Rudi Anschober: "Nicht
drüberfahren, sondern reden"

Als Sozial-und Gesundheitsminister muss Rudi Anschober ein wesentliches Zukunftsthema stemmen: den Pflegenotstand in Österreich. Sein Amt versteht er auch als "Ministerium des Zusammenhalts

von Interview - Rudi Anschober: "Nicht
drüberfahren, sondern reden" © Bild: Ricardo Herrgott News

Mit der Gelassenheit eines Polit-Routiniers hat Rudi Anschober seine erste Ministerratssitzung als Gesundheitsund Sozialminister absolviert. "Ich war ja mehr als 16 Jahre in Oberösterreich in der Landesregierung. Das ist wahrscheinlich Weltrekord für einen Grünen", scherzt er. In seinem Heimatbundesland war Anschober Umwelt-und Integrationslandesrat und schaffte es mit seiner "Ausbilden statt Abschieben"-Initiative für Flüchtlinge in einem Lehrberuf zu landes- und parteiübergreifender Aufmerksamkeit. Nun verantwortet er in der neuen Bundesregierung jenes Thema, dass neben der Klimakrise wohl die größte Dringlichkeit besitzt: den Pflegenotstand.

Dass in einer alternden Gesellschaft die Pflege, ihre Organisation und vor allem ihre Finanzierung, zu einem Problem werden, hätte eigentlich schon frühere Regierung in Alarmstimmung versetzen müssen, schließlich ist die demografische Entwicklung langfristig prognostizierbar. "Ganz einfach lösbar ist die Angelegenheit auch mit solchen Vorhersagen nicht", meint Anschober, "aber je später man beginnt, desto schwieriger wird es." Also Tempo, aber nicht zu viel, denn der Minister betont im Gespräch mehrmals, wie er zu arbeiten gedenkt: zusammensetzen, Experten und Querdenker einbinden, die Expertise der Beamten beachten, die Länder ins Boot holen. "Ich bin kein Schnellschuss-Mensch, lege lieber seriös etwas in drei Monaten auf den Tisch, anstatt eine Leuchtrakete zu verschießen, die sich dann als Sternschnuppe herausstellt. Wir legen diese Regierung auf fünf Jahre an, da muss man nichts übers Knie brechen."

Thema: Pflege

Ein Thema, das alle irgendwann betreffe, sei die Pflege naher Angehöriger oder die eigene Pflegebedürftigkeit. "Das ist ein Thema, bei dem wir uns oft überfordert fühlen, und auch das muss man zulassen", sagt Anschober. Der Wandel der Gesellschaft bringt mit sich, dass weniger Kinder mehr Ältere umsorgen sollten. Diese Kinder sind aber möglicherweise ganz woanders zuhause, Frauen arbeiten, es kann nicht mehr als selbstverständlich angenommen werden, dass sie die Pflege übernehmen. Dem gegenüber steht der Wunsch vieler Menschen, zuhause bleiben zu können. Und das wiederum befürworten Politiker, weil ein solches Modell billiger ist als das Pflegeheim. "Wir brauchen eine Mischung aus Handlungsoptionen", sagt Anschober angesichts der sich ändernden Gesellschaft. "Die Zahl jener, die zuhause pflegen können, wird geringer, also müssen wir stark in Richtung alternative Lebensformen für ältere Menschen kommen. Wohnformen, wo junge Menschen und jene, die schon mehr Pflege brauchen, zusammenleben können. Dazu müssen wir die Städte und die Wohnbaugenossenschaften an den Tisch holen."

»Ich habe erlebt, wie das ist, wenn ein Mensch in deinen Händen stirbt. Das prägt dich für dein ganzes Leben.«

Ansetzen will Anschober zudem bei Ausbildung, Bezahlung, Ansehen und Wertschätzung des Pflegepersonals. "Ich halte Pflege für einen Megajob, für einen der wichtigsten Berufe, die es in dieser Republik gibt. Ich habe selbst mit 19 Jahren Zivildienst in einem Seniorenheim geleistet. Ich habe allein bei 80 Menschen Nachtdienst gemacht und dabei erlebt, wie das ist, wenn ein Mensch in deinen Händen stirbt. Das prägt dich für dein ganzes Leben. Das ist eine herausfordernde Tätigkeit, die Supervision braucht und öffentliches Ansehen."

