Homeschooling: "Wir
haben große Defizite"

Für Ilsa Aichhorn war es ein Sprung ins kalte Wasser. Die studierte Theaterwissenschaftlerin und Teilnehmerin am Fellowprogramm der Initiative Teach for Austria, die Absolventen aller möglichen Studienrichtungen als Lehrkräfte an Schulen bringt, begann im Herbst an einer NMS in Wien-Favoriten als Deutsch-, BE-und Informatiklehrerin. Wenige Monate später kam Corona. Und damit die Herausforderung, unter äußerst ungewöhnlichen Bedingungen unterrichten zu müssen.

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Bildung - Homeschooling: "Wir
haben große Defizite" © Bild: iStockPhoto.com

Die Krise traf Aichhorn nicht ganz unvorbereitet: Bereits zu Beginn des Semesters hatte sie ein digitales Tool zur Elternkommunikation eingerichtet. Das Homeschooling läuft bei ihr komplett übers Handy, "weil die meisten keinen Computer zu Hause haben. Viele Schülerinnen und Schüler schaffen es immer noch nicht auf die E-Learning-Plattform, mit denen kommuniziere ich via E-Mail. Mittlerweile verzichte ich auf Arbeitsblätter und versuche, die Aufgaben so zu gestalten, dass sie mit den Handys gut arbeiten können."

Auch wenn sie die Situation mittlerweile gut im Griffe habe, ideal sei die Situation nicht, sagt Aichhorn: "Jedem Kind ab zehn sollte ein Computer zur Verfügung gestellt werden. Mit Internetanschluss. Einige Kinder, die ein Wertkartenhandy und kein Internet zu Hause haben, können nicht täglich an unserem Video-Call teilnehmen, weil sie zu wenig Datenvolumen haben."

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Am 18. Mai wird der Unterricht in vielen österreichischen Schulen wieder aufgenommen. Normal ist damit aber noch lange nichts. Die Unterrichtszeiten sind in den paar Wochen bis zum Sommerferienbeginn eingeschränkt, die strengen Hygieneauflagen machen ein unbeschwertes Miteinander unmöglich. Und über allem schwebt das Damoklesschwert "zweite Welle". Wenn die Infektionszahlen wieder steigen - vielleicht im Herbst, wie führende Virologen warnen -, könnten die Schulen ganz schnell wieder zusperren.

Und dann? Wie nützen die Schulen die kommenden Monate, um sich auf einen möglichen neuerlichen Schul-Shutdown vorzubereiten?

Beschleunigung

Christian Wenzl ist Education Lead bei Microsoft, jener Firma, deren Software-Produkte in Kooperation mit dem Bildungsministerium allen österreichischen Schulstandorten kostenlos zur Verfügung gestellt wurden. Die letzten Wochen hätten eine "unfassbare Beschleunigung" gebracht, meint er: "Gefühlt sind wir mit dem Schleudersitz in die digitale Gegenwart katapultiert worden." Neben der Verbreitung ihrer Produkte beschäftigte Microsoft Österreich dabei vor allem auch Nachhilfe bei deren Anwendung. Im Rahmen von täglichen Sprechstunden wird Lehrerinnen und Lehrern erklärt, wie sie ihren Unterricht mit Office365 bzw. Microsoft Teams gestalten können. Dieser Aspekt werde auch in den kommenden Monaten relevant bleiben, meint Wenzl. "Die Pädagogischen Hochschulen sollten noch mehr Fortbildung in diesem Bereich anbieten. Die Nachfrage bei unseren Sprechstunden war enorm."

Zwei weitere Aspekte seien für die Zukunft wichtig: "Wesentlich ist es jetzt, auch jene zu erreichen, die bis jetzt noch nicht erreicht worden sind. Die große Herausforderung besteht darin, die Infrastrukturlücke zu schließen. Alle Schüler sollten über Geräte verfügen, auf denen man richtig arbeiten kann -Geräte mit Touchscreen sind dafür nur bedingt brauchbar. Ein Minimum-Standard für alle wäre wichtig, damit sich keine Zwei-Klassen-Gesellschaft bildet." Aber auch der Microsoft-Mann meint: Selbst das beste Homeschooling kann den Präsenzunterricht à la longue nicht ersetzen. "Die zwischenmenschliche Komponente ist unfassbar wichtig."

»Gefühlt sind wir mit dem Schleudersitz in die digitale Gegenwart katapultiert worden«

Nachholbedarf

Ein düsteres Gedankenspiel: Der Herbst zieht ins Land, Abend für Abend sitzen die Menschen sorgenvoll vor ihren Fernsehern und verfolgen das Ansteigen der Infektionszahlen -und eines Tages tritt der Bildungsminister vor die Kameras und verkündet den viel befürchteten zweiten Schul-Shutdown. Wie die Zeit bis dahin optimal nützen? Heidi Schrodt ist Bildungsexpertin und leitete lange Jahre ein Gymnasium in Wien. "Jetzt zeigt sich so richtig, dass wir etwa beim E-Learning große Defizite haben. Auf Lehrerseite gibt es sicher Nachholbedarf, und da geht es jetzt nicht nur um die Hardware, sondern um das Know-how. Das ist ein Riesending, das man bis zum Herbst sicher nicht lösen kann. Aber als Schuldirektorin würde ich mir jetzt überlegen: Wie schaut es bei uns am Standort aus? Welche Lehrperson braucht eine Nachschulung?" Kreative Lösungen seien auch bezüglich der räumlichen Situation gefragt. "Es würden ja bei einer zweiten Welle Sporthallen, Veranstaltungsräume usw. leerstehen. Die sollte man nützen, um hygienisch gut abgesicherte Lernmöglichkeiten zu schaffen."

Besonders prekär sei die Situation schwächerer Schüler, meint die Bildungsexpertin: "Man muss sich endlich mit der Frage auseinandersetzen, wie diese Kinder gezielt gefördert werden können." Letztlich, meint Schrodt, gehe es aber um alle Kinder und Jugendlichen: "Sie können gut kompensieren, wie wir auch aus der Traumaforschung wissen, aber das kommt später wieder zurück. Das heißt, man muss sehr kreativ sein. Und das geht."

Auch Teach for Austria sorgt sich besonders um benachteiligte Schülerinnen und Schüler. Eine Umfrage unter Fellows, die derzeit an österreichischen Schulen unterrichten, hat ergeben, dass mangelnde Erreichbarkeit und das Fehlen von Endgeräten zu den größten Problemen der letzten Wochen gehörten. Manche Social-Distance-Learning-Methoden sollten dennoch beibehalten werden, meint Lydia Wazir-Staubmann von Teach for Austria. Ein Grund: Kinder können dadurch ihr eigenes Lerntempo etablieren, einige würden sogar richtig aufblühen und seien motivierter als sonst.

Wohlbefinden

Die Lehrerin Ilsa Aichhorn wird sich, wenn die Schule am 18. Mai wieder öffnet, vor allem dem psychischen Wohlbefinden ihrer Schüler widmen, sagt sie. Und, Chance in der Krise: "Ich will sie im Bereich E- Learning weiter fit machen, auch wenn die Schulen nicht noch einmal schließen. Die Kinder lernen dadurch, selbstständiger zu arbeiten. Und sie entwickeln Medienkompetenz für ihren zukünftigen Beruf. Sie können wirklich davon profitieren."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (19/2020) erschienen