Die große Enttäuschung:
Die Pandemie ist nicht vorbei

Immer mehr Menschen sind genervt und erschöpft: wie die Corona-Müdigkeit um sich greift und die Sicherheit aller gefährdet.

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Die Pandemie ist nicht vorbei © Bild: PHILIPPE LOPEZ / AFP

Kuchl bei Salzburg. Eine Kirche, ein Marktplatz, etwas mehr als 7.000 Einwohner. Eine Gemeinde wie viele andere. Und doch ein ganz besonderer Ort. Schauplatz eines Experiments, das vielen Beobachtern Angst macht: Stell dir vor, es ist Corona, und keiner geht hin. Es gebe, sagte Kuchls Bürgermeister Thomas Freylinger in einem Ö1-Interview, „einen Teil der Bevölkerung, der das Ganze überhaupt nicht mittragen will“. Salzburgs Sanitätsdirektorin Petra Juhasz klagte: „Es gibt beim Angeben möglicher Kontaktpersonen von Infizierten oft keine Kooperation mehr. Viele haben Symptome, lassen sich aber nicht testen, um nicht in Quarantäne zu müssen.“

Sodom und Gomorrha im Salzburger Tennengau? Eher ein abschreckendes Beispiel dafür, wie weit es kommen kann. Wie gespannt die Stimmung in Teilen der Bevölkerung mittlerweile ist. Wie gering das Vertrauen in die Politik und die etablierten Medien. Und ein Fall, der ganz grundlegende Fragen aufwirft: Wie will man eine Pandemie in den Griff bekommen, wenn die Kooperationsbereitschaft einiger Bürgerinnen und Bürger gegen null geht?

Die WHO warnt seit Wochen vor einem globalen Phänomens namens „Pandemic Fatigue“, Pandemie-Müdigkeit. Auf Österreichisch ausgedrückt: Die Leute freut’s nimmer. Viele mussten wirtschaftliche Einbußen hinnehmen, Hochzeiten und große Geburtstagsfeste absagen, sich hier und da einschränken. Aber ein Licht am Ende des Tunnels ist – entgegen der Ankündigungen des Kanzlers – noch immer nicht in Sicht. Im Gegenteil. Die Aussichten auf den Winter sind durchwachsen: Weihnachten? Im kleinsten Kreis. Skifahren? Mit Sicherheitsauflagen. Impfung? Irgendwann. Wahrscheinlich.

»"Ich bin es müde, immer dasselbe zu tun "«

Die Corona-Maßnahmen, sagt die Psychologin Brigitte Sindelar, bestehen vor allem aus massiven Verzichten und verlangen eine enorme Anpassungsleistung. "Man nimmt das auf sich, weil man sich erhofft, für diese Anstrengungen und Verzichte etwas zu bekommen: Sicherheit und Schutz vor einer Covid-19-Infektion. Und auch wenn niemand etwas versprochen hat, wann dieser Lohn für die Anstrengung kommt, hat jeder so seine persönliche Erwartung: vor dem Sommer, nach dem Sommer, bis Weihnachten, mit dem neuen Jahr ist es vorbei." Und nun, sagt Sindelar, kommt die große Enttäuschung: "Es ist nicht vorbei, im Gegenteil, gerade jetzt wird es wieder schlimmer. Es ist ein bisschen wie: Man glaubt, zum Ziel hat man einen Kilometer zu laufen, dann merkt man, es ist doch fünf Kilometer entfernt, und dann stellt sich heraus, man muss einen Marathon laufen, aber ob man dann am Ziel ist, ist auch nicht sicher." Man bekommt also nichts für seine Anstrengung und verliert irgendwann die Lust, weiterzustrampeln, analysiert Sindelar: "'Ich bin es müde, immer dasselbe zu tun, und es kommt dabei nichts raus - das ist das Gefühl, das entsteht."

