-U-Ausschuss sind weitere Konflikte zu erwarten. Hier geht es um eine Abrechnung mit dem System Kurz. Fühlt sich auf der einen Seite dessen Verteidigungsliga herausgefordert, sind mit David Stögmüller und Nina Tomaselli auf der anderen Seite zwei Abgeordnete für die Grünen dabei, die sehr lästig sein können.

Das sind keine guten Voraussetzungen für eine gedeihliche Zusammenarbeit bis zu einem regulären Wahltermin im Herbst

2024. Zumal bis dahin unzählige Stresstests anstehen. In Niederösterreich, Tirol, Kärnten und Salzburg finden Landtagswahlen statt. Zuletzt profitierte die Volkspartei hier durchwegs von einem Kurz- Hype, der sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt hat. Außerdem ist infolge der Pandemie eine bedrohliche Konkurrentin namens MFG entstanden. Alles zusammen ergibt die Aussicht auf erhebliche ÖVP-Verluste.

Es geht um Posten und Mandate

Es wäre naiv, zu glauben, dass sich schwarz-türkise Landeshauptleute und Funktionäre einem solchen Schicksal ergeben. Es liegt vielmehr in der Natur der Sache, dass sie sich um Schadensbegrenzung bemühen: In Niederösterreich geht es um eine absolute Mandatsmehrheit, überall müssen Abgeordnete befürchten, ihre Mandate zu verlieren.

Von daher ist es eine naheliegende Überlegung, auf Bundesebene ein baldiges Ende mit Schrecken herbeizuführen. Sprich: eine vorgezogene Nationalratswahl, die mit einem Absturz einhergehen würde, aber auch einen Schlussstrich unter die Ära Kurz ermöglichen würde. Das hätte den Vorteil, dass die nachfolgenden Landtagswahlen dann wohl weniger durch Negativschlagzeilen zur Bundespartei beeinträchtigt wären.

Nur: Wie stellt man ich das vor? Keine Landeshauptleute, geschweige denn Nehammer, können solche Überlegungen offen aussprechen, um die türkis-grüne Zusammenarbeit aufzukündigen. Motto: "Es reicht!" Oder: "Genug ist genug!" Das würde nicht gut ankommen bei den Leuten . Außerdem wäre es überflüssig. In Koalitionsreihen, in denen die Nerven ohnehin schon strapaziert sind, braucht es wenig, damit es kracht und die Scheidung da ist.

Zumal die große Perspektive fehlt: Türkis-Grün hat ein Ablaufdatum, große Vorhaben liegen nicht mehr auf dem Tisch. Zustande kommen allenfalls Minimalkompromisse, etwa zu Transparenz, daneben aber auch Pleiten und Pannen von der gescheiterten Impflotterie bis zum Murks um die Abwicklung des Teuerungsausgleichs für die hohen Energiekosten.

Grünes Leid mit Mückstein

Für die Grünen bitter ist zudem, wie "ihr" Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein dasteht. Sie übersehen zwar, wie viel dieser zu seinem eigenen Versagen beiträgt, das ist jedoch nebensächlich. Es geht darum: Zwei Regierungsmitglieder haben bisher Fehler in der Pandemie eingestanden und sind zurückgetreten - Rudolf Anschober (Ex-Gesundheitsminister) und Ulrike Lunacek (Ex-Kulturstaatssekretärin); beide Grüne. Während Türkise wie Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck trotz "Kaufhaus Österreich"-Blamage nach wie vor im Amt sind, gilt Mückstein als nächster Kandidat - ein weiterer Grüner. De facto ist er bereits zu einer Art Staatssekretär degradiert worden: Die Corona-Krisenorganisation Gecko ist im Kanzleramt angesiedelt, die Experten, die über die Umsetzung der Impfpflicht entscheiden werden, sind vom Kanzleramt bestellt worden. Das zeigt, wer zumindest in der Bundesregierung die Gesundheitspolitik kontrolliert: Karl Nehammer. Das geht auch auf Kosten der Grünen.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik
www.diesubstanz.at