Rückkehr der nicht so großen Koalition

In Tirol steht eine Koalition aus ÖVP und SPÖ ante portas. Könnte das historisch bewährte Doppel in Zeiten der Krise auch im Bund für Stabilität sorgen? Experten bezweifeln das.

von Mattle und Dornauer © Bild: APA/EXPA/Groder

Acht Tage nach der Tiroler Landtagswahl war schließlich fix, was viele schon vermutet hatten: ÖVP und SPÖ gehen in Koalitionsverhandlungen, die am 25. Oktober abgeschlossen sein sollen. Nach neun Jahren Schwarz-Grün steht Tirol vor einer Neuauflage der großen Koalition. "Ich bin der festen Überzeugung", sagte Tirols SPÖ-Chef Georg Dornauer gegenüber Journalisten, "dass das Land Tirol angesichts der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, eine stabile Koalition braucht."

Und was sollte stabiler sein als Schwarz-Rot? Jahrzehntelang prägte die große Koalition das Land mit überwältigenden Mehrheiten jenseits der 80 Prozent. Das Doppel aus Volkspartei und Sozialdemokratie stand für Stabilität, Sicherheit und einvernehmliche Lösungen im Sinne der Sozialpartnerschaft.

Das klingt in Zeiten größter Krisen verführerisch. Könnte eine große Koalition aus SPÖ und ÖVP nicht nur auf Länder-sondern auch auf Bundesebene wieder Stabilität und Sicherheit in unsicheren Zeiten garantieren?

Möglich, meint der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos, ein profunder Kenner der österreichischen Verhältnisse und ausgewiesener Experte für Sozialpartnerschaft. "Es lässt sich zur Zeit nicht abschätzen, in welche Richtung das inhaltliche Programm einer neuerlichen ,Großen Koalition' gehen würde. Wenn sich darin in erster Linie Klientelpolitik abbildet, wäre das der falsche Weg. Es gibt derzeit in sozialer, wirtschaftlicher und budgetpolitischer Hinsicht enorme Herausforderungen, und da könnte es sein - es muss aber nicht unbedingt sein -, dass eine ,große Koalition' ein Vorteil wäre." Eines fällt an der Tiroler Entscheidung auf: Die ÖVP-Bünde und die von diesen dominierten Kammern machten sich für Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ und gegen eine Dreierkoalition mit Grünen und Neos stark. Eine mögliche Neuauflage von Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz im Bund, meint Tálos, würde wieder eine Aufwertung der Sozialpartnerschaft bringen. "Schwarz-Blau hatte die Sozialpartnerschaft ja abgewertet und Türkis-Blau die Sozialpartnerschaft vollkommen ausgeschaltet. Was allerdings keinen Nachteil für die mit der ÖVP eng vernetzten Unternehmerorganisationen bedeutet hat. Wie wir in letzter Zeit sehen können, werden unter Schwarz-Grün die großen Verbände in Entscheidungen ansatzweise wieder mehr eingebunden. In einer großen Koalition würde deren Einfluss noch stärker zum Tragen kommen."

Mehr Gleichgewicht in der Koalition

Vorteil einer neuerlichen Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ wäre auch, meint Tálos, "dass es die Schieflage hinsichtlich des politischen Einflusses, die wir in der derzeitigen schwarz-grünen Koalition feststellen können, in einer großen Koalition voraussichtlich nicht gäbe. Dass also ein Regierungspartner, gegenwärtig die ÖVP, sich inhaltlich deutlich mehr einbringt als der andere. Bei einer großen Koalition wäre das nicht der Fall. Beispiel dafür ist die Koalition 2007-2017. In dieser Koalition unter SPÖ und ÖVP wurden im Vergleich mit den schwarz-blauen Koalitionen mehr Reformprogramme beschlossen."

Große Reformen habe es früher tatsächlich gegeben, sagen Vertreter früherer Großer Koalitionen. Thomas Drozda hat diese Regierungsform als Mitarbeiter der Bundeskanzler Franz Vranitzky und Viktor Klima sowie als Kanzleramtsminister bei Christian Kern erlebt. Er sagt im Rückblick: "Unter Vranitzky resultierte die Stärke der Großen Koalition daraus, dass man wirklich etwas wollte. Es gab große Projekte in dieser Zeit: den EU-Beitritt, die Budgetsanierung, die Sanierung der Verstaatlichten Industrie, nach Israel zu fahren, um sich für die Verbrechen der Nazi-Zeit zu entschuldigen -dafür gab es eine gemeinsame Basis."

