"Eigentlich gibt es keine Wahl"

Briten wählen bei vorgezogenem Urnengang neues Unterhaus

Premierministerin Theresa May möchte mit der vorgezogenen Unterhauswahl eine größere Mehrheit für ihre Tories und damit mehr Rückendeckung für die Verhandlungen mit Brüssel über einen EU-Austritt (Brexit) bekommen.

von Großbritannien - "Eigentlich gibt es keine Wahl" © Bild: Justin TALLIS / AFP

Fast ein Jahr nach dem EU-Referendum wählen die Briten am Donnerstag vorzeitig ein neues Unterhaus. Unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen haben die mehr als 40.000 Wahllokale in England, Schottland, Wales und Nordirland seit 8.00 Uhr MESZ geöffnet. Nach dem Terroranschlag auf der London Bridge mit mehreren Toten am Samstag befindet sich besonders die Hauptstadt unter erhöhter Polizeibeobachtung.

Theresa May vs. Jeremy Corbyn

Premierministerin Theresa May möchte mit der vorgezogenen Unterhauswahl eine größere Mehrheit für ihre Tories und damit mehr Rückendeckung für die Verhandlungen mit Brüssel über einen EU-Austritt (Brexit) bekommen. Die Konservative gab in der Früh in ihrem Wahlkreis in Maidenhead westlich von London ihre Stimme ab.

Der Labour-Chef Jeremy Corbyn wählte in seinem Londoner Wahlkreis Islington North. Der linksgerichtete Corbyn spricht vor allem junge Menschen an. Er will die Kluft zwischen Arm und Reich verringern, die Bahn verstaatlichen und das Gesundheitssystem sanieren. Kritiker betrachten ihn aber als führungsschwach.

Jess Stubenbord (26) aus London wählte in der Früh Labour. "Jeremy Corbyn überzeugt mich", sagte er der Deutschen Presse-Agentur (dpa). "Ich bin Techniker und möchte auf jeden Fall das Gesundheitssystem behalten. Das ist für mich momentan das Wichtigste."

»Eigentlich gibt es keine Wahl«

Simon Kitching (55) entschied sich dagegen für die Tories. "Eigentlich gibt es keine Wahl. Es gibt nur eine Möglichkeit, und das ist definitiv nicht Corbyn. Er kann das nicht", sagte Kitching der dpa. "Nur Theresa May ist momentan stark genug, dieses Land zu führen ... Und sie wird auch den Terror eindämmen können. Ich bin mir sicher, mit ihr wird es uns gut gehen - auch nach dem Brexit. Wir werden uns damit arrangieren."

May will Großbritannien aus der EU und auch aus dem Europäischen Binnenmarkt führen. Die Gespräche mit Brüssel beginnen am 19. Juni. Die 60-Jährige droht mit einem Scheitern der Verhandlungen: Kein Deal sei besser als ein schlechter. Der Ausgang der Wahl wird mitentscheiden, wie gütlich sich Großbritannien nach mehr als 40 Jahren von der Staatengemeinschaft trennt.

May kann einer Abschlussumfrage zufolge bei der Wahl am Donnerstag auf eine etwas größere Mehrheit ihrer Konservativen Partei hoffen. Der Ipsos-MORI-Befragung zufolge wollten 44 Prozent für die Tories stimmen, ein Prozentpunkt weniger als noch am Freitag. Labour gibt zugleich vier Punkte auf 36 Prozent ab, wie aus der Umfrage für den Londoner "Evening Standard" vom Wahltag hervorgeht. May kommt damit auf einen Vorsprung von acht Prozentpunkten zu ihrem Rivalen Corbyn.

Auch eine Reihe von Umfragen, die am Mittwoch veröffentlicht wurden, deuteten auf einen Ausbau der Mehrheit Mays hin. Von den sechs am Mittwoch veröffentlichten Erhebungen sagten die meisten voraus, dass die Tories auf deutlich mehr als die derzeitige Mehrheit von 17 Sitzen im Parlament setzen können. Käme es so, hätte May ihr Ziel erreicht: Sie wollte sich durch die im April überraschend ausgerufenen Neuwahlen für die Brexit-Verhandlungen mit der EU den Rücken stärken lassen und Kritikern aus den eigenen Reihen den Wind aus den Segeln nehmen. In den vergangenen Wochen hatten einige Umfragen aber Zweifel aufkommen lassen, ob das gelingt. Als May die Neuwahl ausrief, lagen die Konservativen zeitweise noch mehr als 20 Prozentpunkte vor Labour.

Für die Sitzverteilung im Unterhaus ist wegen des Mehrheitswahlrechts nicht nur das generelle Stimmenverhältnis entscheidend, sondern auch die regionale Verteilung der Stimmen. In jedem Wahlkreis gewinnt der dort an erster Stelle liegende Abgeordnete; die übrigen Stimmen verfallen und werden auch landesweit nicht berücksichtigt.

May verweigerte gemeinsame TV-Duelle

May verweigerte gemeinsame TV-Duelle mit Corbyn und wirkte bei Wahlkampfauftritten Beobachtern zufolge oft verkrampft. Nach drei Terroranschlägen in Großbritannien in drei Monaten warfen ihr Kritiker zudem vor, während ihrer Zeit als Innenministerin für den Abbau von mehr als 20.000 Stellen bei der Polizei mitverantwortlich gewesen zu sein. Auf starke Kritik der Opposition stießen ihre Äußerungen, im Kampf gegen den Terror notfalls Menschenrechte einzuschränken. Corbyn verspricht im Wahlprogramm 10.000 zusätzliche Polizisten.

Wann gibt es die Ergebnisse?

Der rechtspopulistischen Partei UKIP (UK Independence Party) droht der Kollaps bei der Wahl. Im britischen Unterhaus waren die EU-Gegner zuletzt nicht mehr vertreten. Im März war ihr einziger Abgeordneter aus der Partei ausgetreten. "Die Konservativen werden vermutlich viele UKIP-Wähler abziehen", sagte John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow.

Die Briten können bis 22.00 Uhr Ortszeit (23.00 Uhr MESZ) ihre Stimme abgeben. Eine auf Wählerbefragungen basierende Prognose folgt direkt nach Schließung der Wahllokale. Die Auszählung der Stimmbezirke dauert die ganze Nacht. Zwar dürfte sich in der Nacht ein belastbarer Trend abzeichnen, das Endergebnis der Wahl wird aber erst am Nachmittag vorliegen.

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