Gewissensfrage Auto

Jahrzehntelang war das Auto in unserer Gesellschaft selbstverständlich. Aber Klimawandel und Energiekrise werfen heikle Fragen auf. Wer braucht eigentlich wirklich ein Auto? Wer bestimmt, wer eines braucht? Und ist der Verzicht auf die Nutzung eines eigenen Pkw zumutbar?

von Autos © Bild: iStockphoto

Elisa lebt sehr umweltbewusst. Sie hat bereits Kastanien als Waschmittel ausprobiert und ernährt sich fleischlos. Aber auf ihr Auto will sie nicht verzichten. Elisa fährt damit zur Arbeit, von einem Wiener Stadtrand zum anderen. Das dauert, wenn auf der Tangente alles gut geht, 45 Minuten. Laut Pendlerrechner wäre es ihr zumutbar, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. 70 Minuten Fahrzeit "one way", drei Mal umsteigen. Zwei U-Bahn-und zwei Buslinien. Elisa fährt auch mit dem Auto zu ihren Eltern nach Niederösterreich. Oder schnell mal in den Supermarkt. Braucht Elisa ein Auto?

Verheißung aus Gummi und Stahl

Jahrzehntelang gehörte das Auto selbstverständlich dazu. Ein praktischer, bequemer Lebensbegleiter. Eine Verheißung aus Stahl und Gummi. Symbol für Freiheit und Erfolg. Aber in Zeiten von Klimawandel und Energiekrise stellen sich auf einmal unbequeme Fragen. Im Hintergrund ringen die Lobbys um die Zukunft der Mobilität, im Vordergrund viele Pkw-Nutzer mit ihrem Gewissen. Welche Strecken müssen wirklich mit dem Auto zurückgelegt werden? Sollte man manchmal darauf verzichten? Und was heißt das eigentlich, "ein Auto brauchen"? Ein Satz, der in entsprechenden Diskussionen oft fällt. Mit leicht drohendem Unterton. Die Leute brauchen eben ein Auto, so ist das, und wer würde sich mit ihnen anlegen wollen?

"Es gibt keine objektivierte Untersuchung dazu, wer auf das Auto angewiesen ist," sagt Bernhard Wiesinger, Leiter der ÖAMTC-Interessenvertretung. "Weil: Wer bestimmt, wer tatsächlich eines braucht?"

Was es gibt, sind Erhebungen zum Pendeln. Und die zeigen, dass mehr als die Hälfte aller aktiv Erwerbstätigen in Österreich -2,3 Millionen Menschen -pendelt, also außerhalb ihrer Wohngemeinde arbeitet. 72 Prozent davon fahren mit dem Auto zur Arbeit, hat eine im Vorjahr durchgeführte Befragung ergeben. Die Hauptmotivation: kurze Fahrzeiten, gefolgt von Kosten und Flexibilität.

Die Auszahlung der Pendlerpauschale erfolgt unabhängig von der Wahl des Verkehrsmittels, also auch, wenn die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zumutbar wäre. Wobei das mit der Zumutbarkeit so eine Sache ist. Bis zu zwei Stunden Fahrt in eine Richtung gelten laut Pendlerrechner als akzeptabel, egal wie kompliziert die Verbindung ist. Die vom ÖAMTC in Auftrag gegebene Pendlerstudie habe allerdings ergeben, dass "die subjektive Zumutbarkeit eine ganz andere ist als die gesetzlich vorgeschriebene", sagt Bernhard Wiesinger. Bis zu 20 Minuten zusätzlicher Zeitaufwand seien für viele Befragte akzeptabel, dann nimmt die Bereitschaft stark ab. Zeitaufwand ist überhaupt das Um und Auf für die Wahl des Verkehrsmittels am Arbeitsweg. "Natürlich kann ich in ein Gesetz reinschreiben, dass mehr umutbar ist. Aber selbst wenn man die Pendlerpauschale nur mehr an jene auszahlt, die Öffis nutzen, wird ein großer Teil der Menschen trotzdem mit dem Auto fahren. Deswegen hat die Politik bisher auch die Finger davon gelassen, glaube ich. Du verärgerst einige Hunderttausend Leute. Es geht um ihre Lebenszeit."

Sollte Elisa mit öffentlichen Verkehrsmitteln statt mit dem Auto zur Arbeit fahren? "Nach den Regeln ja," sagt ÖAMTC-Funktionär Wiesinger. "Subjektiv, nach den Ergebnissen unserer Befragung, wahrscheinlich nein."