Die Formel "Große Probleme brauchen eine große Koalition" stimme allerdings nicht (mehr), meint Drozda. Eine Koalition funktioniere so gut, wie die Achse zwischen einzelnen Ministern stark ist. SPÖ-Finanzminister Ferdinand Lacina und der ÖVP-Politiker Johannes Ditz bildeten so ein Gespann, später die "Sozialpartner"-Minister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) und Reinhold Mitterlehner (ÖVP) oder Vranitzky und ÖVP-Vizekanzler Erhard Busek, die gemeinsam den EU-Beitritt Österreichs durchgeboxt haben. "Solange die Pragmatiker das Sagen haben und nicht die Ideologen, funktioniert es", sagt Drozda.

In der Zeit von Christian Kern waren in der ÖVP die Fliehkräfte um Sebastian Kurz und Wolfgang Sobotka längst stärker als gemeinsames Problembewusstsein. Damals funktionierte auch die Sozialpartnerachse zwischen Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer bzw. ÖGB nicht mehr, konstatiert Drozda: "Die haben die Probleme überwiegend nicht gelöst, sondern an die Regierung weitergespielt."

"Echter Kurswechsel"

Johannes Ditz, erst Finanzstaatssekretär, dann Wirtschaftsminister in Großen Koalitionen, erinnert ebenfalls an die "echten Kurswechsel" der Ära Vranitzky, "die andere Koalitionen nicht geschafft hätten, da waren auch unpopuläre Maßnahmen dabei." Die SPÖ unter Vranitzky habe damals auch einen einschneidenden Kurswechsel von der Staatswirtschaft hin zu einer Orientierung an einer sozialen Marktwirtschaft mitgetragen.

"Natürlich wäre das auch heute wünschenswert, aber die Parameter haben sich geändert", sagt Ditz und verweist auf Gesprächsbasis und Verhandlungsbereitschaft zwischen den beiden Parteien. Früher hätten er und Lacina nächtelang um eine gemeinsame Position zur Steuerreform gerungen -und seien dann gemeinsam dazu gestanden.

Entscheidend für eine Neuauflage einer Großen Koalition wäre ein gemeinsames "konstruktives Arbeitsprogramm", sagt Ditz, "und zumindest eine Partei, die gute Ideen hat." Aber: "Die SPÖ hat in der Opposition keine Wirtschaftsprogrammatik entwickelt. Und die ÖVP hat sich in ihren Regierungsjahren auch nicht um die Programmarbeit gekümmert. Bevor es um eine Regierung geht, müssten also Leute, die miteinander reden können, ein Programm machen." Österreich brauche als nächste Regierung eine "Allianz der Vernünftigen", sagt Ditz. "Eine Große Koalition, nur weil es sich rechnerisch ausgeht? Danke nein."

In Tirol kommen ÖVP und SPÖ gemeinsam auf 21 von 36 Mandaten im Landtag. Eine schwarz-grüne Koalition wie in den letzten Jahren geht sich schlicht nicht mehr aus. Zu groß waren die Verluste bei der letzten Landtagswahl, vor allem bei der ÖVP, die um fast zehn Prozentpunkte abstürzte. Auch im Bund könnte Schwarz-Rot -oder Rot-Schwarz, wonach es derzeit eher aussieht -die einzige mögliche Zweierkoalition sein. Es gibt sogar Umfragen, wonach SPÖ und ÖVP gemeinsam nicht mehr die 92 Sitze im Nationalrat erreichen, die sie für eine gemeinsame Koalition bräuchten.

Die an der Uni Graz tätige Politikwissenschaftlerin Katrin Praprotnik plädiert dafür, die Begriffl ichkeiten anzupassen. "Wenn wir jetzt darüber sprechen oder nachdenken, dann ist ,Große Koalition' eigentlich schon fast der falsche Begriff. Das Parteiensystem ist viel fragmentierter als früher. Wir haben jetzt fünf Parteien im Nationalrat, und es gibt eine gute Wahrscheinlichkeit, dass es nach der nächsten Wahl sechs Parteien sind."

In Wahrheit, meint Praprotnik, steuerte Österreich vom Wahlverhalten her auf Dreierkoalitionen zu. "Man traut sich aber nicht so ganz darüber, wie wir jetzt in Tirol sehen, und nimmt dann halt die einzig übrig bleibende Zweierkoalition, und das ist eben ÖVP und SPÖ. Aber das geschieht aus einer ganz anderen Räson heraus als in den Nachkriegsjahrzehnten, als man versucht hat, Stabilität im Sinne von ,Wir vereinen das gesamte Land' herzustellen. Ich glaube, das ist vorbei. Wenn wir jetzt wieder eine VP-SP-Koalition sehen, dann hat das eher damit zu tun, dass man sich lieber mit nur einem Partner an den Tisch setzt und nicht mit zwei, weil dann die Aufteilung von Ministerposten und die Einigung in inhaltlicher Hinsicht einfacher ist."