Eine Gallup-Umfrage von Anfang Oktober zeigt beunruhigende Werte. Die Zustimmung zu den Regierungsmaßnahmen ist deutlich gesunken. Die Corona-Ampel finden die meisten Befragten verwirrend. Die Zuversicht ist gering. Und: Die Rolle der Medien wird sehr skeptisch gesehen. Ein Drittel informiert sich gar nicht mehr über die aktuellen Corona-Entwicklungen.

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Im Frühling, sagt der Medienpsychologe Peter Vitouch, berichteten die Medien - wahrheits-oder zumindest dem damaligen Wissensstand gemäß -sehr drastisch über die Corona-Situation. "Die Rezipienten haben die Berichterstattung als angsterregend angesehen, was letztlich auch den Erfolg des Lockdowns ausgemacht hat. Es ist ein Phänomen, das man immer wieder sehen kann. Durch den Erfolg des Lockdowns sagen die Leute, es war ja eh nicht so schlimm. Sie fühlen sich an der Nase herumgeführt." Dass die traditionellen Medien damals in enger Übereinstimmung mit der Regierungslinie berichteten, halte er für legitim, sagt Vitouch: "Im Nachhinein ist man immer gescheiter."

Aber spätestens jetzt müsse der Diskurs sich auch für Stimmen von außen öffnen, fundierte sachliche Kritik sollte aufgespürt und zugelassen werden, "ohne dass Leute, die einen anderen Standpunkt vertreten als der Mainstream, sofort als Abweichler und Spinner abgetan werden." Und: "Wir werden noch einige Zeit mit dieser Pandemie leben müssen, und es wird sich nicht ausgehen, dass die ersten vier Seiten der Zeitungen immer voll sind mit Berichten über Corona. Das tägliche Leben geht weiter. Der ständige Alarmzustand führt dazu, dass eine gewissen Anzahl von Menschen, die eher zum Vermeiden und Verdrängen neigen, sagt, ich kann das alles nicht mehr hören."

Surfen auf der Katastrophenwelle

Jeden Tag die Hiobsbotschaften. So und so viele Neuinfizierte in Wien, ein weiterer Hochzeitscluster in Niederösterreich, Lockdown in Irland. Auch die Bundesregierung surfte die längste Zeit erfolgreich auf der Katastrophenwelle: Mit kurzfristig einberufenen Pressekonferenzen und dramatischen Warnungen versuchte sie, die Bürger -die Wähler -bei der Stange zu halten. "Bald wird jeder jemanden kennen, der an Corona gestorben ist", warnte Kanzler Kurz im März, machte Ende August Hoffnung auf "Licht am Ende des Tunnels", um wenige Wochen später doch wieder darauf hinzuweisen, dass die Lage ernst sei.

Hätte er es anders - besser -machen können? Können die Verantwortlichen in der Bundesregierung und in den Ländern die jetzige Stimmung des Corona-Überdrusses überhaupt noch einfangen? Könnten sie, sagt Strategieberater Lothar Lockl, wenn sie einige Grundregeln der Krisenkommunikation beherzigen: "In der Krisenkommunikation geht es vor allem um drei Dinge: Die Maßnahmen müssen für die Bevölkerung sinnhaft, nachvollziehbar und klar sein", erklärt er. Und auch, wenn man fairerweise sagen müsse, dass es wenig Erfahrung mit Pandemien gibt, so habe die Regierung über den Sommer doch etwas Wesentliches versäumt: nämlich für wichtige Bereiche des Lebens wie Schule, Pflege oder Freizeit klare Regeln zu definieren, diese auch rechtzeitig zu erklären und vor allem transparent zu machen, warum es welche Regel gibt. "Leadership heißt, die Maßnahmen zu erklären. Das fehlt im Moment."

