Kommt das Virus doch aus dem Labor?

Als Rossana Segreto an der Uni Innsbruck zeigte, dass Sars-CoV-2 aus dem Labor stammen könnte, hielten viele die Mikrobiologin für verrückt. Seither gewann ihre Arbeit jedoch an Gewicht und wird nun mit anderen vor allem in den USA ernsthaft debattiert: Was geschah, dass eine als Verschwörungstheorie diffamierte These salonfähig wurde?

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Mein erster Gedanke war: ,Das darf doch wohl nicht wahr sein.‘“ Wenn sich Rossana Segreto heute an Anfang März des Vorjahres erinnert, kann man jetzt noch an der Tonlage der sonst so freundlichen Frau hören, wie sehr sie sich damals geärgert haben muss.

»Wir verurteilen Verschwörungstheorien, die eine nicht natürliche Herkunft von Covid-19 annehmen«

Damals, das war der 7. März 2020. Die Covid-19-Pandemie nahm gerade Fahrt auf. Österreich stand neun Tage vor dem ersten Lockdown. Und an der Universität Innsbruck staunte die gebürtige Italienerin, was sie da auf der Website des weltweit angesehenen Wissenschaftsjournals „The Lancet“ las. 27 Kollegen von ihr, unter ihnen auch der vor allem in Mitteleuropa bekannte Virologe Christian Drosten von der Berliner Universitätsklinik Charité, verwahrten sich in einem gemeinsamen Statement gegen „Gerüchte und Fehlinformationen über den Ursprung“ des neuen Virus. Sie schrieben: „Gemeinsam verurteilen wir ausdrücklich Verschwörungstheorien, die eine nicht natürliche Herkunft von Covid-19 annehmen.“

Chinese virologist Shi Zhengli (L) is seen inside the P4 laboratory in Wuhan
© AFP or licensors Die chinesische Virologin Shi Zhengli (l.) fortschte in einem Labor in Wuhan an modifizierten Viren

Diese Äußerung widersprach allem, was Wissenschaft seit Beginn ihrer Karriere für Segreto ausmacht: dem offenen und vorbehaltlosen Austausch von Thesen und Fakten. Einer fairen, aber sachlich konfrontativen Debatte unterschiedlicher Meinungen und Erkenntnisse. Und auch der ganz persönlichen Haltung, dass nichts deshalb unmöglich ist, weil einem die Fantasie oder das Wissen dazu fehlen.

Jedenfalls: Der gelernten Mikrobiologin mit Spezialwissen über genetische Manipulation von Pilzen erschien das Statement merkwürdig genug, um der Sache selbst nachzugehen. War das Unerhörte zumindest theoretisch möglich? Könnte der Ursprung des Sars-CoV-2-Virus viel leicht doch im Institut für Virologie der chinesischen Millionenstadt Wuhan liegen? Jener Stadt, in der nach heutigem Stand das erste größere Auftreten von Covid-19-Fällen beobachtet wurde?

"Deine Arbeit riskiert unseren Ruf"

Neben ihrer Arbeit im Rahmen einer Postdoc-Stelle am Innsbrucker Institut für Mikrobiologie vertiefte sich die gebürtige Turinerin fortan in die Materie, vernetzte sich international und veröffentlichte Ende des Vorjahres gemeinsam mit ihrem russisch-kanadischen Co-Autor Yuri Deigin ihre Erkenntnisse. Inzwischen folgten zwei weitere Fachartikel. Das immer gleiche Fazit: Es sei nicht ausgeschlossen, dass das Virus, das dem Planeten eine Pandemie bescherte, künstlich, also im Labor entstand. Und dass bis heute ernsthafte Versuche zur Aufklärung fehlen.

Rossana Segreto
© Geir Mogen / NTNU Vitenskapsmuseet Rossana Segreto ist von den Ergebnissen ihrer Arbeit zum Virusursprung überzeugt

Segreto, Deigin und ihre informelle Expertengruppe steckten für ihren Mut viel Kritik ein. Wurden für verrückt, seltsam und auch - siehe oben - zu Unterstützern von Verschwörungstheoretikern erklärt. Auch in Innsbruck legten ihr einige Kollegen nach eigenen Angaben Prügel in den Weg, beschuldigten sie, mit ihrer Arbeit den guten Ruf des Instituts leichtfertig und unnötig aufs Spiel zu setzen. Nicht alle, erzählt sie heute, aber eben einige.

