Ukraine-Krieg: Kämpfen oder leben?

Die Kids der Ukraine feierten ab wie ihre Altersgenossen im Westen, trugen die gleichen Markenklamotten, hörten dieselbe Musik, und etwas anderes als Frieden kannten sie nicht. Doch über Nacht kam der Krieg, und aus der Zerstörung erwuchsen ganz neue Helden - bereit, zu kämpfen, zu töten und auch zu sterben. Maksym, 18, Liliia, 22, und Yaroslav, 28, sind am Stadtrand von Wien gestrandet. Und überfordert mit der Frage der neuen Generation Krieg: "Müssen wir mitmachen?"

von Ukraine-Krieg: Kämpfen oder leben? © Bild: (C)2022 Ricardo Herrgott/News

Wenn sich in heißen Sommernächten oben in der Altstadt die Luft staute, sind Liliia und Yarsolav aus ihrer kleinen Wohnung im Haus von Yaroslavs Großvater runter in Richtung Hafen. Irgendwo auf der Potemkin'schen Treppe, auf einer der 192 Stufen zum Meer, haben sie sich dann niedergelassen, Musik aus dem Smartphone gehört, geredet, gekühlte Bierdosen aus dem Rucksack gefischt, manchmal getanzt - oder ganz einfach nur hinausgeschaut in die gefühlte Unendlichkeit. Dorthin, woher inmitten der Hitze die erfrischende Prise kam. Dorthin, wo heute Putins Flottenverband stationiert ist. Und Odessa, die Heimatstadt von Liliia und Yaroslav, unter Beschuss nimmt.

"Es gibt Momente, in denen man es immer noch nicht glaubt, auch wenn man es mit eigenen Augen gesehen hat", sagt Liliia, die 22-jährige Grafikdesignerin. "Es ist so surreal wie in einem Film, und du begreifst manchmal noch immer nicht, dass das jetzt alles Wirklichkeit und auch deine eigene Wirklichkeit ist", sagt Yaroslav, 28, Marketingchef einer mittelgroßen Firma. Mit Liliia ist er schon zusammen, seit sie 17 war.

Und plötzlich ist das Blut echt

Zuckendes Licht, dumpfe Detonationen, beißender Rauch, erstickte Schreie. Plötzlich von unten aus den Straßen und Gassen, nicht wie sonst aus dem Fernseher. Ach, wäre es doch auch diesmal nur Filmblut! Und dann der Reflex: Am 24. Februar - dem Tag, an dem in Europa der Krieg begann - haben Liliia und Yaroslav noch im Morgengrauen den klapprigen Toyota Corolla von Liliias Vater bepackt, wie ferngesteuert reingestopft, was ihnen auf den ersten Blick wichtig erschien. Zwei Stunden nach den ersten Salven und Einschlägen behoben sie dann noch all ihr Geld, alles, was die geplünderten Bankomaten noch ausspuckten. Und starteten den alten Diesel. Einfach nur weg.

»Es gibt Momente, in denen man immer noch nicht glaubt, was man mit eigenen Augen gesehen hat«
© (C)2022 Ricardo Herrgott/News Liliia, 22

Wohin? "Einfach nur Richtung Westen", sagt Yaroslav. Eine der Brücken südwestlich der Stadt, die sie an diesem Morgen passierten, stand tags darauf bereits unter schwerem Artilleriebeschuss. Einfach nur weg vom Sterben direkt vor der Haustüre auf 1.500 Kilometern quer durch Moldawien, Rumänien und Ungarn bis nach Wien. Eine Odyssee in den Frieden. Eine Odyssee in den inneren Krieg: "Haben wir denn überhaupt das Recht, zu gehen?"

Knapp ein Monat ist nun vergangen, seit Liliaa und Yaroslav ihre unendliche Treppe hinter sich ließen. Vorerst für immer. Und es vergeht kein Tag, kaum eine Stunde, in der sie ihre Gedanken nicht immer wieder aufs Neue auf die eine, quälende Frage zurückwerfen: "Haben wir denn überhaupt das Recht, zu gehen, während Freunde, Bekannte und Verwandte bleiben und kämpfen - und sterben?"