Michael Schwendinger arbeitet für den Verkehrsclub Österreich, einen Verein, der sich für ökologisch verträgliche Verkehrslösungen einsetzt. Bei der Frage, wer ein Auto braucht, komme es auf den regionalen Kontext, die persönlichen Umstände und den Wegzweck an, meint er. "Aber ganz grundsätzlich ist das Problem, dass man da oft einen Entweder-oder-Vergleich aufmacht. Entweder Auto oder Öffis. Ich glaube, das ist nicht mehr zeitgemäß. Es gibt sehr viel Potenzial dazwischen. Park and Ride wäre der Klassiker. Oder andere Kombinationsmöglichkeiten, die es im urbanen Kontext gibt, Scooter, E-Scooter, Faltrad, Fahrrad, E-Rad, Inlineskates. Diese Möglichkeiten, öffentlichen Verkehr mit anderen Fortbewegungsmitteln zu kombinieren, haben sehr viel Potenzial."

Schwendinger meint, auch Elisa könnte es mit so einer Kombination versuchen. Mit dem E-Scooter zur U-Bahn-Station zum Beispiel. Oder einen Teil der Strecke mit dem Fahrrad zurücklegen. Für den Anfang vielleicht nur an einem Tag der Woche. Dann immer öfter. Positiver Nebeneffekt: Man tut zugleich auch etwas für seine Gesundheit. "Es geht immer um den ersten Schritt. Leute tendieren dazu, Veränderungen prinzipiell skeptisch zu sehen. Es gibt aber viele Berichte, die zeigen, dass man Veränderungen im Nachhinein viel positiver bewertet als vorher."

30 Prozent Freizeitzwecke

Katharina lebt im urbanen Raum und fährt daher mit öffentlich Verkehrsmitteln oder dem Rad zur Arbeit. Im Alltag bewegt sie ihr Auto wenig, aber wochenends möchte sie nicht darauf verzichten. Urlaub mit den Kindern zum Beispiel, einfach alles in den Kofferraum schmeißen und fertig. Oder die Fahrt ins Wochenendhäuschen, das ginge zur Not auch öffentlich, aber was für ein Aufwand. Und wie transportiert man ohne Auto Blumenerde, Grillkohle, Ikea-Möbel oder die Skiausrüstung? Oder bringt die Kinder zum Fußballtraining?

Arbeitswege und dienstliche Wege verursachen an Werktagen mehr als die Hälfte des Verkehrs. Aber das Auto ist auch tief mit unserem Freizeitverhalten verwoben. Zahlen des deutschen Bundesministeriums für Verkehr zeigen, dass immerhin 30 Prozent der Fahrten Freizeitzwecken dienen, etwas mehr als sieben Prozent Urlaubs-und knapp 18 Prozent Einkaufszwecken. Viele Aktivitäten, die wir gelernt haben, für normal zu halten, sind nur mit Auto möglich. Ist Unbequemlichkeit - oder Verzicht, ein Wort, das niemand gerne in den Mund nimmt - zumutbar?

Beim VCÖ verweist man auf die Vorteile, die eine Umstellung des eigenen Mobilitätsverhaltens haben kann. Das Wort Verzicht kommt Schwendinger nicht über die Lippen. Der Umstieg soll positiv geframt werden. Gewinn, nicht Verlust an Lebensqualität, lautet die Botschaft.

Bernhard Wiesinger vom ÖAMTC sagt: "Aus unserer Sicht ist es nicht zumutbar, auf das Auto zu verzichten, weil es nicht funktioniert. Wie wollen Sie Leute dazu motivieren? Die Moralkeule funktioniert höchstens bei ein paar Prozent der Menschen. Wir haben Umfragen, die belegen, dass das Klimathema allen sehr wichtig ist. Aber kaum jemand will dafür mehr als 50 Euro ausgeben. Es ist aber auch ein Freiheitsthema. Wer maßt sich an, zu sagen:'Du brauchst kein Auto'?"

Erweitertes Wohnzimmer

Österreichs Bundesregierung will bis zum Jahr 2040 Klimaneutralität erreichen. Rund 30 Prozent der heimischen Emissionen kommen aus dem Verkehrsbereich. Im Mobilitätsmasterplan 2030 ist daher festgelegt, dass der Anteil der "Verkehrsleistung im Umweltverbund" - also öffentliche Verkehrsmittel, Carsharing und nicht motorisierte Fortbewegungsmittel -bis 2040 von 30 auf 47 Prozent steigen soll. Umgekehrt soll der Anteil der Pkw-Fahrten im selben Ausmaß sinken.