Aktive Unterstützung erhielt sie für ihre Arbeit jedoch gar keine. Dabei ist für sie gerade das Ungewöhnliche, das, was nicht alle sagen, das Spannende an der Wissenschaft. Solange die Arbeit daran nur sachlichen Kriterien entspricht. Vor ein paar Wochen hat Segreto Innsbruck in Richtung Norwegen verlassen. "Ich brauchte eine Pause von den vielen Nächten, die ich durchgearbeitet habe. Und wieder mehr Zeit für die Familie."

Netzwerk kritischer Geister

Ihre Arbeit hat sie zuletzt jedoch auch in Norwegen einiges an Zeit und Nerven gekostet. Mit anderen Forschern vernetzte sie sich zu einer Gruppe namens DRASTIC. Das Akronym steht für Decentralized Radical Autonomous Search Team Investigating Covid-19. Die Fachpublikationen von Segreto und weiteren Gruppenmitgliedern sind auf der gemeinsamen Website zentral gesammelt (drasticresearch.org), große Teile seiner Arbeit macht das Team bewusst auf Twitter transparent.

Die Wahl fiel übrigens deshalb auf den Microblogging-Dienst, weil dieser zur Zeit der Gründung der Gruppe den durchlässigsten Inhaltsfilter zu allen Covid-19-Themen hatte. Segretos Kollege, der spanische Industrieingenieur Francisco de Asís de Ribera, erzählte diese Geschichte jüngst der spanischen "El País":"Auf Facebook und dem Forendienst Reddit wurde jegliche Nachricht, die den Ursprung des Virus in Frage stellte, zensuriert. Auf Twitter passierte das zwar auch, aber in geringerem Ausmaß."

Die Macht der Faktenchecker

Von automatisierter Zensur und dem Attribut "umstritten" hat sich die Gruppe zumindest jenseits des Atlantiks, in den USA, inzwischen ein gutes Stück entfernt. Schmuddelecke? Das war einmal.

Seinerzeit, zu Beginn der Pandemie, war das anders. Damals nutzte Donald Trump die Laborthese offensiv für seine Außenpolitik gegen China, was das Misstrauen der Medien befeuerte. Mit dem Thema befasste Geheimdienstler aus Israel (Dany Shoham, Biowaffenexperte) und Großbritannien (Richard Dearlove, ehemaliger Leiter des MI6) erklärten zwar, warum sie und ihre (ehemaligen) Dienstgeber eine künstliche Entstehung für möglich hielten. Allerdings rückten anschließend Faktenchecker aus, um solche Äußerungen ins Zwielicht zu stellen. Darunter das Poynter-Institut in den USA, ZDF und Correctiv in Deutschland sowie -unter anderen -die "Kleine Zeitung" in Österreich. Gerne und häufig genutztes Argument: die Stellungnahme der Forscher um Christian Drosten in "The Lancet". Die Schlussfolgerungen der Faktenchecks waren genauso einfach wie bequem vom Schreibtisch aus zu erledigen: Wenn anerkannte Experten sagen, dass alles andere als ein natürlicher Ursprung eine Verschwörungstheorie sei, dann müsse es wohl so sein.

Corona-Köpfe
Experten mit Einfluss

Christian Drosten
© imago images/IPON

Christian Drosten. Der Deutsche zählt laut Fachmagazin "Science" zu den "weltweit führenden Experten im Hinblick auf Coronaviren". Der Leiter der Virologie der Berliner Charité wurde durch seine Medienpräsenz zur öffentlichen Autorität. Zu Beginn der Pandemie unterzeichnete er eine Stellungnahme von Forschern, die die künstliche Schaffung von Sars-CoV-2 als Verschwörungstheorie verurteilte.


Peter Daszak
© Eco Health Alliance

Peter Daszak. Der Zoologe ist Experte für Infektionsepidemiologie. 2020 fragte er Christian Drosten, ob er eine kritische Stellungnahme zu Thesen, Corona sei im Labor entstanden, mit unterzeichne. Das Papier wurde mit dem Hinweis veröffentlicht, dass keine Interessenkonflikte bestünden. Später stellte sich heraus: Daszak pflegte enge Beziehungen zum Virologielabor in Wuhan.

