Sollen Geimpfte ihre Freiheiten zurückbekommen?

Ethikprofessor Ulrich Körtner im Interview

Ist schon "impfneidisch", wer Details der Impfstrategie kritisiert? Sollen Geimpfte ihre Freiheiten zurückbekommen, auch wenn noch nicht alle dran waren? Was passiert, wenn die Politik falsche Hoffnungen weckt? Der Ethikprofessor Ulrich Körtner im Interview.

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Pandemie - Sollen Geimpfte ihre Freiheiten zurückbekommen?

Herr Professor, wie gefällt Ihnen der neue Modebegriff "Impfneid"?
Nicht so gut, weil wir ja in Österreich traditionell eine Neidgesellschaft sind und damit eher so eine Charakterschwäche gemeint wird: Wenn ich etwas schon nicht kriege, soll es der andere auch nicht bekommen. Und darum geht es ja jetzt im Grunde nicht. Sondern es geht darum, dass die Leute verständlicherweise rasch geimpft werden möchten. Das eigentliche Problem ist, dass der Wunsch größer ist als die vorhandenen Mittel. Deswegen finde ich, das Problem wird nicht richtig dargestellt, wenn wir von Neid und Neidgesellschaft sprechen.

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Ulrich Körtner, Ethikprofessor
© beigestellt Ulrich Körtner ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht

Ulrich Körtner Der Theologe und Medizinethiker ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin und Universitätsprofessor am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er ist vielfach ausgezeichnet (u. a. Wissenschaftler des Jahres 2001, Wilhelm-Hartel-Preis 2016) und forscht in den Bereichen Medizinethik, Pflegeethik und Bioethik.

Wenn man sich nach einer Impfung sehnt oder sich fragt, ob in Österreich bei den Priorisierungen alles richtig läuft, muss man sich also nicht schämen?
Nein, überhaupt nicht. Solange es nicht darauf hinausläuft, dass man einem anderen etwas wegnimmt oder missgönnt. Also keine Nachsicht mit Leuten, die sich mit illegalen Methoden vordrängeln wollen. Es stellen sich Fragen nach der Gerechtigkeit, und das ist das eigentliche Thema. Ist die Art und Weise, wie die Impfkampagne durchgezogen wird, effizient? Ist sie transparent? Und empfinden die Leute die Vorgehensweise als gerecht? Es gibt zum Beispiel Medizinethiker, die am Anfang gesagt haben, die Älteren haben schon einen größeren Teil ihres Lebens hinter sich und man müsste viel mehr auf die Jüngeren schauen. Ich gehöre zu denen, die sagen, es war richtig, erst einmal die Alten und besonders Gefährdeten zu schützen. Solange die Kriterien gerecht, transparent und nachvollziehbar sind, kommt so etwas wie Impfneid nicht auf. Wenn das grundsätzlich intransparent ist, dann entsteht verständlicherweise Ärger. Aber das Gefühl, dass etwas ungerecht ist, ist noch nicht Neid.

Wird dieser Begriff auch verwendet, um eine sachliche Debatte zu verhindern?
Mit dem Wort Impfneid kriegt die Debatte, die tatsächlich geführt werden muss, gleich so einen merkwürdigen Beigeschmack. Weil das Wort von vornherein eine negative Wertung enthält. Damit verschleiert man aber den Kern der Debatte, und das war erstens mangelnde Logistik, die zu nicht akzeptablen Verzögerungen geführt hat, und zweitens die Intransparenz. Warum in welchem Bundesland nach welchen Kriterien so oder so verfahren wird, am Ende kennt sich da keiner mehr richtig aus.

»Es ist kein Privileg, Geimpften ihre Rechte zurückzugeben, sondern es ist die Verpflichtung des Staates«

Man könnte schon neidisch werden, wenn im Sommer vielleicht nur über 65-Jährige auf Urlaub fahren können, weil sie bereits geimpft sind und daher mehr Freiheiten genießen als der Rest der Bevölkerung. Soll das so sein, soll es mehr Freiheiten für Geimpfte geben?
Zunächst möchte ich noch einmal betonen, es geht ja um die Wiederherstellung von Grundrechten, die wir alle verfassungsgemäß garantiert haben. Derzeit, und das finde ich richtig, sind unsere Grundrechte eingeschränkt, und diese Beschränkungen sind im Grundsatz durchaus verfassungskonform. Wir haben diese Beschränkungen, weil es darum geht, dass die individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen abgewogen werden müssen gegen die individuellen Freiheitsrechte der anderen und die übergeordneten Interessen der Gesamtbevölkerung. Wenn dann aber Voraussetzungen gegeben sind, dass ich durch Verzicht auf meine Freiheiten nicht mehr andere schützen kann, dann ist es nicht etwa ein Privileg, Geimpften ihre Rechte zurückzugeben, sondern dann ist es die Verpflichtung des Staates, sie in vollem Ausmaß wiederherzustellen. Sie haben vorhin gesagt, die über 65-Jährigen können dann wieder verreisen. Ich glaube, das können wir im Moment noch nicht sagen. Die Impfung allein ist noch keine Garantie, dass jemand tatsächlich immun ist. Und zweitens - und das ist noch entscheidender - garantiert die Impfung, dass ich auch andere nicht anstecken kann? Das scheint mir im Moment noch nicht ausreichend gesichert.