Von selber dürfte dieser Wandel allerdings nicht geschehen. Eine Studie, die das Beratungsunternehmen Arthur D. Little im Februar 2021 veröffentlicht hat, kommt zu dem Schluss, dass fast die Hälfte der Befragten in aller Welt der Meinung ist, dass die Bedeutung des Autos während der Coronapandemie zugenommen hat. 34 Prozent glauben, dass seine Bedeutung auch in den nächsten zehn Jahren weiter wachsen wird; nur 17 Prozent gehen von einem Bedeutungsverlust aus.

Auch eine von Sora für die Stadt Wien durchgeführte Studie zum "Stellenwert von Pkw in der Wiener Wohnbevölkerung", die 2016 veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Liebe zum Auto ziemlich ungebrochen ist. Ein beobachteter Rückgang der Autonutzung vor allem bei jüngeren Wienerinnen und Wienern lasse "nicht den Schluss zu, dass der Wiener Trend weg vom Auto auf einen Wertewandel gegründet" sei, fassen die Autoren zusammen. Und: Das Auto gelte bei den unter 35-Jährigen sogar eher als Statussymbol als bei den älteren Befragten.

Wie sehr die Menschen ihre Autos lieben, weiß auch ÖAMTC-Interessenvertreter Bernhard Wiesinger aus Paneldiskussionen zu berichten. "Da spielen ganz tiefe Emotionen mit. Es kommen Motive auf wie: 'Ich will in der Früh mit niemandem reden. Ich will niemanden sehen. Mein Auto riecht nach mir.' Da geht es nicht darum, von A nach B zu fahren. Das Auto ist das erweiterte Wohnzimmer, der eigene Lebensbereich, in dem man sich geschützt fühlt." Und den man, erteilt Wiesinger auch Sharing-Modellen eine Absage, auch nicht mit anderen teilen wolle.

Homeoffice und Fahrgemeinschaft

Denise lebt seit 1992 ohne Auto. Damals zogen sie und ihr Mann nach dem Studium bewusst in eine Stadt, um nicht so abhängig zu sein. Sie hat ihr Leben so eingerichtet, dass sie kein Auto braucht. Zur Arbeit radelt sie, Urlaub ist Abenteuer mit dem Zug. Ganz selten, ein, zwei Mal im Jahr, borgen sie und ihr Mann sich ein Auto für größere Transporte aus. "Es gibt Dinge, die wir nicht machen können", sagt Denise, aber keinen Schmerz, dass kein Auto da ist.

Wie kann der Umstieg, den Denise geschafft hat, in ganz Österreich gelingen? "Am meisten können wir wahrscheinlich bewegen, wenn wir dort, wo es geht, auf Homeoffice setzen," sagt Bernhard Wiesinger vom ÖAMTC. "Wobei man die Zahlen in diesem Bereich nicht überschätzen darf. Wir schätzen die Jobs, wo das überhaupt möglich ist, auf lediglich 20 Prozent, auch wenn im Mobilitätsmasterplan 25 Prozent steht." Ein zweiter Ansatzpunkt: Fahrgemeinschaften. "Unserer Meinung nach wäre es ein Hebel, sie finanziell attraktiv zu machen. Das scheitert in Österreich aber an Gewerblichkeitsgrenzen. Sie dürfen derzeit nur fünf Cent pro Kilometer verlangen und müssen, wenn Sie es über eine App machen, offiziell abrechnen. Das ist einfach nicht attraktiv. Wir fordern eine Erhöhung auf 25 Cent pro Kilometer. Derzeit haben wir einen Besetzungsgrad von 1,1 bis 1,2 Personen pro Fahrzeug. Wenn Sie ihn auf 1,5 erhöhen, haben Sie alle Verkehrsprobleme des Landes gelöst."

Vernunftlösungen, die vielleicht zum Ziel führen. Aber was ist mit dem echten Paradigmenwechsel? Wo bleibt die neue Erzählung, die jene vom Auto als Freiheitsund Selbstverwirklichungsvehikel ablöst? Michael Schwendinger vom VCÖ glaubt, sie gefunden zu haben: "Für mich ist das neue Freiheitssymbol eine alle öffentlich zugänglichen Mobilitätsangebote umfassende Mobilitätskarte - wie es heute die E-Card für das Gesundheitssystem ist. In der Schweiz gibt es z. B. den Swisspass, auf den man neben dem Generalabonnement für öffentliche Verkehrsmittel auch z. B. die Liftkarte beim Skifahren spielen kann. Früher war der Autoschlüssel Symbol für Freiheit, zukünftig könnte es so ein Ticket sein."