Interessenkonflikt verschwiegen

Doch dann wendete sich das Blatt. Nachdem Trump-Nachfolger Joe Biden die US-Geheimdienste damit beauftragt hatte, der Frage nach dem Ursprung des Virus intensiver nachzugehen, war plötzlich auch in Blättern wie "New York Times", "Washington Post" oder dem Fachmagazin "Science" eine viel unvoreingenommenere Debatte über die Entstehung möglich. Und auch Christian Drosten veränderte seinen einst strikt ablehnenden Standpunkt seither deutlich. In seinem vom NDR produzierten Podcast "Coronavirus-Update" sagte er kürzlich, dass die Laborentstehung wie eine natürliche Mutation nicht auszuschließen sei. Er selbst hält dies allerdings nach wie vor für sehr unwahrscheinlich. Mit dem Argument, dass der Weg dorthin ein besonders umständlicher gewesen sein muss. Wenn schon, dann hätte er das jedenfalls anders gemacht.

»Die Chance, dass Sars-CoV-2 aus dem Labor stammt, ist meiner Meinung nach 99 zu eins«

Dabei geht es Segreto und der DRASTIC- Gruppe gar nicht darum, letztendlich recht zu haben. "Das unterscheidet uns von jenen, die sich fast schon wünschen, das Virus sei künstlichen Ursprungs." News erzählt sie im Interview, dass ihr vor allem das kategorische Ausschließen der Möglichkeit der Laborentstehung merkwürdig erschien. Und sie deshalb mit ihrer wissenschaftlichen Detektivarbeit begann. Aber natürlich, sagt sie, leiste sie sich auch eine persönliche Meinung. Die da wäre? "Anfangs bezifferte ich die Chance, dass Sars-CoV-2 aus dem Labor stammt, mit 50 zu 50. Heute bin ich bei 99 zu eins angelangt."

Doch wie kommt Segreto überhaupt darauf? Stark vereinfacht gesagt, haben sie und die DRASTIC-Gruppe festgestellt, dass der Gencode von Sars-CoV-2 so aussehe, als ob es ein Mischwesen aus zwei schon länger bekannten Coronaviren sein könnte. Und dass jene Eigenschaft, die es so unangenehm macht, nämlich die Fähigkeit, sich an menschliche Zellen zu binden und diese zu übernehmen, sehr wahrscheinlich nicht auf natürliche Art und Weise entstanden sein könne. Dafür sprächen ihrer Einschätzung nach gleich mehrere Gründe, unter anderem der zu kurze Zeitraum, den der nächste natürliche Verwandte des Virus dafür hatte.

Dabei stieß Segreto anfangs nicht nur auf abfällige Äußerungen von Kollegen in Innsbruck und die Kritik von Faktencheckern. Immer wieder kam auch das Gegenargument, dass sie keine Virologin sei und deshalb von der Thematik nichts verstünde. Alles Stimmen, die erst im Lauf der Zeit leiser wurden.

Dass Zweifler wie die 48-Jährige in der Debatte zuletzt Oberwasser bekamen, hat ebenfalls mit der Geschichte eines involvierten Nichtvirologen zu tun. Sein Name: Peter Daszak. Der aus Großbritannien stammende und wissenschaftlich in New York stationierte Zoologe ist - wie Drosten -einer jener Experten, die im März 2020 alles andere als ihre Erzählung von der natürlichen Entstehung als Verschwörungstheorie abtaten. Und mehr noch: Laut internationalen Medienberichten soll Daszak sogar die treibende Kraft hinter dieser Stellungnahme gewesen sein.

Erst viel später wurde offenbar, dass Daszak damit in einem massiven Interessenkonflikt verhaftet war. Und das, obwohl er und seine Mitunterzeichner in ihrer "Lancet"-Stellungnahme wie üblich und ausdrücklich erklärten, dass ein solcher nicht vorliege. Tatsächlich aber hatte Daszak zuvor viele Jahre mit der führenden Coronavirus-Forscherin am Wuhaner Institut für Virologie, Shi Zhengli, zusammengearbeitet.