Das Meer, ein Schotterteich

Der Wind ist viel zu kalt für die Jahreszeit, und Yaroslav zieht die Kapuze seines Sweaters tief in die Stirne. Nicht weil er cool sein will, sondern weil es ihn friert. Liliia sitzt direkt vor ihm, lehnt sich leicht zurück, schmiegt sich mit dem Rücken an ihn. Seine Arme umfassen sie, und seine Hände sind ineinander gefaltet als würden sie beten. Auf das nächtliche Meer wie damals im Sommer schauen die beiden schon lange nicht mehr hinaus. Denn das hier ist die Seestadt Aspern, eine Trabantensiedlung am östlichen Ende Wiens, und das Meer ist hier nur ein großer Schotterteich. "Soll ich zurück nach Odessa und Molotowcocktails auf russische Soldaten werfen?", fragt sich Yaroslav, und es ist düster, zu düster für den frühen Nachmittag. Wie er trotz Kriegsrechts im wehrfähigen Alter überhaupt die Grenzen passieren konnte, weiß er bis heute nicht. Was er sehr wohl weiß: Da sind andere, unzählige andere, die konnten das nicht.

Ein Flug wird zur Flucht

Maksym ist 18 Jahre alt, im vergangenen Frühjahr hat er an einem Wiener Gymnasium maturiert und im Herbst hier sein IT-Studium aufgenommen. Er stammt aus einer erfolgreichen Unternehmerfamilie, und für seine Eltern war von Anfang an klar, dass ihre drei Kinder irgendwann alle ins Ausland gehen sollten. "Diese diffuse Angst, dass wir in einem postsowjetischen Land keine Zukunft hätten, war bei ihnen immer schon da", sagt Maksym in makellosem Deutsch. Zuerst hatte er noch ein Internat in Deutschland besucht, dann hatten ihn die Eltern nach Wien umgeleitet, denn hier gab es damals entfernte Verwandte und zudem bessere Verkehrsverbindungen heim nach Kiew. In den Ferien und an verlängerten Wochenenden ist er fast immer nach Hause gekommen zu seinen Eltern und seinen beiden 13-jährigen Schwestern. Doch momentan ist Zuhause irgendwo und nirgendwo in Europa.

Zwei Wochen vor Putins Überfall auf die Ukraine flog die gesamte Familie mit allen Onkeln und Tanten nach Frankreich: eine ausgedehnte Rundreise, grundsätzlich zwar von langer Hand geplant, terminlich dann aber doch mit der Befürchtung verknüpft, dass Russland, dass Putin, dass "Putler", wie sie den Autokraten vom Roten Platz in Maksyms Familie schon seit Jahren nennen, seine ewige Drohung nun doch demnächst wahr werden lasse.

Diese unerträgliche Normalität

Also flogen sie allesamt und ahnten dabei irgendwie schon, dass sie flohen. Aus Frankreich ist Maksyms Familie dann weiter nach Danzig, Polen, wo sie bei Verwandten Unterschlupf fand. Und Maksym, der kehrte zurück nach Wien; und weil seine Mutter, die aus Odessa stammt, und die Mutter von Liliaa seit Schultagen befreundet sind und auch die beiden Kids einander von unbeschwerten Ferientagen am schwarzen Meer von klein auf kennen, war für Maksym sofort klar: Liliia und Yaroslav sollten bis auf Weiteres bei ihm bleiben und mit ihm auf seinen 15 Quadtratmetern plus Bad plus Kochnische im Studentenheim wohnen. "Es ist manchmal schon sehr eng, aber menschliche Nähe ist jetzt wirklich unser geringstes Problem", sagt Maksym. Und das größte? Was ist das größte Problem? Das ist, so verquer es für uns Außenstehende klingen mag, zugleich auch der Grund, weshalb sie alle drei hier sind: diese unerträgliche Normalität des Seins.

Die Schuld des Überlebens

Hier gehen die Menschen morgens unbewaffnet zur Arbeit, holen nachmittags ihre Kinder verköstigt und versorgt vom Hort, shoppen dann in wohlsortierten Supermärkten, kochen abends für ihre Familien oder gehen, wenn wieder Wochenende ist, unbeschwert aus. Und mittendrin in dieser unaufgeregten Routine sitzen Liliia, Yaroslav und Maksym am Schotterteich auf einer der aus Bootsplanken gezimmerten Bänke. Und denken sich, dass es womöglich Unrecht ist, dass sie genau das tun - während Putin ihre Heimat zerbombt. "Auch wenn das vielleicht übertrieben und unpassend erscheinen mag: Ich verstehe jetzt das Überlebensschuld-Syndrom, unter dem unzählige Juden litten, die Auschwitz überstanden", sagt Yaroslav.