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Statt dessen ergehen sich derzeit alle Beteiligten in Schuldzuweisungen. Kanzler gegen Minister, Länder gegen Bund, Opposition gegen Regierung: "Der Föderalismus stößt an seine Grenzen, was Krisenfestigkeit betrifft", beschreibt Lockl das Hickhack auf allen Ebenen. Dabei wäre zurzeit vor allem ein Signal wichtig: "Die Leute müssen das Gefühl haben, der Staat funktioniert als Einheit. Alle ziehen am gleichen Strang. Gegenseitige Schuldzuweisungen interessieren die Menschen nicht. Sie wollen, dass das Problem gelöst wird."

Für die Kommunikation der nächsten Monate empfiehlt der Experte der Regierung also: "In der Tonalität ruhig und zurückhaltend. Sagen, was zu sagen ist, aber nicht inflationär auftreten. Gibt es zu viele Auftritte, können die Menschen irgendwann Wichtiges von Unwichtigem nicht mehr unterscheiden." Strategie und Plan müssten klar erkennbar sein, und wichtige Akteure, etwa der Bürgermeister in Kuchl, dürfen Maßnahmen nicht erst aus den Medien erfahren. "Die Unsicherheit nimmt ab, wenn man klar erklärt, welche Ziele es gibt und welche Maßnahmen warum dafür notwendig sind."

Kontraproduktiv sei hingegen, "nebulos Verschärfungen anzudeuten, aber nicht zu sagen, welche das sein könnten -und am Ende kommen dann womöglich gar keine." Ein positives Beispiel für gute Krisenkommunikation sei Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, meint Lockl: "Sie tritt selten auf, findet die richtigen Worte, man merkt, sie kennt sich aus. Und sie spricht auch an, was all die Maßnahmen natürlich auch sind: eine Zumutung für die Demokratie."

Soziale Nähe bei physischer Distanz

Die Psychologin Brigitte Sindelar rät, die Menschen viel mehr in die Entscheidungsfindungen einzubeziehen, natürlich "ohne ihnen die Entscheidungsverantwortung anzulasten, das wäre eine absolute Überforderung". Regelmäßige Umfragen und Berichte über die Ergebnisse würden den Menschen das Gefühl geben, gehört zu werden, meint sie. Ihre Anstrengung, ihre Leistung und ihr Bemühen müssten anerkannt werden. Und, sagt Sindelar, man müsste die sozialen Beziehungen besonders wichtig nehmen und alternative Lösungen anbieten -"es geht ja nicht um 'Social Distancing', sondern, ganz im Gegenteil, um soziale Nähe bei physischer Distanz."

Ideen, die weitgehend mit den Vorschlägen der WHO, wie die grassierende "Pandemic Fatigue" zu bekämpfen sei, einher gehen. Und in Österreich doch bemerkenswert wenig Anwendung finden. Der zunehmende Unmut der Bevölkerung, allerorts stattfindende Corona-Demos, die, neben allerlei kruden Ideen, auch mehr Verhältnismäßigkeit und Transparenz im Umgang mit der Pandemie fordern, sind eindeutige Indizien.

Bleibt mangels großer politischer Strategien der Versuch, sich selbst durch die nächsten Monate zu coachen. Besonders wichtig sei es, sagt Psychologin Sindelar, nicht zuzulassen, dass sich das Leben auf Corona reduziert oder Corona zum "Lebensmittelpunkt" werde: "Das Coronavirus ist mächtig, aber wir haben Einfluss auf seine Macht." Der Umgang mit Maske, Abstand und weiteren Hygienemaßnahmen lässt sich ritualisieren und wird damit zu einem ganz normalen Teil des Lebens. Und auch wenn größere Treffen jetzt nicht mehr erlaubt sind, Kontakte sind auch anders möglich. "Den sozialen Austausch pflegen, hegen und sogar intensivieren hilft immer, jetzt besonders -ich höre häufig von gerade jetzt wiederbelebten alten Freundschaften, die viel Freude bringen. Und die neuen Medien haben hier eine neue Wichtigkeit in der Unterstützung der seelischen Gesundheit durch soziale Beziehungen bekommen."

Den kompletten Beitrag lesen Sie in der aktuellen Ausgabe (43/2020)!