Schwerpunkt: Vorsorge

Als Gesundheitsminister will Anschober seinen Schwerpunkt im Bereich der Vorsorge setzen. Der Erste ist er mit solchen Plänen natürlich nicht, in den Archiven seines Ministeriums finden sich wohl etliche Vorsorge-Kampagnen -und die Österreicher leben weiterhin so (un-)gesund, wie sie es eben tun. Nun plant Rudi Anschober eine Kooperation mit der Wirtschaft, "ich weiß, dass viele Betriebe dafür offen sind, weil sie Interesse an gesunden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben." Zudem setzt der Minister, selbst begeisterter Koch, auf einen Ernährungsschwerpunkt. "Da müssen wir ganz vorne bei den Schulen beginnen. Ich stelle mir vor, dass wir mit Bildungsminister Heinz Faßmann, den ich schätze, die gesunde Küche in den Schulen zum Thema machen. Im Alter zwischen sechs und 14 Jahren prägt sich der Geschmack. Wahrscheinlich haben wir da in den letzten Jahren eine Generation verloren, nun ist ein Gegentrend zum Kochen zuhause da, den müssen wir aufnehmen."

Beim Thema Ärztemangel - also eigentlich dem Run der Mediziner in Privatpraxen und der Frage der zu niedrigen Kassentarife - gesteht Anschober freimütig ein, sich noch in die Details vertiefen zu müssen. Auch hier will er Experten an den Tisch holen -und zur Sozialpartnerschaft zurückkehren. "Das ist gut und richtig, wenn die Sozialpartner einbezogen werden. Das wird anders als in den 17 Monaten der türkis-blauen Regierung. Ich bin heftig entschlossen, eine neue Form von Partnerschaft zu leben, das kann eine neue Qualität sein."

Und auch das Faktum, dass der Gesundheitsminister in Österreich eigentlich nicht viel anschaffen kann, weil die entsprechenden Kompetenzen Ländersache sind, will Anschober im Gespräch bewältigen. "Reden und schauen, wie wir Strukturen verbessern können. Meine große Chance ist, dass ich die andere Seite, die der Länder, extrem gut kenne und Vertrauen genieße, das merke ich."

Kinderarmut halbieren

Auf die Kooperation mit den Ländern wird es auch ankommen, wenn es um Anschobers drittes großes Vorhaben als Sozialminister geht: die Bekämpfung der Kinderarmut in Österreich. "Bis zum Ende der Legislaturperiode wollen wir die Zahl der von Armut betroffenen Kinder halbiert haben. In einem Land wie Österreich ist es eine Schande, dass es noch so viele Kinder gibt, die nichts angestellt haben, sondern nur in eine Situation hineingeboren sind, wo sie einfach Zweite sind und unter Bedingungen leben, die ihren Weg total erschweren."

Ab dem Frühsommer wird Anschober mit den Ländern über einen neuen Finanzausgleich verhandeln, dabei will er auch die Themen Pflege und Armut einer Lösung näher bringen.

Ausgerechnet der Grüne soll also mit den überwiegend schwarzen Landeshauptleuten die Aufteilung von Steuermitteln verhandeln. Daran sind schon frühere (Finanz-)Minister auf hohem Niveau gescheitert. Auch hier will Anschober sein Gegenüber wieder einmal mit Gesprächen ins Ziel locken. "Früher ist es in diesen Gesprächen wenig um Strukturveränderungen gegangen, sondern eher nur um ein Einfrieren des Status quo. Für mich ist das jetzt auch ein Seitenwechsel, und es geht dabei darum, ein Grundbewusstsein zu schaffen, dass es nicht so sehr entscheidend ist, aus welcher Kasse etwas gezahlt wird, sondern dass man sich auf Schwerpunkte einigt, die größten Herausforderungen für diese Republik sind. Dann finden sich auch finanzielle Lösungsoptionen. Das sind ja alles vernunftbegabte Wesen. Mein Arbeitsstil war immer: nicht drüberfahren, sondern reden." In diesem Fall eben über Armutsbekämpfung und Pflege.