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Angenommen, man kann nach der Impfung tatsächlich niemanden mehr anstecken, wäre es dann in Ordnung, einem Teil der Bevölkerung, der bereits die Chance hatte, geimpft zu werden, mehr Freiheiten zu geben als dem Rest?
Das klingt für manche anstößig, weil sie sagen, die Nichtgeimpften können ja nichts dafür, aber ich bin der Meinung, dass es in dem Fall - wenn also gesichert ist, dass jemand nicht mehr anstecken kann -keinen Rechtsgrund gibt, den Leuten ihre Freiheit vorzuenthalten. Ich sehe vielmehr die Verpflichtung des Staates, den Leuten flächendeckend und weit schneller, als es derzeit passiert, ein Impfangebot zu machen. Zu fordern, dass jemand seine Rechte nicht wiederbekommt, halte ich dagegen verfassungsrechtlich, aber auch ethisch für falsch. Wenn wir zum Beispiel von den Hochbetagten sprechen: Bei diesen Menschen geht es nicht darum, dass sie noch eine Kreuzfahrt zu den Malediven machen wollen, sondern sie möchte einfach ein Stück Lebensqualität in der Pflegeeinrichtung wiederhaben. Warum soll ihnen der ohnehin beschränkte Rest ihres Lebens weiterhin versauert werden? Das ist nicht einzusehen.

Wie realistisch ist die Vorstellung von einem "Grünen Pass"?
Freizügigkeit in Europa wird es nur geben, wenn es gemeinsame Vorgangsweisen gibt und klar ist, bei welchem Impfstoff der Nachweis gegeben ist, dass eine damit geimpfte Personengruppe sich wieder frei bewegen darf. Wenn jetzt zum Beispiel Überlegungen herrschen, Sputnik V einzukaufen und mit einer nationalen Notfallzulassung zu verimpfen, aber die anderen Länder in Europa nicht mitmachen, dann habe ich nichts davon, mit Sputnik geimpft zu sein. Und dann gibt es natürlich Folgefragen: Wie kann ein fälschungssicherer Impfpass aussehen? Müssen Genesene auch ihre Freiheiten wiedererlangen? Weiß ich, ob jemand, der Covid hatte, wirklich nicht mehr andere anstecken kann? Wie lange hält die Impfung vor? - Das ist ein Experiment mit offenem Ausgang, das wird man vielleicht nach einem Jahr feststellen. Wird man es hinkriegen, ausreichend viele Menschen zu impfen, um diese sogenannte Herdenimmunität zu erreichen, bevor sich die nächsten Mutanten ausbreiten? Es könnte also sein, dass ich durch so einen Impfpass ein paar Monate Freizügigkeit habe, und dann entsteht eine Situation, in der man diese Freiheit vielleicht wieder einschränken muss.

Das klingt alles nicht sehr vertrauenerweckend.
Noch einmal weitergesponnen: Es wird uns versichert, dass man die derzeit auf dem Markt befindlichen Impfstoffe an Mutanten anpassen kann. Mit Sicherheit wird es so sein, dass man Auffrischimpfungen braucht. Ich könnte mir vorstellen, dass schon im Herbst davon die Rede sein wird, dass die Alten, die sowieso ein schlechteres Immunsystem haben, nachgeimpft werden müssen.

»Ich glaube, wir werden zu alter Normalität so oder so nicht zurückkehren«

Sie sind skeptisch, dass die Freizügigkeit sich so rasch wiederherstellen lässt?
Ich habe ja gesagt, ich bin grundsätzlich sehr dafür, aber da sind so viele Wenn und Aber, dass ich persönlich nicht an die Vorstellung glaube, mit der Impfung käme "Licht am Ende des Tunnels". Ich glaube, wir werden zu alter Normalität so oder so nicht zurückkehren. Um es etwas dramatisch auszudrücken: Es gibt Fachleute, die sagen, wir haben es hier nicht mit einer einmaligen Pandemie zu tun, sondern wir sind am Beginn eines pandemischen Zeitalters. Ich kann nur hoffen, dass die Politik nicht immer wieder in diesen Fehler verfällt, falsche Hoffnungen zu machen und in Aktionismus zu verfallen. Denn mit jeder enttäuschten Hoffnung sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung oder in die Politik allgemein weiter, und je mehr das Vertrauen sinkt, desto geringer die Bereitschaft, sich noch irgendetwas anzuhören, geschweige denn noch mitzumachen. Und umso weiter werden wir uns dann von alten Freiheiten entfernen.