Dementi aus China

Die Frau, die in Medienberichten nach dem Hauptwirtstier dieser Viren häufig "bat woman"(also Fledermaus-Frau) genannt wird, führte im Hochsicherheitsbereich des Instituts auch sogenannte "Gain of function"-Forschung mit Coronaviren durch. Dabei versucht man, Krankheitserreger künstlich ansteckender und aggressiver zu machen und die dadurch gewonnenen Erkenntnisse dazu zu nutzen, sich besser auf eine mögliche natürliche Entstehung neuer Varianten vorzubereiten. Etwa mit Impfstoffen.

Die Vermutung der Anhänger der Labortheorie ist nun, dass ein ebensolches Virus ungewollt freigesetzt worden sein könnte. Shi Zhengli, die über einen tadellosen Ruf als Forscherin verfügt, wies dies jedoch mehrfach zurück. Zuletzt in einer Stellungnahme gegenüber der "New York Times". Seither ist sie abgetaucht.

Wuhan, China Landkarte
© Shutterstock.com/Picksell WO ALLES BEGANN. In Wuhan wurde 2019 erstmals das größere Auftreten von Covid-19 dokumentiert. Annahmen, das Virus könnte aus dem Labor der Stadt entkommen sein, wurden rasch als Verschwörungstheorien abgetan. Nun wendet sich das Blatt

Bedenken um Laborsicherheit

Und trotzdem: Neben den wissenschaftlichen Argumenten von Segreto, der DRASTIC-Gruppe und weiteren Forschern aus aller Welt tauchten Stück für Stück noch mehr Ungereimtheiten um das Labor in Wuhan auf, das auf dem Papier über die höchste Sicherheitsstufe 4 verfügt. So enthüllten Kollegen der "Washington Post", dass Mitarbeiter der US-Botschaft in China bereits 2018 in internen Depeschen die Regierung in Washington vor Shi Zhenglis und Daszaks Forschung in Wuhan warnten. Forschung, die durch US-Förderungen mitfinanziert wurde. Nach einem Besuch vor Ort äußerten sie Bedenken wegen der Sicherheit der Anlage. Sie wiesen sogar darauf hin, dass die Forschung an Coronaviren von Fledermäusen eine Pandemie auslösen könnte.

Corona Labor
© iStockphoto.com/E4C LABORUNFALL? Fast ausgeschlossen, sagt eine WHO-Delegation, an der labornahe Personen teilnahmen

Noch eine Merkwürdigkeit im Umfeld des Labors tat sich im Rahmen einer lange von China verzögerten Untersuchung des Virusursprungs durch die WHO auf. Die Mission, die im Winter 2021 stattfand, bestand aus zwei Expertengruppen mit je knapp einem Dutzend Mitgliedern. Einer chinesischen und einer internationalen. Hierfür boten die USA zunächst drei Teilnehmer an. Alle wurden abgelehnt. Die WHO entschied sich für jenen Mann, der zuvor mit Shi Zhengli gearbeitet hatte: Peter Daszak. Neben den Lebendtiermärkten sollte also jemand im Wuhaner Institut für Virologie auf Ursachenforschung gehen, der ebendort selbst tätig war.

Der Abschlussbericht der WHO-Mission mit Daszak fiel, obwohl man das Labor gar nicht uneingeschränkt überprüfen konnte, deutlich aus. Ein Unfall, hieß es im März 2021, sei äußerst unwahrscheinlich.

Ob Geheimdienste und Forschung jemals einen Beweis dafür finden, wie Sars-CoV-2 tatsächlich entstand? Bisher stützen sich die Anhänger beider Theorien auf Indizien und deren anschließende Interpretation. Labor-Interna fehlen genauso wie jener Zwischenwirt, den es bei einer natürlichen Übertragungskette von Fledermäusen zum Menschen ebenfalls gegeben haben müsste.

Für Rossana Segreto spielt es am Ende gar keine Rolle, wer dabei richtig liegt. "Wir sollten nur klug genug sein, allen Möglichkeiten nachzugehen. So steigern wir die Chance, dass wir so etwas wie die aktuelle Pandemie in Zukunft besser verstehen und vielleicht ein weiteres Mal verhindern können. Das", sagt sie, "sind wir unseren Kindern schuldig."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der aktuellen Printausgabe von News (27/2021) erschienen.