Ministerium für Zusammenhalt

"Dialogfähigkeit" wolle er signalisieren. "Das große Ziel dieses Hauses wird sein, dass wir das Ministerium für gesellschaftlichen Zusammenhalt werden, wo es gleichgültig ist, wie alt du bist, wie du aussiehst, wo du geboren bist. Wo klar ist, wir sind alle ein Teil des Ganzen. Und, wo klar ist, dass wir dann besser fahren, wenn es auch dem anderen besser geht, und nicht, wenn es dem anderen schlechter geht. Das war die Tonalität der Vergangenheit. Wir wollen das Gegenteil signalisieren."

Töne der Vergangenheit

Freilich, es gibt sie noch, die Anklänge an die türkis-blaue Vergangenheit. "Ganz offen: Mit den Kapitel Migration und Asyl im Regierungsprogramm bin ich nicht zufrieden", sagt Anschober, der diese Kapitel mitverhandelt hat. Während es im Bereich der Integration durch Bildungsoffensiven und einen Schwerpunkt "Frauen auf der Flucht" eindeutig Verbesserungen gebe, hat Anschober bei Asyl und Migration ein Problem mit "Dingen, die nicht im Regierungsprogramm stehen und die ich wichtig gefunden hätte." Etwa einen Abschiebestopp für Schüler und Studierende. "Was werde ich also tun? Ich war zwei Jahre lang hartnäckig bei den Lehrlingen, jetzt werde ich genauso hartnäckig sein und dranbleiben, in der Hoffnung, dass es schneller geht."

Bleiben am Ende noch zwei persönliche Frage zum Tierschutz, den Anschober ebenfalls in seinem Ressort hat. Agur, sein Golden Retriever, spulte mit dem Herrl für die Regierungsverhandlungen 10.000 Kilometer Bahnfahrt zwischen Wien und Linz ab. "Er ist ein begeisterter Zugfahrer." Und, da schlägt der Ex-Umweltlandesrat durch, "die Verbindung Wien-Linz ist ein Musterbeispiel, wie öffentlicher Verkehr österreichweit funktionieren soll."

Die Katzen bleiben im Haus nahe Linz. Und sie sind mit ein Grund, warum Anschober auch als Minister pendeln wird und "zumindest am Wochenende von zuhause aus arbeiten will. Ich brauche mein Umfeld, ich will mich auch nicht entwurzeln wegen einer wichtigen neuen Arbeit." Ein Burn-out vor sieben Jahren, das ihn zu einer Auszeit von seinem Regierungsjob zwang, habe ihn gelehrt, "auf die eigene Balance zu schauen. Dazu gehört ein freier Tag in der Woche. Meine Quigong-Übung in der Früh, die ich auch in Stresszeiten nicht auslasse, und meine drei Lauftage. Da bin ich eine Stunde in der Natur unterwegs, schwitze alles raus, was sich an Frust angesammelt hat. Es ist ja auch ein Kreativitätsschub, wenn du Sauerstoff tankst. Ich komme da oft mit vier, fünf neuen Projekten zurück."

Der Preis, den er in der Spitzenpolitik mit seiner Gesundheit einmal bezahlt hat, hat ihn nicht zögern lassen, das Amt des Gesundheitsministers anzunehmen. "Im Gegenteil, ich verstehe diesen Erfahrungsprozess, den ich hinter mir habe, auch als Kompetenz."

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 1+2/20

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