»Soll ich zurück nach Odessa fahren, um Molotowcocktails auf die russischen Soldaten zu werfen?«
© (C)2022 Ricardo Herrgott/News Yaroslav, 28

Man muss sich das in etwa so vorstellen: Bisher war für die meisten urbanen Kids der Ukraine Odessa wie Kiew und Kiew trotz der Proteste am Maidan und der Unruhen auf der Krim fast wie Wien: Zunächst ging es um eine gediegene Ausbildung, es ging um Abfeiern mit den Homies und um Markenklamotten, und die ganz alltäglichen Kleinkriege fanden höchstens im Job und um die Karriere statt, nie auf dem Schlachtfeld. Heimat, das war ganz einfach dort, wo man mit seinen Lieben wohnte, und der Pazifismus, der nun über Nacht implodierte, war über all die Jahre hinweg ohne jede Alternative.

"Heroes" von Bowie, das war einer der Songs aus dem Smartphone, ein typischer Song dieser Sommernächte auf der langen, weiten Treppe von Odessa: dieser junge Mann und diese junge Frau aus dem Lied, die sich küssen, während Schüsse über sie hinwegpeitschen, und so für einen Tag Helden sind. In der Seestadt Aspern, auf den Bänken aus Bootsplanken, ist es heute zum Küssen zu kalt. Und daheim in Kiew, daheim in Odessa müssen die Helden jetzt wieder töten. Und am Feld der Ehre fallen.

Das neue Pathos des Sterbens

"Da ist plötzlich dieser eine gemeinsame Gedanke", sagt Maksym, "nämlich, dass wir unser Land nicht den Russen geben dürfen". Und mit "wir" meint er, was er vor zwei Monaten noch für völlig unmöglich gehalten hatte, irgendwie auch sich selbst.

Denn plötzlich wachsen da neue Vorbilder aus der Zerstörung, die von westlichen Medien zu Popstars gehypt werden. Ein Wolodymyr Selenskij lobt die Tausendschaften tapferer Ukrainerinnen und Ukrainer, die wie er selbst bereit sind, unter Lebensgefahr ihr Land zu verteidigen: "Widerstand muss hier nicht organisiert werden, Widerstand ist für Ukrainer eine Eigenschaft der Seele."

»Wir dürfen unser Land nicht den Russen geben - aber ich glaube, ich bin zu jung, um zu sterben«
© (C)2022 Ricardo Herrgott/News Maksym, 18

Auch die Klitschko-Brüder ballen wieder ihre vier Fäuste und versprechen, eher zu sterben, als dem Aggressor zu weichen. In den unzähligen ukrainischen Freiwilligenverbänden kriegt derzeit so ziemlich jeder eine Waffe in die Hand, der sie schon halten kann. Oder noch. Und Liliia, Yaroslav und Maksym, diese Kinder des Postheroismus, wissen nicht, wie und wo und ob sie sich da einordnen sollen.

Bleiben und kämpfen oder gehen? Wen mitnehmen und wen zurücklassen? Auf die neue Heldenrhetorik hören oder das nackte Leben retten? "All das führt natürlich zu schweren Gewissenskonflikten", sagt die Kinderpsychiaterin Katrin Skala. "Ich habe absolut kein Verständnis für junge Männer, die jetzt die Ukraine verlassen, anstatt mit der Waffe in der Hand für ihre Heimat zu kämpfen", sagt der ORF-Korrespondent, Kriegsreporter und Milizoffizier Christian Wehrschütz.

Und was sagt Liliia, die an der Seite ihres Freundes flüchtete, während ihr Vater, ein ehemaliger Soldat, jetzt wieder mit der Kalaschnikow auf Patrouille geht? Sie sagt, dass sie Yaroslav einmal heiraten will, dass sie einmal Kinder haben wollen - und dass sie einmal einen lebenden Ehemann haben will und keinen toten Helden.

Eine irre Entschuldigung

"Ich möchte von hier helfen, koordiniere Unterkünfte für Bekannte und Freunde", sagt Maksym. "Die Waffe in die Hand nehmen und jemanden töten, das könnte ich einfach nicht." Und: "Selbst getötet werden will ich auch nicht." Denn: "Wem würde denn mein Tod etwas bringen? Ich glaube, ich bin zu jung, um zu sterben." Und es ist durchaus beabsichtigt, dass da so was wie eine Entschuldigung mitschwingt. Ein Freund aus Kiew berichtet ihm täglich über WhatsApp, wer von den Kumpels noch lebt.

Maksym ist 18. Liliia ist 22. Jaroslav ist 28. Was ist das für eine Zeit, in der sich junge Menschen wie sie entschuldigen, weil sie ihr Leben noch vor sich haben?

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 12/2022 erschienen.