Es sind seit Beginn der Pandemie sehr viele schwerwiegende Entscheidungen getroffen worden. Man hat z. B. schwere wirtschaftliche Schäden in Kauf genommen; die Folgen etwa in den Bereichen Bildung oder psychische Gesundheit sind noch gar nicht richtig absehbar. Waren die Abwägungen richtig?
In der Anfangszeit war es unbedingt richtig, alles zu tun, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Man hat ja im Frühling 2020 wirklich geglaubt, im Sommer ist das dann überstanden. Es kam zu einem Paradox der Prävention: Weil wir uns so brav an die Regeln gehalten haben, ist es nicht zur Triage gekommen, und es ist bei manchen das Gefühl entstanden, es war eh nichts. Das stimmt nicht. Wir hatten damals riesiges Glück. Für dieses Ziel, das Gesundheitssystem funktionsfähig zu halten, war es richtig, wirtschaftliche Schäden in Kauf zu nehmen.

Und heute?
Jetzt sind wir an einem Punkt, wo man fragen muss: Ist es in dieser Form, wie das jetzt gemacht wird, noch immer zielführend? Es scheint mir ein Problem zu sein, dass wir keine wirkliche koordinierte Strategie haben. Und daran leiden wir. Das heißt, wir haben immer so ein bisschen Lockdown, aber ein bisschen wieder nicht. Ich sehe die große Gefahr, dass uns das auf Dauer großen wirtschaftlichen Schaden zufügt. Warum? Ein funktionierendes Gesundheitssystem zu schützen, war unbedingt richtig, aber auf Dauer können wir uns ein solches Gesundheitssystem nur leisten, wenn wir eine entsprechend starke Wirtschaft haben, aus deren Wirtschaftskraft heraus diese Spitzenmedizin auch bezahlt werden kann. Und zweitens: Auf die Dauer, und da muss man auch mehr auf die Kinder und Jugendlichen schauen, hat natürlich diese ganze Pandemie enorme Auswirkungen psychischer und ökonomischer Art. Von daher würde ich sagen, halbherzige Strategien, wo Politiker versuchen, sich durchzulavieren, verlängern das Elend nur. Durch diese Halbherzigkeit sind die Gesamtmoral und das Vertrauen der Bevölkerung inzwischen so am Boden, dass es gar nicht möglich scheint, sich noch einmal zusammenzureißen und vier Wochen harten Lockdown zu machen. Also setzt man alles auf die Impfungen, aber die sind auch nicht der Heilsweg. Wir werden zum Beispiel auch eine wirksame Therapie brauchen. Es wird nur mit einem Mix von Maßnahmen gehen.

Brauchen wir eine Impfpflicht?
Ich sag mal, das Thema ist für mich auf Dauer kein Tabu. Aber eine generelle Impfpflicht, hilft uns aus mehreren Gründen nicht. Erstens muss man sich anschauen, wie es sich mit der Wirksamkeit der Impfstoffe verhält, zweitens muss man natürlich sehr abwägen, ob man mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Solange es noch möglich ist, mit freiwilligen Maßnahmen Leute zur Impfung zu bringen, ist das allemal besser als mit Zwangsmaßnahmen, die dann unterlaufen werden oder gegen die jemand prozessiert. Außerdem: Wenn sich die Mutationen in der Dynamik verstärken sollten, dann könnte es sein, dass ich mit einer Impfpflicht ohnehin nicht viel erreiche, weil dauernd nachgeimpft werden muss. Genauso ist ein Szenario möglich, dass die Mutanten sich abschwächen und es wie bei der Grippe wird, und da haben wir auch keine Impfpflicht. Und dann muss man noch schauen, wenn wir über Reisen und Freiheiten sprechen, ist das ja eine indirekte Art der Impfpflicht.

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Wäre das nicht eine Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen? Was ist mit den Menschen, die sich nicht impfen lassen können?
Bei Leuten, die sich aus gesundheitlicher Sicht impfen lassen könnten, aber aus irgendwelchen Gründen nicht wollen - weil sie zum Beispiel Impfgegner sind -, finde ich es zumutbar, zu sagen, sie können eben nicht reisen. In bestimmte exotische Länder darf man ja auch nur mit bestimmten Impfungen. Darüber regt sich auch keiner auf. Etwas anderes ist, dass es etliche Menschen gibt, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können. Da wird man schauen müssen, wie hoch der Prozentsatz ist, und überlegen, ob man eventuell mit Tests arbeiten kann. Aber von all dem sind wir ja noch weit entfernt. Wie viel Prozent der Bevölkerung sind derzeit vollständig geimpft? Mitte April waren es nicht einmal zehn Prozent. Wir sind überhaupt nicht am Ende des Tunnels, auch in diesem Sommer nicht. Ich finde es unseriös, zu sagen, im Sommer ist es dann ganz bestimmt vorbei. Man sollte es bleiben lassen, uns immer wieder die Karotte vor die Nase zu halten. Es wäre viel interessanter, einmal zu sagen, gibt es vielleicht Licht im Tunnel?